Redner(in): Johannes Rau
Datum: 15. Juni 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/06/20010615_Rede.html


In der Bildungspolitik ist es wie beim Wetter: Jedem Hoch folgt ein Tief, und manchmal hält solch ein Tief lange an. Dann gedeiht wenig. Die Sonne der politischen Aufmerksamkeit versteckt sich hinter den Wolken der Finanzzwänge, und über dem Land geht nur der stete Regen bildungspolitischer Grundsatzpapiere nieder.

Im Rückblick waren die sechziger Jahre für die Bildungspolitik ein Dauerhoch, trotz aller Konflikte. Der immergrünen Erkenntnis, dass für die Bildung etwas getan werden müsse, folgten endlich Taten. Das war in vielen Ländern so, nicht nur in Deutschland, und es war nicht nur ein Erfolg der Bildungspolitiker. Wirtschaftliche Gesichtspunkte spielten eine wichtige Rolle:

Am 19. Oktober 1963 hieß es im Deutschen Bundestag: "Ohne Verstärkung der geistigen Investitionen müsste Deutschland gegenüber anderen Kultur- und Industrieländern zurückfallen. Das aber hieße, dass wir nicht nur den wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand, sondern auch die soziale Sicherheit aufs Spiel setzten. Bund und Länder müssen zusammenwirken, um eine große gemeinsame Aufgabe mit Tatkraft anzupacken. Es muss dem deutschen Volke bewusst sein, dass die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert."

Diese Sätze klingen erstaunlich aktuell, und sie sind es auch. Sie stammen aus der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Ludwig Erhard.

Wir sollten nicht vergessen und nicht verdrängen, was in den sechziger Jahren erreicht worden ist. Das entscheidende Ergebnis, die wichtigste Leistung dieser Jahre, waren das Wachstum und die gesellschaftliche Öffnung des Bildungswesens. Die "Bildungskatastrophe", die Georg Picht und Andere beschworen hatten, ist nicht eingetreten:

Das ist das Ergebnis gewaltiger Anstrengungen. Gewiss hatte auch die Zeit des bildungspolitischen Aufbruchs ihre Rückschläge. Insgesamt aber ist doch ein Fundament entstanden, das trägt. Manches muss erneuert werden, aber wir stehen auf einem Grund, auf dem wir weiterbauen können - und müssen.

Das lange Tief, das auf die Anstrengungen der sechziger und siebzigerJahre folgte, hatte viel mit fehlendem Geld zu tun, aber nicht nur damit. Viele Streiter auf dem Feld der Bildungspolitik haben in den Zeiten knapper Mittel wohl auch die Phantasie verloren.

Seit einigen Jahren finden Schulen und Hochschulen wieder mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Ein Zeichen dafür ist die Konjunktur des Begriffs "Wissensgesellschaft", der andere Schlagworte wie Dienstleistungsgesellschaft, Informationsgesellschaft oder Risikogesellschaft immer mehr zu verdrängen scheint. Für dieses neue Interesse an der Bildung gibt es eine Reihe von Gründen:

II. Ich freue mich über das neu erwachte Interesse an Bildung. Aber ich frage mich doch manchmal, ob die öffentliche Diskussion über "Bildung" und "Wissen" breit genug angelegt ist und tief genug schürft.

Wissen kommt häufig nur als Instrument vor, als ein Werkzeug, das man braucht, um erfolgreich zu sein. Bildung erscheint oft als bloße Technik, diese Art von Wissen zu vermitteln, so effizient wie möglich und am besten mit Hilfe von Computern.

Selbstverständlich sind Wissen und Bildung auch unverzichtbare Werkzeuge. Diese Funktion von Wissen und Bildung war gewiss noch nie so wichtig wie heute. Dass Computer und Internet neue und spannende Formen der Vermittlung möglich machen, das stimmt auch.

All das ändert aber nichts daran, dass wir uns ein so beschränktes Verständnis von Wissen und Bildung nicht mehr leisten können, weil es nicht nur falsch, sondern auch wirklichkeitsfremd ist. Wer im Wissen nur das Werkzeug sieht und Bildung nur als das Vermitteln von Informationen begreift, der ist auf einem Auge blind. Wir wissen doch alle, dass wir unser Wissen nur dann sinnvoll nutzen können, wenn wir auch Orientierung und Urteilsfähigkeit besitzen. Die brauchen wir, damit wir entscheiden können, welches der Werkzeuge aus dem Baukasten des Wissens wir wie einsetzen können und müssen.

Man schätzt, dass eine normale Ausgabe der "New York Times" heute an einem beliebigen Wochentag mehr Informationen enthält, als ein Engländer im 17. Jahrhundert in seinem ganzen Leben mitbekam. Das führt uns vor Augen, wie sehr die Bedeutung von Orientierungs- und Urteilswissen wächst. Viele sehen sich schon heute vom Informationsinfarkt bedroht. Manche beklagen, dass Datenmüll und Info-Smog immer stärker zunehmen.

Der tägliche Zwang wird nicht geringer werden, aus Daten Informationen zu machen, aus Informationen Wissen zu gewinnen und mithilfe von Wissen zumindest gelegentlich vernünftig zu handeln. Dafür brauchen wir solides Orientierungswissen. Sonst gehen wir in einer Flut von Informationen unter.

Man liest überall, dass die "Halbwertzeit" unseres Wissens ständig abnimmt. Das ist ziemlich übertrieben. Das Gegenteil ist auch richtig. Nicht nur in der Physik und in den Sprachen gibt es viel Grundwissen, das morgen so wichtig sein wird wie vor 100 Jahren. Andererseits gilt natürlich: Auf manchen Feldern veraltet das Wissen wirklich viel rascher als früher. Weil das so ist, kommt es entscheidend darauf an, dass nicht nur wenige, sondern dass möglichst alle die Fähigkeit besitzen, mit dem ständigen Wandel des Wissens umzugehen.

Wer den Wandel gestalten will, muss offen sein für Neues. In Zeiten des Wandels gewinnt aber auch die Erfahrung neuen Wert. Bisher bezeichnen wir die Frau und den Mann als erfahren, die sich in ihrem Beruf über viele Jahre besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben. Künftig wird der als erfahren gelten, der im Laufe der Jahre das Geschick, die Kenntnisse und die Fähigkeiten erworben hat, immer wieder ganz neuen Aufgaben und Situationen gerecht zu werden.

Wer Wissen hauptsächlich als Werkzeug und wer Bildung vor allem als Vermittlung von Informationen kennen gelernt hat, der wird diese Art von Erfahrung nur sehr begrenzt gewinnen können. Auch diese Erfahrung muss man selber machen, sie lässt sich nicht vermitteln.

III. Das einseitige Verständnis von Wissen als Werkzeug und von Bildung als Vermittlung von Informationen hat praktische Folgen.

Felder von Bildung und Wissenschaft haben es heute schwer, deren Bedeutung sich nicht aus Steuerschätzungen, aus Bilanzen oder Gehaltsbescheinigungen ablesen lässt. Sie gelten schnell als verzichtbar, als Ballast aus vergangenen Zeiten, in denen man noch nicht wusste, dass Wissen vor allem ein wichtiger ökonomischer Faktor ist und in denen man sich noch den Luxus praxisferner Bildung leistete. Auch den Fächern, die die Sinne ansprechen, geht es nicht gut: Wie wichtig die musische Erziehung oder der Sportunterricht sind, darüber wird mehr geredet, als dafür an den meisten Schulen getan wird.

Umfassendes, geordnetes Wissen und die Schulung des Verstands sind nur die eine Seite von Bildung. Bildung formt immer auch den Charakter. Bewusst oder unbewusst. Wo das bewusst geschieht, da sprechen wir von Erziehung. Was nützt es, wenn junge Menschen sich auf allen Meeren des Wissens auskennen, aber keinen inneren Kompass haben? Der innere Kompass hat viel mit Erziehung zu tun. Erziehung beginnt in der Familie, aber dort hört sie nicht auf. Auch die Schule und die Hochschule sind Orte, an denen junge Menschen geprägt werden. Wir brauchen Mut zu einer Erziehung, die Eigenverantwortung und solidarisches Handeln fördert, Selbstbewusstsein und Verantwortung auch für andere.

Ohne Persönlichkeit und ohne Charakter kann auch das Orientierungs-Wissen nicht entstehen, das wir so dringend brauchen. Dazu können ein Naturgedicht von Eduard Mörike oder ein Betriebspraktikum genauso helfen wie das Mannschaftsspiel beim Handball oder die Partnerschaft einer Schule mit einem Altenheim.

IV. Beschleunigung, Mobilität, Flexibilität - diese Begriffe kennzeichnen wesentliche Entwicklungen unserer Gesellschaft:

Viele Menschen verbinden mit diesen Entwicklungen Hoffnungen. Andere sehen sie mit Sorge. Manche empfinden sie als Bedrohung. Wieder andere versuchen, sie in den Rang höherer Wahrheiten zu erheben, deren Geltungsanspruch wir uns gefälligst zu unterwerfen haben.

Wie so oft kommt es darauf an, den Extremen zu widerstehen und die goldene Mitte zu suchen, die das Gegenteil von lauem Mittelmaß ist. Einen individuellen und unverwechselbaren Lebenslauf zu haben - das war in der Vergangenheit ein Anspruch, den nur wenige Menschen erheben und noch weniger Menschen verwirklichen konnten.

Die neuen Möglichkeiten, die sich durch Beschleunigung, Mobilität und Flexibilität ergeben, eröffnen neue Freiheitschancen; sie führen aber auch zu neuen Zwängen. Wer die Wahl hat, unterschiedliche Wege zu gehen, der muss sich entscheiden. Wer das nicht tut oder nicht kann, der kann daran zerbrechen. Das verhindern zu helfen, darin liegt eine entscheidende Aufgabe einer Bildung für den ganzen Menschen.

Damit die Menschen ihre Freiheitschancen nutzen und aus dem Zwang zur Entscheidung etwas machen können, damit sie sich am Arbeitsplatz und im Alltag immer wieder erfolgreich neuen Herausforderungen stellen können, brauchen sie mehr als Wissenswerkzeuge, die sie klug nur für einmal machen.

Wie sollte das auch funktionieren in einer Zeit, in der nichts beständig scheint außer dem Wandel? Jeder Segler weiß doch: Je rauer die See, desto wichtiger ist es, dass der Kompass funktioniert. Jeder Kletterer weiß doch: Je schwieriger die Bergwand ist, desto wichtiger ist die Sicherung.

Das muss die Bildung den Menschen auch geben, vielleicht sogar in erster Linie: Einen Kompass, der ihnen hilft, sich in einer Welt des raschen Wandels zu orientieren und die innere Sicherungsleine, die sie hält, wenn einmal alle Stricke reißen. Darum ist es so wichtig, dass wir nicht nur Informationen und Detailwissen vermitteln, nicht nur Verstand und Gedächtnis schulen, sondern dass wir den ganzen Menschen bilden.

Nur Menschen, die mehr innere Substanz, mehr Erfahrung und mehr Kenntnisse haben als sie im Moment im Beruf und Alltag brauchen, können auf Dauer dem Druck der Veränderung nicht nur standhalten, sondern die Veränderung mitgestalten. Das gilt im übrigen ein Leben lang. Wir müssen uns von dem Trugbild verabschieden, an dem immer noch zu viele Bildungspolitiker hängen: von dem jungen, dynamischen und gesunden Kernarbeitnehmer zwischen 20 und 40 Jahren. Den wird es in Zukunft seltener geben. Die demographischen Signale weisen doch genau in die umgekehrte Richtung.

V. Ich kenne die Argumente, die der Forderung nach mehr Bildung der Person und der Sinne, nach mehr Urteilsvermögen und persönlicher Orientierungsfähigkeit entgegengehalten werden. Das sei doch alles viel zu teuer, heißt es dann. Wir könnten uns das nicht leisten. In anderen Regionen der Welt entstehe neue Konkurrenz, die alles viel schneller und billiger herstelle.

Ich kenne auch den Einwand, dass doch gerade in Deutschland die praktische und technische Bildung viel zu gering geschätzt wurde. Darum sei es ganz falsch, nun wieder einer ganzheitlichen Bildung das Wort zu reden. Das sei nichts als weltfremd und bestenfalls elitär.

Es stimmt: Bis heute gibt es in Deutschland eine gewisse Skepsis gegenüber praktischen und technischen Formen der Bildung. Das ist ein Fehler. Genauso falsch ist es aber, wenn ein Gegensatz konstruiert wird zwischen praktisch technischer Bildung und der Bildung von Persönlichkeit und Charakter. Dass das gut zusammengeht, dafür gibt es viele Beispiele.

Es stimmt auch, dass die wirtschaftliche Konkurrenz uns zwingt, unser Bildungswesen effizienter zu organisieren. Die berechtigte Kritik an fehlendem Geld in vielen Bereichen heißt ja nicht, dass heute jede Mark für Bildung sinnvoll ausgegeben wird. Wir wissen aber auch, wie falsch es ist, das Bildungssystem vornehmlich unter kurzfristigen Effizienzgesichtspunkten zu betrachten. Bildungsinvestitionen sind immer langfristig angelegt. Man kann nie ganz genau vorhersagen, wann diese Anstrengungen welche Früchte tragen werden.

Darum warne ich vor den raschen Patentlösungen. Was heute als Vorteil oder Ersparnis erscheint, was als Verschlankung gerühmt oder als Effizienzsteigerung verkauft wird, das kann uns schon morgen teuer zu stehen kommen. Wir würden das nicht nur an unserem Geldbeutel spüren. Gewiss auch da, denn der Arbeitnehmer, der bloß die Kenntnisse für seine momentane Tätigkeit besitzt, der kann die Anforderungen der künftigen Berufswelt nicht bewältigen.

Noch größere Sorgen muss uns jedoch eine andere Folge einer einseitigen Bildungspolitik machen: Die Lockerung des sozialen Zusammenhalts.

In modernen Gesellschaften müssen wir den Zusammenhalt selber organisieren. Die Fähigkeit zur Orientierung und zur gesellschaftlichen Integration kann das Parlament nicht beschließen und die Regierung nicht verordnen. Jeder von uns, wir alle müssen dazu beitragen. Die Fähigkeiten, die dazu nötig sind, muss auch unser Bildungswesen fördern, sonst gefährden wir den Zusammenhalt der Gesellschaft - mit all den Folgen, die wir bereits heute erkennen können.

Wer das verhindern will, der braucht auch Geld; mehr, als wir in den letzten Jahrzehnten oft bereit waren zu geben. Aber es kostet nicht nur Geld. Wir müssen auch erneut den Blick dafür schärfen, dass Wissen mehr ist als bloßes Werkzeug und Bildung mehr als das Vermitteln von Informationen.

Wir sollten das Wissen, das uns als Werkzeug dienen soll und die Bildung, die dafür unverzichtbar ist, zusammenbringen zu einer Bildung des ganzen Menschen, zu einer Bildung der Sinne, des Herzens, des Gemüts, des ganzen Menschen.

Vor dieser Reformaufgabe standen wir schon einmal, in den sechziger Jahren. Damals ist die Diskussion schließlich in einer ideologisch aufgeladenen Organisationsdebatte über die beste Schulform und die beste Hochschulform versandet. Das war schon damals nicht gut. Heute müssen wir es besser machen.