Redner(in): Roman Herzog
Datum: 5. April 1995

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/04/19950405_Rede.html


Mein herzlicher Dank gilt Ihnen, sehr geehrter Herr Vorsitzender, für Ihre Einladung, vor Mitarbeitern und Studenten des Department of International Relations der Quaid-e-Azam Universität und anderen Persönlichkeiten zu sprechen. Ich bin dieser Einladung gern gefolgt, gibt sie mir doch Gelegenheit, einige grundsätzliche Gedanken und Überlegungen einem fachkundigen Publikum zu Gehör zu bringen und hierfür etwas mehr Zeit als bei Tischreden zur Verfügung zu haben.

Mein Staatsbesuch in Pakistan führt mich in ein Land von hoher kultureller Tradition. Vor fünftausend Jahren schon haben sich hier Formen frühmenschheitlicher Zivilisation entwickelt, die den Hochkulturen an Nil und Euphrat ebenbürtig waren. Später bildete Ihr Land die Brücke, über die der Geist der griechischen Antike in den Subkontinent eindrang. Ein Geist, der die örtlichen Kulturen - ich erinnere an die Ghandara-Kultur - zeitweilig wesentlich mitprägte. Die große Dynastie der Moghulkaiser hat im heutigen Pakistan bewunderungswürdige Bauwerke und andere Denkmäler menschlichen Geistes hinterlassen. Ich freue mich, einige dieser Denkmäler morgen in Lahore zu besichtigen, und ich bedauere, daß es mir aus Zeitgründen verwehrt ist, eine größere Zahl der vielen kulturhistorisch interessanten Bauwerke und Plätze in Ihrem Land sehen zu können.

Wohl keiner hat schon vor hundert Jahren so tief über die Beziehungen zwischen Ihrer und unserer Kultur nachgedacht wie Ihr großer Dichter und Denker Mohammed Iqbal. Wir sind stolz, daß Iqbal einen Teil seiner Studienjahre in Deutschland verlebte und daß die deutsche Kultur diesem großen Gelehrten zu einem gewissen Teil wichtige Anregungen geben konnte, wodurch auch wir gewonnen haben. Denn in seinen Notizen hat Iqbal vieles Bedenkenswerte über Deutschland und seine klassische Literatur und Philosophie hinterlassen. Sein auf Goethe bezogenes Wort: "Unsere Seele entdeckt sich selbst, wenn wir mit einem großen Geist in Berührung kommen!" läßt sich auf den Philosophen selbst ummünzen: durch die Augen dieses Denkers schärft sich auch unser Blick auf Ihr Land.

In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß ich neben dem Abgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden des Haushaltausschusses des Deutschen Bundestages, Herrn Roth, und einem bedeutenden Historiker der Indus-Kultur ersten Ranges, Herrn Professor Jansen, auch die renommierteste Pakistan- und Iqbal-Expertin meines Landes, Frau Professor Annemarie Schimmel, gewinnen konnte, mich nach Pakistan zu begleiten.

Aber es geht mir nicht nur um eine Reise in die ferne geschichtliche Vergangenheit, so reizvoll sie ist. Unsere beiden Länder sind Mitspieler, Mitgestalter und gleichberechtigte Partner bei den großen politischen Entwicklungen, die unsere Gegenwart bestimmen.

In Deutschland gedenken wir in diesen Wochen des fünfzigsten Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Ich habe vor sieben Wochen in Dresden eine Rede gehalten, an einem Ort also, der wohl wie kaum ein anderer zur Besinnung über die Greueltaten jedes Krieges auffordert. Ich sagte damals: "Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten oder einer anderen Rasse zugerechnet wurden. ... Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten."

Auch Sie haben gestern eines Tages gedacht, der für die jüngste Geschichte Pakistans ein wichtiges und tragisches Ereignis bedeutet. Auch Sie haben sich darauf besonnen, welch wichtiges, unverzichtbares Gut die Freiheit des Gedankens und die Freiheit vor politischer Verfolgung darstellt.

Die Gemeinsamkeit dieser Wertvorstellungen ist eine zentrale Grundlage unserer Freundschaft und der pakistanischen-deutschen Beziehungen. Unsere beiden Regierungen achten die Herrschaft des Rechts über die Ungerechtigkeit und die Freiheit des Andersdenkenden. Sie respektieren unsere Verantwortung gegenüber den großen Aufgaben unserer Zeit wie die Bekämpfung von Hunger und Armut, den Schutz der Umwelt und der natürlichen Reichtümer unseres Planeten sowie die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung des Friedens, wo dies erforderlich ist.

Ich komme aus einem Land, das den epochalen Wandel Ende der 80iger Jahre ganz besonders folgenreich erlebte und das sich noch immer im Wandel befindet. Ich weiß, mit welch großer Anteilnahme und Sympathie das pakistanische Volk die deutsche Wiedervereinigung begleitet hat und möchte dafür an dieser Stelle aufrichtig Dank sagen.

Ich habe nicht vor, mich längeren Exkursen zur deutschen Außenpolitik hinzugeben. Lassen Sie mich aber sagen, daß sich das wiedervereinte Deutschland denselben Werten verpflichtet fühlt wie Deutschland vor dem Fall der Berliner Mauer: Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union, Weiterentwicklung der Atlantischen Allianz, Unterstützung der Vereinten Nationen und aller Bestrebungen nach regionaler Integration, Förderung einer tragfähigen Entwicklung in den Ländern der südlichen Hemisphäre, um nur einige aufzuführen.

Gemessen an der alten Bundesrepublik ist Deutschland territorial wie wirtschaftlich größer und damit politisch auch gewichtiger geworden. Wir sind gewachsen, das steht außer Frage, und wir sind bereit, unseren gewachsenen internationalen Verpflichtungen nachzukommen. Aber wir sind durchaus in der Lage, unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Begriffe wie "Großmacht" oder "Europas Führungsmacht" werden von anderen, nicht von uns geprägt. Bescheidenheit steht uns gut zu Gesicht, und das sage ich, wenn notwendig, auch meinen Landsleuten.

Eine wesentliche Maxime deutscher Außenpolitik war und ist die Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens. Hierbei spielt Asien naturgemäß eine herausgehobene Rolle.

Die Bundesrepublik Deutschland hat gerade in letzter Zeit erhebliche Anstrengungen unternommen, sich auf die Bedeutung Asiens für ihre Außenpolitik zu besinnen. Im Oktober 1993 hat die Bundesregierung ein Asien-Konzept verabschiedet, das den aktuellen Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum Rechnung trägt. Dieses Konzept ist die notwendige Antwort auf die augenfällige Verlagerung politischer und wirtschaftlicher Energien in die asiatische Weltregion, der mit Abstand dynamischsten Wachstumsregion unserer Zeit. Hierauf wollen wir Europäer uns einstellen. Gerade wir Deutschen tun auch gut daran, nach den Jahren der Fixierung auf das Ost-West-Verhältnis und auf den Prozeß der Wiedervereinigung unseren Blick für die wahrhaft atemberaubende Entwicklung in dieser Weltgegend zu schärfen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.

Anfang 1994 haben sich die im asiatisch-pazifischen Raum akkreditierten deutschen Botschafter in Bonn auf einer Konferenz unter Leitung des Bundesaußenministers getroffen, um das neue Asienkonzept zu diskutieren. Dabei wurden auch Leitlinien zur Umsetzung des Konzepts erarbeitet. Mein Vorgänger im Amt, Bundespräsident a. D. von Weizsäcker, hat die Botschafter damals empfangen und sich von ihnen aus erster Hand über die Entwicklung und Zukunftschancen Ihres Kontinents unterrichten lassen. Von Anfang an war es ein wesentliches Element unserer neuen Asienpolitik, daß der Besuchsaustausch auf hoher und höchster politischer Ebene verstärkt werden sollte. Mein Besuch in Pakistan -mein erster Staatsbesuch - gehört in dieses Konzept. Er führt mich zu einem unserer wichtigsten Partner in Asien und ist somit auch Ausdruck unseres erneuerten Bewußtseins für die Wichtigkeit Asiens insgesamt.

Wir wollen sehr viel mehr über diesen Kontinent und auch über Ihr Land wissen und uns noch mehr dort umtun. Wir hoffen, daß es uns gelingt, uns auf Asien und damit auch auf das Partnerland Pakistan noch besser einzustellen. Es sollte das gemeinsame Ziel der Europäischen Union wie der Länder Asiens sein, sich kontinuierlich über die brennenden Probleme und Fragestellungen unserer Zeit auszutauschen, etwa über unsere Mitverantwortung für die Sicherung des Friedens, über unsere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Drogenhandels, über die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und über die Überwindung von Konflikten auf dem Verhandlungswege. Europa beansprucht kein Mitspracherecht in Asien, und das vergleichsweise kleine Deutschland schon überhaupt nicht. Doch in unserer kleiner werdenden Welt mit ihren ständig wachsenden globalen Verflechtungen strahlen Konflikte in scheinbar fernen Regionen der Erde auf andere Staaten aus. Daher sehen wir es mit Sorge, wenn Konflikte auf einem Kontinent oder Subkontinent die regionale Stabilität gefährden, sei es in Afrika, Lateinamerika, Asien oder vor unserer Haustür, in Europa.

Im politischen Bereich ist unsere Zusammenarbeit mit Asien längst ein unerläßlicher Bestandteil unserer globalen Politik der Friedenssicherung. Bei der Lösung von Konflikten gewinnen die Staaten Asiens wegen ihres weltpolitischen Gewichts zunehmende Bedeutung. Das gilt nicht zuletzt bei den Aufgaben im Rahmen der Vereinten Nationen. Lassen Sie mich an dieser Stelle Pakistan für seinen vorbildlichen Beitrag zu den friedenserhaltenden Maßnahmen der Weltorganisation Anerkennung ausdrücken!

Auch die deutsche Wirtschaft hat sich auf die neue Lage längst eingestellt. Die Gründung des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft Ende 1993, in dem zahlreiche führende Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft engagiert sind, zeigt die große Aufmerksamkeit, die diese Wachstumsregion auf sich lenkt.

Der asiatisch-pazifische Raum, in dem Pakistan ein wichtiges Teilstück bildet, tritt mit enormen Zukunftschancen in das 21. Jahrhundert. Fast 60 % der Weltbevölkerung leben in Asien. Hier sind bereits heute große Märkte vorhanden und wahrlich riesenhafte Märkte im Entstehen. Mit einem für die überschaubare Zukunft erwarteten Wirtschaftswachstum von jährlich 7 bis 8 % ist Asien, ich wies zuvor bereits darauf hin, die dynamischste Region weltweit. Schon jetzt wird über ein Viertel des Weltbruttosozialprodukts in dieser Weltregion erzeugt. In zehn Jahren könnte es bereits ein Drittel sein. Asiens Handel macht heute bereits ein Viertel des Welthandels aus. Der transpazifische Warenaustausch hat den transatlantischen schon seit Jahren im Volumen überholt, mit steigender Tendenz.

Technologisch haben sich asiatische Unternehmen inzwischen internationale Führungspositionen erkämpft. Asiatische Banken und Börsen spielen auf den globalen Finanzmärkten eine wachsende Rolle. Über ein Drittel der Weltdevisenreserven ist bei asiatischen Zentralbanken deponiert.

Die Europäer sollten aus all dem eine Lehre ziehen. Asiens Erstarken sollte als Chance und Bereicherung und nicht nur als Herausforderung begriffen werden. An Asien vorbei planen bedeutet inzwischen: an der Zukunft vorbei planen. Was mich besonders interessiert und wo ich während meines Besuches von Ihnen zu lernen hoffe, ist die Frage, welche Rolle Pakistan nun innerhalb dieser Wachstumsregion spielt.

Auf den ersten Blick liegen die Wachstumsraten in den Ländern des Subkontinents niedriger als die der "Wirtschaftslokomotiven" in den ASEAN-Ländern oder einigen großen ostasiatischen Volkswirtschaften. Gerade die Länder des Subkontinents besitzen aber die Chance, ihr Potential an menschlichen und natürlichen Ressourcen in enger, friedlicher Zusammenarbeit weiter zu entwickeln. In der südasiatischen Gemeinschaft für regionale Zusammenarbeit - SAARC - hat sich Pakistan, zusammen mit seinen Nachbarländern, hierfür den geeigneten Rahmen geschaffen. Mit 1,3 Milliarden Menschen, also einem Viertel der Gesamtweltbevölkerung, zählt sie zu den größten Regionalorganisationen der Erde. Ihr Land kann besondere Genugtuung darüber empfinden, daß eine der ersten wichtigen SAARC-Institutionen, nämlich die Handelskammer, nach Karachi vergeben wurde.

Deutschland hat die Gründung und den Aufbau dieser Regionalorganisation mit lebhafter politischer Unterstützung begleitet und den Dialog der Europäischen Union mit SAARC - wie zuvor bereits mit ASEAN und anderen Regionalorganisationen - initiiert. Ich freue mich, daß es 1993 zu einem ersten Kontakt zwischen der Kommission der Europäischen Union und einer SAARC-Delegation gekommen ist. 1994 hat Bundesaußenminister Kinkel in New York in seiner damaligen Eigenschaft als Ratsvorsitzender den politischen Dialog mit dem Ratsvorsitzenden von SAARC auch formell eröffnet und ihm eine Intensivierung und Vertiefung der partnerschaftlichen politischen Kooperation angeboten. Ich wünschte, dieses Angebot würde aufgegriffen und weiter verfolgt. Vielleicht böte der bevorstehende SAARC-Gipfel in Neu Delhi eine Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen.

Vermutlich sind die Möglichkeiten und Chancen dieser Regionalorganisation für den Subkontinent bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Ich meine das nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch - und ganz speziell - im politischen Sinne. Als ein Freund Pakistans und der Region insgesamt möchte ich Sie ermutigen, den institutionellen Rahmen, den SAARC bietet, noch stärker für die Ziele einer regionalen Stabilisierung und Konfliktbewältigung zu nutzen. Die jüngere Geschichte Europas belegt, wie Länder, die sich teilweise vor einem halben Jahrhundert noch als sogenannte "Erbfeinde" gegenüberstanden, über gemeinsame Wirtschafts- und Handelspolitiken und kontinuierlichen Dialog zu einem Verhältnis des Vertrauens, zu einer funktionierenden Kooperation und gar zur Freundschaft gefunden haben.

Diese Perspektive mag Ihnen heute noch, auf den Subkontinent bezogen, als ein schwer erreichbares Ziel erscheinen. Aber die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft konnten sich - nach vielen Jahren der Kriegsgreuel und des Hasses in Europa - sicherlich auch nicht vorstellen, wie sich die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten konkret gestalten würde. Sie hatten aber eine Vision, und aus heutiger Sicht kann man sagen, eine segensreiche Vision. Daher sollten auch die SAARC-Staaten nichts unversucht lassen, um zu Formen der politischen Kooperation zu finden, die es ermöglichen, bestehende Streitfragen zwischen den Mitgliedstaaten friedlich zu regeln.

Der wohl wichtigste Konflikt, der die politische, aber auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des gesamten Subkontinents seit fast einem halben Jahrhundert belastet und lähmt, ist die Kaschmirfrage. Sie spielt natürlich auch bei meinen hiesigen Gesprächen eine wichtige Rolle. Deutschland - und dies gilt auch für die Europäische Union als Ganzes - unterhält traditionell freundschaftliche Beziehungen sowohl zu Pakistan als auch zu Indien. Die Bundesregierung befleißigt sich beim Dialog mit der pakistanischen Regierung derselben Sprache und Argumente wie beim Dialog mit der indischen Regierung. Uns liegt sehr daran, daß es in diesem freundschaftlichen Beziehungsgeflecht keine Diskriminierung des einen gegenüber dem anderen gibt.

Die Europäische Union verfolgt die Kaschmirfrage mit großer Sorge. Sie hat beiden Parteien wiederholt empfohlen, ihren Konflikt auf dem Wege bilateraler Verhandlungen zu überwinden oder zumindest erste pragmatische Schritte zur Eingrenzung des Konfliktfeldes zu unternehmen. Diese Empfehlung möchte ich mit großem Ernst bekräftigen. Ein wichtiger erster Schritt wäre getan, wenn beide Regierungen sich entschließen könnten, den Dialog möglichst bald wieder aufzunehmen.

Deutschland verschließt nicht die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen, die täglich aus Kaschmir gemeldet werden. Die Europäische Union hat wiederholt den Schutz der Menschenrechte angemahnt. Diese Mahnung richtet sich an alle Beteiligten. Ich begrüße ganz ausdrücklich die Versicherung der pakistanischen Regierung, daß sie in diesem Konflikt keine logistische und materielle Hilfe leistet.

Ich bin der festen Überzeugung, daß der Kaschmirkonflikt nicht militärisch, sondern nur politisch im Einvernehmen mit allen Beteiligten gelöst werden kann und sollte. Eine aufgezwungene Lösung hätte auf Dauer keinen Bestand. Sie würde nur zu neuen Spannungen führen.

Als eine jahrzehntelang geteilte Nation messen wir Deutschen dem Recht auf Selbstbestimmung eine besonders große Bedeutung bei. Wir selbst haben es in unserer Nachkriegsgeschichte immer wieder, und stets auf friedlichem Wege, eingefordert. Unsere Erfahrung zeigt: das Recht auf Selbstbestimmung - wenn es Bestand haben soll - sollte nicht gewaltsam durchgesetzt werden. Vielmehr muß es im Rahmen einer dauerhaften Friedensordnung verwirklicht werden. Eine solche Ordnung fällt einem nicht in den Schoß. Sie mag ihre Entstehung einer Veränderung der politischen Großwetterlage verdanken, wir haben dies alle miterlebt. Vor allem aber muß sie mühsam erarbeitet werden: durch Schaffung von Vertrauen, Absicherung nach allen Seiten, Kompromißbereitschaft und viel guten Willen. Auch das läßt sich an der jüngsten Geschichte meines Landes nachvollziehen.

In zwei Wochen wird in New York die Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages eröffnet. Deutschland und die Europäische Union messen dieser Konferenz große Bedeutung bei. Die Bundesregierung und ihre Partner treten für die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Vertrages ein. Wir sehen in seiner strikten Einhaltung das entscheidende Instrument, um ein atomares Wettrüsten zu verhindern und die Menschheit vor der nuklearen Selbstvernichtung zu bewahren.

Daher ist es nur konsequent, daß wir an alle Staaten der Welt appellieren, dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten. Daß gerade die beiden wichtigsten Staaten des Subkontinents dem Vertrag bisher fern stehen und als Nichtmitglieder auch an der Konferenz in New York nicht teilnehmen werden, stimmt uns nicht gerade hoffnungsfroh. Ich kenne die Argumente und Sorgen, die aus pakistanischer Sicht dem Beitritt Ihres Landes zum Nichtverbreitungsvertrag entgegenstehen. Aber ich möchte Sie ermutigen - und dasselbe sagen wir auch der indischen Regierung - , sich Ihrer großen Verantwortung für die Stabilität nicht nur der Region, sondern auch weltweit, bewußt zu sein und dem Vertrag beizutreten.

Zu den Werten, die wir teilen, gehört die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, das unbedroht von strafrechtlicher Verfolgung ausgeübt werden sollte. Der große Gründungsvater Pakistans, Jinnah, genießt bei uns in Deutschland auch deswegen einen legendären Ruf, weil er unermüdlich für religiöse Toleranz eingetreten ist. Die Gründung Pakistans ist ja, wenn ich das richtig sehe, eine Konsequenz des Strebens nach politischer und religiöser Selbstverwirklichung gewesen. Daß Ihre Regierung, wie der pakistanische Außenminister Mitte Februar in Genf bekräftigte, beabsichtigt, wichtigen internationalen Abkommen zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte beizutreten und der mißbräuchlichen Anwendung des sogenannten Blasphemie-Paragraphen durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen ein Ende zu setzen, erfüllt mich daher mit besonderer Genugtuung.

Im übrigen ist die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte auch uns Deutschen auferlegt, und auch wir müssen uns kritische Blicke anderer Staaten gefallen lassen. Sie wissen so gut wie ich, daß wir in Deutschland mit großen Problemen zu kämpfen hatten. Damit meine ich die Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit, die es bei uns gegeben hat, die aber einer kleinen Gruppe Unbelehrbarer zuzuschreiben sind. Diese Gewalttäter werden vor Gericht gestellt und spüren die ganze Härte unserer Strafgesetze. Die Anschläge gegen Ausländer sind zwar auch im Ausland, aber zunächst und anhaltend bei der deutschen Bevölkerung selbst auf energischen Protest und Abscheu gestoßen. Ein friedliches Zusammenleben der Völker läßt sich nur dann glaubhaft nach außen vertreten, wenn es auch nach innen praktiziert wird. Lassen Sie mich hier bekräftigen, daß wir in Deutschland eine Atmosphäre erhalten wollen, in der jedermann gern und frei von Belästigungen und Ressentiments lebt. Deutschland ist ein weltoffenes Land und wird es bleiben.

Ich teile nicht die Ansicht Samuel Huntingtons, daß der Zusammenstoß der Zivilisationen unausweichlich ist und die politische Zukunft unseres Planeten bestimmt. Nichts wäre verhängnisvoller, als wenn sich die Nationen des Westens und des Ostens auf eine vermeintliche Konfrontation zwischen Islam und Christentum einrichteten. Schon die Propagierung derartiger Ideen halte ich für schädlich und für vollkommen unangebracht. Die großen Denker bei Ihnen und uns haben immer wieder auf das Verbindende zwischen Orient und Okzident hingewiesen. Ich erinnere nur an das, was Mohammed Iqbal zum Wechselverhältnis westlicher Werte und Islam sagte: "Das bemerkenswerteste Phänomen der modernen Geschichte ist die enorme Schnelligkeit, mit der sich die Welt des Islam in Geistesfragen dem Westen nähert. In dieser Entwicklung ist nichts Falsches, denn die europäische Kultur ist auf intellektuellem Gebiet nur eine Weiterentwicklung einiger der wichtigsten Phasen der islamischen Kultur." Ende des Zitats. Vergessen wir nicht: der Gründer des modernen Pakistan, Jinnah, hat bekräftigt, daß zwischen Islam und Demokratie kein Gegensatz besteht. Als die Prinzipien islamischer Demokratie nannte er schon vor fünfzig Jahren: die Gleichheit aller Menschen, Gerechtigkeit und "fair play" gegenüber jedermann. Diese Wertvorstellungen haben seither nichts an Aktualität eingebüßt. Die Konstruktion von Gegensätzen ist daher willkürlich, verfolgt oft ganz bestimmte Absichten und ist häufig sogar bösartig. Nicht der Kampf der Kulturen oder Zivilisationen ist angesagt, sondern die Entwicklung einer auf Konsens und gegenseitigem Vertrauen aufgebauten gemeinsamen Zivilisation.

Der uns allen auferlegte Zwang, die großen Herausforderungen der Menschheit in der Zukunft gemeinsam zu bestehen, läßt keinen Spielraum für ein Auseinanderdriften. Globale Probleme erfordern globale Lösungen und daher auch ein enges, vertrauensvolles Zusammenwirken aller Bürger dieser Erde.

Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren,

lassen Sie mich abschließend bekräftigen, daß mein Besuch in Ihrem Land der Erneuerung und Stärkung der traditionellen deutsch-pakistanischen Freundschaft gilt, einer Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt, auf jahrhundertealtem kulturellem Austausch, auf dem Fundament starker beiderseitiger Wirtschaftsinteressen und enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit beruht.

Möge meine heutige Begegnung mit Ihnen - und dies sage ich auch und vor allem in Richtung auf die Studenten unter den Zuhörern - als Initialzündung eines dauerhaften Dialogs verstanden werden, eines Dialogs zwischen Freunden und gleichen Partnern, zwischen zwei Völkern, die auch künftig bei der Bewältigung gemeinsamer Aufgaben eng zusammenwirken sollten.

Ich danke Ihnen.