Redner(in): Roman Herzog
Datum: 27. April 1995

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/04/19950427_Rede.html


Beginnen will ich mit Worten, die der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss im November 1952, an dieser Stelle gesprochen hat. Er sagte damals: "Ich habe, als ich gefragt wurde, ob ich heute ( ... ) ein Wort zu sagen bereit sei, ohne lange Überlegungen mit ja geantwortet. Denn ein Nein der Ablehnung, der Ausrede, wäre mir als eine Feigheit erschienen, und wir Deutschen wollen, sollen und müssen, will mir scheinen, tapfer zu sein lernen gegenüber der Wahrheit, zumal auf einem Boden, der von den Exzessen menschlicher Feigheit gedüngt und verwüstet wurde." Soweit Theodor Heuss.

Auch für mich ist es nicht leicht, an diesem Ort, an diesem Tag und gerade vor Ihnen zu sprechen.

Es ist, zum ersten, schwer, an diesem Ort zu sprechen. Der Name Bergen-Belsen steht, zusammen mit vielen anderen Lagernamen, für das schlimmste Verbrechen an der Menschlichkeit, das es bisher gab. Zu der Trauer über die Toten, zum Mitgefühl für die Opfer, kommen für mich Scham und Zorn. Scham und Zorn darüber, daß es Deutsche waren, die diese Verbrechen begangen haben und das das, was geschehen ist, im Lande Lessings, Kants und Goethes geschehen konnte.

Es ist schwer, zum zweiten, an diesem Tag zu sprechen. Heute ist der Tag, an dem die Juden weltweit, besonders in Israel, der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen gedenken, der "Yom Ha Shoah". Wenn wir Deutschen diesen Gedenktag gemeinsam mit den Opfern begehen, dann denken wir an die Worte des Alten Testamentes, das Juden und Christen gemeinsam ist: "Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr: Wir tragen deren Sünden." An diesen Sünden tragen wir Deutschen schwer. Nichts darf verdrängt werden, nichts darf vergessen werden. Wir tragen Verantwortung dafür, daß sich so etwas nie mehr wiederholt.

Es ist, zum dritten, schwer, vor Ihnen zu sprechen, meine Damen und Herren, die Sie mir jetzt zuhören. Viele von Ihnen waren selbst hier gefangen oder sind Kinder oder Angehörige von Gefangenen. Auch Befreier sind unter uns, die das schockierende Bild nicht vergessen haben, das sich ihnen damals bot. Wir erinnern uns auch daran, daß die Befreiung des Lagers am 15. April 1945 nicht das Ende der Leiden war. Tausende sind noch gestorben an den Tagen, die auf die Öffnung folgten, an Hunger, Krankheit und Entkräftung. Auch viele Ärzte und Schwestern, die in den ersten Wochen geholfen haben, sind durch Seuchen ums Leben gekommen.

Die meisten anderen, die überlebten, haben zwar das Lager verlassen, aber das Lager hat sie nicht verlassen. Die Erinnerungen haben sie ihr ganzes Leben begleitet und lassen sie nicht ruhen. Die Alpträume der Vergangenheit sind für sie ständige Begleiter bis in die Gegenwart. Auch das dürfen wir heute nicht vergessen.

Unter den vielen, die an diesem Ort litten und starben, war ein Mädchen, dessen Geschichte viele kennen und dessen Name fast stellvertretend steht für alle, die der Barbarei zum Opfer gefallen sind: Anne Frank. Am 11. April 1944 schrieb sie in ihr Tagebuch: "Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein." In diesem einen Satz wird deutlich, was die Wurzel der Barbarei war: Selektion. Selektion, daß war nicht nur ein Schreckenswort in den Lagern. Es war das Prinzip des Nationalsozialismus selbst.

Die Menschen verloren das Antlitz des Menschen. Sie wurden nach Merkmalen eingeteilt, sie wurden aussortiert. Statt "nicht nur Juden" hätte Anne Frank auch schreiben können: "Nicht nur Sinti und Roma, nicht nur Russen, nicht nur Christen, nicht nur Gewerkschafter, nicht nur Sozialisten, nicht nur Behinderte, nicht nur diese oder jene andere Minderheit".

Unsere Verantwortung ist, solche Selektionen nie mehr zuzulassen. Nie mehr zuzulassen, daß Menschsein abhängig gemacht wird von Rasse oder Herkunft, von Überzeugung oder Glauben, von Gesundheit oder Leistungsfähigkeit. Nie mehr zuzulassen, daß unterschieden wird zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben. Die Lehre von Bergen-Belsen heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

Der Völkermord, den das nationalsozialistische Regime beging, war in seiner technischen und bürokratischen Perfektion so einzigartig und beispiellos, daß man glauben könnte, er könne sich nicht wiederholen. Aber, meine Damen und Herren, das wäre ein gefährlicher Trugschluß. Es ist natürlich wahr, die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es kann neue Formen von Ausschluß und Gleichschaltung, von Selektion und Totalitarismus geben. Formen, die wir heute vielleicht noch nicht einmal ahnen. Also müssen wir wachsam bleiben. Dazu müssen wir uns erinnern. Nur wer sich erinnert, kann Gefahren für die Zukunft bannen.

Ich bin nicht sicher, ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben. Immerhin stehen wir an einer Schwelle von größter Bedeutung. Die Generation der Zeitzeugen geht zu Ende und es beginnt das Leben einer Generation, die in der Gefahr ist, die Erfahrungen, für die Bergen-Belsen steht, nur noch als Geschichte zu betrachten. Jetzt kommt alles darauf an, über die Vergangenheit so zu sprechen, sie so zu vermitteln und an sie so zu erinnern, daß die Jungen die Verantwortung, gegen jede Wiederholung aufzutreten, als ihre eigene Verantwortung empfinden. Das ist eine ganz entscheidende Aufgabe unserer Generation. Ihr hat sich alles, alles unterzuordnen, was in diesem Zusammenhang - auch in diesen Wochen - gedacht und geplant wird.

Noch einmal zusammengefaßt: Der Ablauf von 50 Jahren seit dem Ende des NS-Regimes kann nicht Ende des Erinnerns heißen. Was wir jetzt aber brauchen, ist eine Form des Gedenkens, die zuverlässig in die Zukunft wirkt.

Vor allem geht es darum, eine dauerhafte Form zu finden. Das ist wichtiger als schnelle Entscheidungen. Wir sollten uns die Zeit nehmen, die notwendig ist - aber allerdings auch nicht mehr - , um einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Denn wir brauchen eine lebendige Form der Erinnerung. Sie muß Trauer über Leid und Verlust zum Ausdruck bringen, aber sie muß auch zur steten Wachsamkeit, zum Kampf gegen Wiederholungen ermutigen, sie muß Gefahren für die Zukunft bannen. Für mich ist alles richtig, was unseren Kindern und Kindeskindern die Verantwortung für Demokratie, für die Freiheit und Menschenwürde in die Herzen gräbt und für mich ist alles falsch, was am Ende nur in momentanen Alibi-Effekten versandet.

Das sind wir nicht nur den NS-Opfern und nicht nur den möglichen Opfern neuer Diktaturen schuldig, sondern wir sind es auch unseren Kindern selbst schuldig. Die Geschichte des Versagens begann ja nicht erst nach der Machtergreifung von 1933. Sie begann schon lange vorher: in nationalistischer Überheblichkeit, in der Zögerlichkeit, mit der die Demokratie von Weimar einerseits gehandhabt und andererseits verteidigt wurde, in Witzen und Karikaturen, in einem wahnsinnigen Machtkalkül, das sich einbildete, Hitler gleichzeitig benutzen und bändigen zu können.

Auch unsere Kinder müssen es lernen: Totalitarismus und Menschenverachtung bekämpft man nicht, wenn sie schon die Macht ergriffen haben. Man muß sie schon bekämpfen, wenn sie zum ersten Mal - und vielleicht noch ganz zaghaft - das Haupt erheben.

Nach der Machtergreifung von 1933 war für den Einzelnen gegen den Nationalsozialismus nicht mehr allzuviel auszurichten. Nun lag das Versagen vor allem im Wegschauen. Wer Augen hatte, konnte zwar sehen. Aber das war gefährlich. Und vor allem es war unbequem. Man sah weg, als jüdischen Ärzten und Rechtsanwälten die Zulassung entzogen wurde; man wechselte eben zu anderen. Man sah weg, als jüdischen Geschäftsleuten ihr Gewerbe weggenommen wurde; es gab ja Interessenten, die es erwerben wollten. Man sah weg, als Juden der Zugang zu Restaurants und Cafês, zu Bibliotheken und Parks durch Verbotsschilder verwehrt wurde. Und man sah weg, als Nachbarn abgeholt wurden, und fragte nicht, warum sie nicht wiederkamen.

Auch das ist die Lektion von Bergen-Belsen: Man ist nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man geschehen läßt. Wer es zuläßt, daß anderen die Freiheit geraubt wird, der verliert am Ende die eigene Freiheit. Wer es zuläßt, daß anderen die Würde genommen wird, der verliert am Ende die eigene Würde.

Gewiß nicht alle haben weggesehen. Es gab den Widerstand Dietrich Bonhoeffers, der Geschwister Scholl, des 20. Juli. In Bergen-Belsen büßten Rudolf Küstermeier und Heinrich Jasper ihre Opposition gegen die Nazi-Diktatur. Es gab auch Menschen, die im Alltag ihren Anstand bewahrten. Es gab den Wissenschaftler, der seine Freundschaft zum plötzlich geächteten Kollegen eben nicht auf staatlichen Befehl aufgab. Es gab die Familie, die es sich nicht nehmen ließ, ihre jüdischen Freunde zu Hause zu besuchen. Es gab die Hausfrau, die des Berufs beraubte Nachbarn mit Lebensmitteln versorgte. Und es gab Menschen, die, obwohl es mit höchstem Risiko verbunden war - Juden aufnahmen und versteckten. Sie waren Helden, aber sie waren wenige und sie allein konnten das Unheil nicht mehr abwenden.

Bergen-Belsen ist nicht nur Vergangenheit. Jorge Semprun hat es uns erklärt, indem er sagt: "Die Geschichte ist frisch. Der Tod steht noch im Präsens". Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, müssen wir erkennen, daß die Gefahr des Totalitarismus immer noch im Präsens steht und nicht nur in Deutschland - sondern der ganzen Welt - und daß sie uns auch im Futur wieder begegnen kann.

Unsere Verantwortung ist es, dieses Wissen weiterzugeben.

Wir sind dankbar, daß wir noch einmal die Chance bekommen haben, zusammen mit unseren europäischen Nachbarn eine gemeinsame friedliche Zukunft zu gestalten. Deutschland wird alles daran setzen, daß es nationalistischer Engstirnigkeit, Überheblichkeit und Intoleranz nie mehr gelingt, den Frieden zu gefährden. Wo immer es sei.

Am gleichen 11. April 1944 schrieb Anne Frank in ihr Tagebuch, sie rechne bereits mit der Möglichkeit des Todes. Sie fand den Mut, sie fand die Kraft, hinzuzufügen, daß es dann eben ein Opfer für Freiheit, Wahrheit und Recht sein müsse. Das ist ihr Vermächtnis. Nehmen wir es an.