Redner(in): Johannes Rau
Datum: 13. August 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/08/20010813_Rede.html


Heute vor vierzig Jahren hat auf Befehl der Führung der DDR der Bau der Berliner Mauer begonnen. Die Mauer schnitt die Ostdeutschen vom Westteil Berlins ab und versperrte ihnen damit den letzten Ausweg aus der DDR. Das besiegelte für fast drei Jahrzehnte die Teilung Deutschlands.

Alle weltpolitische Einordnung und alle Hinweise auf die Blockkonfrontation ändern nichts daran: Der Bau der Mauer war ein Verbrechen gegen das eigene Volk. Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister von Berlin, sagte damals: "Ein Regime des Unrechts hat ein neues Unrecht begangen, das größer ist als alles zuvor!"

Bis 1961 hatten schon Millionen Männer und Frauen die DDR verlassen: Aus politischen Gründen, aus persönlichen, aus wirtschaftlichen. Sie wollten nicht länger existentieller Freiheiten beraubt sein. Diesen Flüchtlingsstrom stoppte die Mauer mit brutaler Gewalt.

Die Berliner Mauer hat ungezählten Frauen und Männern Leid gebracht. Eltern und Kinder, Familien und Freunde wurden auseinander gerissen. Heute denke ich vor allem an all jene, die an der Mauer und an der Grenze mitten durch Deutschland getötet oder verwundet wurden. Ich denke an die Opfer und an ihre Familien.

Stellvertretend für alle Toten nenne ich Peter Fechter und Chris Gueffroy. Peter Fechter wurde am 17. August 1962 erschossen, nur weil er vom Ostteil in den Westen Berlins wollte. Er rief lange vergeblich um Hilfe. Er war achtzehn Jahre alt. Chris Gueffroy war zwanzig Jahre alt. Auch er wollte nur raus. Er wurde erschossen - am 5. Februar 1989, neun Monate vor dem Fall der Mauer.

Diese mörderische Grenze mitten durch Berlin und mitten durch Deutschland war das Kainsmal eines Regimes, das Machterhalt und Ideologie über Menschenrecht und Menschenwürde gestellt hat.

Heute sind von der Mauer in Berlin nur noch wenige Spuren übrig. Für die allermeisten Berlinerinnen und Berliner ist es längst wieder selbstverständlich, in einer ungeteilten Stadt zu leben. Das vereinte, das neue Berlin zieht Millionen Menschen aus aller Welt an und begeistert sie mit einer ganz einzigartigen Mischung aus Tradition und Moderne.

Das ist ein Grund zur Freude und zur Dankbarkeit. Der 13. August sollte uns nicht nur in diesem Jahr daran erinnern, dass all das nicht selbstverständlich ist. Er erinnert uns an die Not der Teilung unseres Vaterlandes und besonders an das Leid der Opfer und ihrer Familien.

Daraus folgt für uns alle eine doppelte Verpflichtung: Wir dürfen das Leid und das Unrecht nicht vergessen, das so vielen zugefügt worden ist. Und: Wir müssen uns des Geschenkes der Einheit würdig erweisen, indem wir sie gemeinsam und im Interesse aller gestalten.