Redner(in): Johannes Rau
Datum: 28. September 2001
Anrede: Sehr verehrte Frau Präsidentin Professor Limbach,sehr geehrter Herr Vizepräsident Papier,sehr geehrte Gäste,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/09/20010928_Rede.html
meine sehr geehrten Damen und Herren Bundesverfassungsrichter,
I. wir feiern heute im doppelten Sinne einen "späten" Geburtstag: Die anderen vier Verfassungsorgane hatten ihr "Fünfzigjähriges" schon 1999 - wie die Bundesrepublik und das Grundgesetz.
Die Verspätung hat einfache Gründe: Die anderen vier Verfassungsorgane sind 1949 durch Wahl und Konstituierung entstanden. Für das Bundesverfassungsgericht war dagegen ein Errichtungs- und Verfahrensgesetz erforderlich, das erst im April 1951 in Kraft getreten ist. Der feierliche Gründungsfestakt fand dann hier in Karlsruhe am 28. September 1951 statt, heute vor fünfzig Jahren. Verspätet " darf man die heutige Feierstunde aber vielleicht auch deshalb nennen, weil das Bundesverfassungsgericht tatsächlich schon am 7. September 1951 seine Arbeit aufgenommen hatte - und schon zwei Tage später hat der Zweite Senat die erste wichtige Entscheidung getroffen: Er hat die Volksabstimmung über die geplante Länder-Neugliederung im deutschen Südwesten ausgesetzt. Auch der Erste Senat hat noch vor dem Gründungsfestakt über drei Verfassungsbeschwerden entschieden.
Übrigens: Diese vier Beschlüsse beanspruchen im ersten Band der Entscheidungssammlung insgesamt sieben Seiten..... - Ich danke für wehmütigen Beifall.
II. Das Grundgesetz bestimmt in Artikel 92: "Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt."
Schon diese Aufzählung und die Hervorhebung vor den anderen Gerichten weist auf die Doppelnatur des Bundesverfassungsgerichtes hin. Noch deutlicher heißt es in § 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht: Es ist ein "allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes." Es ist also Gericht und Verfassungsorgan zugleich.
III. Von Konrad Adenauer, der mit dem Gericht manchen Streit ausgefochten hat, stammt der berühmt gewordene Satz: "Dat ham ' wir uns so nicht vorjestellt."
In der Tat - diesmal positiv gewendet: Die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie sich vor fünfzig Jahren wohl kaum jemand hat vorstellen können. Diese Erfolgsgeschichte hat viele Gründe und Ursachen. Einer liegt sicher in der Entscheidung der Väter und Mütter des Grundgesetzes: Was sie zur Frage einer Verfassungsgerichtsbarkeit beraten und beschlossen haben, das war klug - und es war mutig, weil es ohne Vorbild war.
Gewiss: eine Verfassungsgerichtsbarkeit und einen Grundrechtskatalog kannten - in bestimmter Form - auch schon frühere Verfassungen in Deutschland. Aber mit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, wie sie das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht anvertraut, und mit dessen umfangreichen Zuständigkeitskatalog sind sie nicht zu vergleichen. Das Bundesverfassungsgericht war eine im Kern neuartige Institution.
Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates sollte eine Antwort sein auf das menschenverachtende Regime des Nationalsozialismus, das von Willkür und Rechtlosigkeit geprägt war. Neu war, dass die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht sind, auf die "Jedermann" sich vor Gericht berufen kann.
Neu war vor allem, dass Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes alle drei Staatsgewalten der Bindung durch die "nachfolgenden Grundrechte" unterwirft: also nicht nur die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung, sondern auch den Gesetzgeber. Das gilt als die eigentliche Großtat des Parlamentarischen Rates: die Inthronisation des Primats der Verfassung, die Begrenzung und Zähmung politischer Macht durch das Recht.
IV. Der Vorrang des Rechts und seine Durchsetzung gegenüber Unrecht und Gewalt: mit diesem Anspruch steht das Grundgesetz in der Nachfolge der Vorreiterin aller Verfassungen, der amerikanischen "bill of rights" und deren Idealen.
An diese Ideale zu erinnern, ist mir gerade in diesen Tagen besonders wichtig. Die Terroranschläge in Amerika haben uns überdeutlich vor Augen geführt, wie gefährdet unsere Rechtsordnung ist, die eine Friedensordnung ist. Deshalb müssen wir bereit sein, alle Anstrengungen zu unternehmen, sie zu schützen: Mit Entschiedenheit und in Solidarität mit den Vereinigten Staaten, die sich mit großer Besonnenheit darum bemühen, eine breite Allianz gegen der Terrorismus zu formen, und deren Partner wir sind. Wenn die Nationen vereint zusammen stehen, dann wird der Terror keine Macht über uns gewinnen.
V. Das Bundesverfassungsgericht hat den Bestimmungen des Grundgesetzes, vor allem den Grundrechten, Kraft und Gestalt gegeben. In den Annalen des Gerichts finden sich viele grundlegende Entscheidungen, mit denen das Gericht Verfassungsgeschichte geschrieben hat. Ich möchte es - vor einem solchen fachkundigen Auditorium - anderen Rednern überlassen, die Meilensteine in der Rechtsprechung des Gerichts zu würdigen.
Ich gehöre als Nichtjurist heute hier im Saal wahrscheinlich ohnehin zu einer Minderheit. Ich hoffe aber, dass ich für das, was ich Ihnen sagen möchte, nicht den verfassungsrechtlich verbürgten Minderheitenschutz in Anspruch nehmen muss.
Das Bundesverfassungsgericht ist heute aus dem Gefüge von Staat und Gesellschaft nicht mehr wegzudenken: Die Bürgerinnen und Bürger rufen das Gericht an und machen ihre Grundrechte geltend - mancher hier im Saal wird mit Blick auf die Arbeitslast sagen: Wären es doch ein paar Verfahren weniger!
Der Satz ".... und wenn ich bis nach Karlsruhe gehen muss" ist Ausdruck der Hoffnungen und des Vertrauens der Menschen in die Institution Bundesverfassungsgericht - und das, obwohl doch nur ein Bruchteil aller Verfassungsbeschwerden Erfolg hat; die Quote liegt bei zwei bis drei Prozent.
In Meinungsumfragen erreicht das Bundesverfassungsgericht über die Jahrzehnte hinweg Spitzenwerte, von denen andere Institutionen und Personen nur träumen können. Das gilt trotz mancher Kritik an einzelnen Entscheidungen, und Kritik muss sich natürlich auch das Bundesverfassungsgericht gefallen lassen.
VI. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht der Bürger - das ist die eine Seite. Zum anderen hat das Gericht die Funktion eines Staatsgerichtshofs, der über die Streitigkeiten zwischen den am Verfassungsleben beteiligten Institutionen entscheidet.
Es ist gut und wichtig, dass wir diesen unabhängigen Schiedsrichter haben, der über die Kompetenzen von Bund und Ländern und über die Rechte von Bundestag, Bundesregierung und Opposition wacht. An uns alle gerichtet, unabhängig davon, welches Amt oder welche Funktion wir zur Zeit inne haben, sage ich aber auch: Der oft angedrohte "Gang nach Karlsruhe" darf nicht missverstanden oder gar missbraucht werden als Ersatz für fehlenden Wahlerfolg und für fehlende Mehrheiten.
Der Vorwurf, Karlsruhe mache Politik, das Gericht schwinge sich zum "Ersatzgesetzgeber" auf, ist überzogen. Manchmal fällt dieser Vorwurf übrigens auch auf die Politik zurück: Denn das Bundesverfassungsgericht wird nicht von sich aus tätig, sondern nur dann, wenn es angerufen wird. Aufgabe der Politik dagegen ist es, die Angelegenheiten unseres Gemeinwesens zu gestalten und Probleme aufzugreifen.
Wenn die politisch Verantwortlichen das - wie geschehen - bei dem einen oder anderen Thema nicht getan haben, wenn sie Entscheidungen aufgeschoben haben, weil sie unpopulär, kompliziert oder teuer waren: dann hat "Karlsruhe" denen, die zu entscheiden hatten, aber nicht entschieden haben, die Entscheidung abgenommen oder es hat sie mit inhaltlichen Vorgaben gezwungen zu entscheiden.
Wir alle wissen ja: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet an der Schnittstelle von Recht und Politik. Aber es hat immer die Maxime aufrecht erhalten, dass es ein Gericht ist und dass es nach rechtlichen Kriterien urteilt.
Ob das Gericht in jedem Fall die schwierige Gratwanderung zwischen Recht und Politik gemeistert hat oder ob es möglicherweise die eine oder andere Grenzüberschreitung gegeben hat, das wird von Beobachtern und Kritikern des Gerichts - je nach eigenem Standpunkt - unterschiedlich gesehen.
Ich halte fest: Die Bundesrepublik ist gut gefahren mit dem Bundesverfassungsgericht. Das Gericht hat mit seiner Rechtsprechung der vergangenen fünfzig Jahre ganz wesentlich dazu beigetragen, dass unser Gemeinwesen eine glückliche Entwicklung genommen hat, und es hat die Ideale des Grundgesetzes mit Leben erfüllt: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.
VII. An dieser Entwicklung haben nun seit etwas mehr als zehn Jahren auch die Menschen in den neuen Ländern Anteil. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Glücksfall der deutschen Einheit wichtige Entscheidungen getroffen. Ich erinnere an die Entscheidungen zum Wahlvertrag, zu den Enteignungen zwischen 1945 und 1949, zur Übernahme alter DDR-Eliten in den öffentlichen Dienst, zur Strafbarkeit der Gewaltakte an der Mauer, zur Rentenüberleitung und an andere mehr.
Nicht alle dieser Entscheidungen haben bei den Betroffenen Gefallen gefunden, wiederum je nach Standpunkt, im Westen wie im Osten. Aber die eben aufgezählten Beispiele sind ein Beleg dafür: Auch die Menschen in den neuen Ländern erkennen im Bundesverfassungsgericht die Institution, die sie zur Durchsetzung ihrer Grundrechte anrufen können.
VIII. Es ist einmal gesagt worden, das Grundgesetz sei das Gedächtnis unseres demokratischen Rechtsstaates. Wenn das so ist, dann ist das Bundesverfassungsgericht ein wichtiger Ort, an dem wir alle uns vergewissern können über die Grundwerte und über den Grundkonsens, auf dem unser Gemeinwesen ruht.
Die Geschichte lehrt, dass politische Macht, selbst wenn sie demokratisch legitimiert ist, dazu neigt, rechtliche Bindungen zu lockern, sei es aus kurzfristigem politischen Kalkül, sei es aus Gründen des eigenen Machterhalts oder aus anderen Motiven. Da ist es gut, wenn die politisch Verantwortlichen durch die "Hüter der Verfassung" an ihre verfassungsrechtlichen Grenzen erinnert werden.
Solche Vergewisserung tut auch Not in einer Zeit, in der viele Menschen Orientierungs- und Werteverlust beklagen. Da ist es gut, wenn wir bisweilen daran erinnert werden, dass unser Gemeinwesen auf Grundwerten und auf einem Grundkonsens beruht.
Dazu zählt: dass die Würde des Menschen über allem steht; dass die Grundrechte vor allem dort zum Tragen kommen, wo s um den Schutz von Minderheiten geht; eine andere Meinung zu haben oder einer anderen Religion anzugehören, gerade so sind die Grundrechte historisch erkämpft worden; dass der vom Grundgesetz garantierte besondere Schutz der Familie als der kleinsten Einheit unseres Gemeinwesens kein bloßes Lippenbekenntnis ist, sondern für den Staat effektive, materielle Handlungspflichten nach sich zieht; dass unser Sozialstaat und seine Sozialsysteme auf dem Prinzip der Solidarität beruhen; das verpflichtet die Wohlhabenden zugunsten der Bedürftigen, die Jungen zugunsten der Alten und die Gesunden zugunsten der Kranken.
IX. Ich danke allen Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts, den aktiven und den ausgeschiedenen, für das, was sie in den zurückliegenden Jahrzehnten zum Wohle unseres Gemeinwesens geleistet hat.
Große Richterpersönlichkeiten haben dem Gericht gedient und seine Rechtsprechung mitbestimmt. Auch nur eine oder einen hier namentlich hervorzuheben, hieße andere zurückzusetzen - deshalb verzichte ich ganz darauf.
Das Verfahren, in dem die Verfassungsrichter in ihr Amt gewählt werden, ist immer wieder einmal Gegenstand von Kritik gewesen. Mangelnde Transparenz und parteipolitische Postenvergabe, das sind die Vorwürfe.
Bei aller Kritik: Ich habe - auch mit Blick auf die schützenswerten Belange der Kandidaten - bisher keinen besseren Vorschlag gehört, der praktikabel wäre. Unbeschadet aller Defizite hat das bisherige Verfahren meist zu einer insgesamt ausgewogenen Besetzung des Gerichts geführt.
Grund dafür ist offenbar auch die besondere Mischung von Persönlichkeiten ganz unterschiedlicher Herkunft, die sich so in den beiden Senaten findet: Da argumentiert der Universitätsprofessor mit dem früheren Richter, die frühere Politikerin bringt andere Ansichten ein als der frühere Anwalt.
Wer immer nur an vermeintliche parteipolitische Orientierung und an Streit denkt, der übersieht vor allem, dass der ganz überwiegende Teil der Entscheidungen in den Senaten - in den Kammern ohnehin - einstimmig ergeht.
Die Arbeit kostet Kraft. Bei einigen Richterinnen und Richtern haben Kraft und Gesundheit nicht ausgereicht. Während ihrer Amtszeit haben Tod oder Krankheit sie ereilt. An sie heute zu erinnern, ist mir wichtig. Stellvertretend für andere nenne ich die zuletzt Gestorbenen: ich nenne Helga Seibert und Klaus Winter.
X. Meine Damen und Herren, Deutschland ist Teil eines größer werdenden Europa. Wir sind in
einem steten Prozess, in dem über eine künftige "Verfassung" oder "Verfasstheit" von Europa nachgedacht wird.
Das Bundesverfassungsgericht steht inmitten dieses europäischen Prozesses und hat eigenen Anteil daran. Es hat sich in mehreren Entscheidungen zum Grundrechtsschutz in Europa auch zu seinen eigenen Kompetenzen in Abgrenzung zum Europäischen Gerichtshof geäußert.
Hier geht es nach meiner Überzeugung nicht um ein konkurrierendes Gegeneinander, sondern um ein konstruktives Neben- und Miteinander.
Manch einer sagt dem Bundesverfassungsgericht - eben wegen Europa - einen Bedeutungsverlust voraus. Vieles wird davon abhängen, wie ein künftiges europäisches Verfassungsgebilde aussehen wird. Entscheidend wird vor allem sein, welchen Stellenwert die inzwischen proklamierte europäische Grundrechtscharta erhalten und wie der Europäische Gerichtshof sie interpretieren wird.
Ich wünsche mir, dass es gelänge, eine sinnvolle Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen Ebene und den Mitgliedstaaten zu finden - so wie ja auch innerhalb der Bundesrepublik das Bundesverfassungsgericht und die Länderverfassungsgerichte zu einer vernünftigen Abgrenzung ihrer Verfassungsräume gefunden haben.
XI. Wir sollten zuversichtlich in die Zukunft schauen. Ich wünsche dem Bundesverfassungsgericht und seinen Richterinnen und Richtern eine glückliche Hand und Entscheidungen, die immer die Nähe suchen zur biblischen Weisheit Salomos.