Redner(in): Johannes Rau
Datum: 30. September 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/09/20010930_Rede.html
I. Meine Damen und Herren,
das ist ein wirklich schöner Anlass, der uns heute morgen hier zusammenführt. Fünfzig Jahre Kulturkreis der deutschen Wirtschaft - das bedeutet ja fünfzig Jahre vorbildliches Engagement für die Förderung von großer Kunst, fünfzig Jahre außerordentlich fruchtbarer Einsatz für das Gemeinwesen, fünfzig Jahre im Dienste des - wie man unter Ihnen gerne sagt - "Unternehmens Kunst". Ich will Ihnen nicht Ihre eigene Geschichte erzählen. Die kennen Sie viel besser und die können Sie zur Not nachlesen.
Es ist aber immer noch bemerkenswert, dass sich deutsche Industrielle - es war zunächst ein kleiner Kreis - so bald nach dem Kriege und so bald nach Gründung der Bundesrepublik entschlossen haben, großzügig und uneigennützig, wie es damals hieß,"dem künstlerischen Bestreben zu Hilfe zu kommen".
Hier haben Unternehmer - sehr früh - etwas unternommen, was sie gar nicht hätten unternehmen müssen und was auch niemand von ihnen hätte verlangen können. Sie haben das nicht als spielerisches Mäzenatentum oder als neureich-gönnerisches Unter-die Arme-Greifen verstanden, sondern sie haben sich, wie es in der Präambel von 1952 heißt: "in der ihr zugefallenen Verantwortung" gewusst. Verantwortung! Das ist ein großes Wort gewesen damals, aber dieser Geist hat die Förderung von Kunst und Kultur durch den Kulturkreis all die Jahre hindurch geprägt.
Das kann man auch daran noch einmal sehen, wie Sie Ihre Aufgabe 1992 verstanden, als Sie Ihre Satzung neu gefasst haben. Dort heißt es ganz schlicht: "Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus im östlichen Teil Deutschlands fallen dem Kulturkreis wesentlich erweiterte Aufgaben zu." Ich finde diese Formulierung sehr bezeichnend. Hier wartet man nicht darauf, dass Wünsche an einen herangetragen werden, hier wartet man erst recht nicht auf politische Forderungen - die würde man sich wohl eher verbitten - sondern hier sieht man einfach, dass einem "Aufgaben zufallen", man begreift sich in der Verantwortung. Darin, in diesem Geist, drückt sich eine Selbstverständlichkeit des Gemeinsinns aus, die vorbildlich ist.
II. Dafür bin ich zunächst ganz einfach dankbar. Ich glaube, ich darf diesen Dank sagen im Namen der vielen, die durch Sie gefördert worden sind. Es sind sehr illustre Namen darunter, fast kann man sagen, alles, was Rang und Namen hat in der großen Kultur der Bundesrepublik taucht irgendwo auf in den Listen der Stipendien und der Preise.
Das wäre nicht weiter verwunderlich, hätte der Verein sich mit großen Namen schmücken wollen. Das war aber nie das Ziel. So schrieb der Gründer des Kulturkreises, der unvergessene Gustav Stein: "Einziger Maßstab war für uns stets allein die künstlerische Qualität, die schon erwiesene wie auch die für die Zukunft."
Das letztere, das mit der Zukunft, bestätigt sich beim Studieren der Preisträger- oder Stipendien-Listen. Das Interessante ist nämlich, wann das jeweilige Stipendium oder der Preis vergeben wurden. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Laureaten in den meisten Fällen vor ihrem sogenannten Durchbruch oder vor ihrem großen Ruhm vom Kulturkreis bereits aufgespürt und gefördert worden sind. Das ist, wie ich finde, besonders bemerkens- und - machen wir es heute einmal andersherum -lobenswertan der kontinuierlichen Arbeit des Kreises. Sie sind nicht nur großzügig und nehmen nicht nur ernsthaft Ihre Verantwortung wahr, Sie haben offenbar auch eine sehr gute Nase für die großen künstlerischen Begabungen, für Qualität.
Deswegen spreche ich den Dank nicht nur im Namen der Geförderten aus, sondern auch den Dank aller, deren Leben durch Kunst und Künstler reicher und schöner wird. Wir alle haben der Arbeit des Kulturkreises sehr viel zu danken. Er hat Maßstäbe für Qualität gesetzt und eingehalten, die für unser ganzes kulturelles Leben bedeutend sind. Sie haben dem Gemeinwesen einen großen Dienst erwiesen.
III. Uns ist allen in den zurückliegenden Wochen deutlich geworden, dass wir uns in einer geschichtlichen Phase befinden, die durch Spannungen kultureller und geistiger Art geprägt ist. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, von einem "Kampf der Kulturen" zu sprechen, wie der unselige Ausdruck lautet, der seit nunmehr fast zehn Jahren im Umlauf ist. Davon sollte man wirklich nicht leichtfertig sprechen. Ich glaube, dass dieser Ausdruck nicht ein tatsächliches Phänomen beschreibt. Er kann eher dazu verführen, etwas herbeizureden, vor dem wir alle tatsächlich große Sorge haben müssten. Eine leichtfertige Rede vom Kampf der Kulturen könnte zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung werden.
Wir reden heute viel von der Begegnung der Kulturen, vom Dialog der Kulturen und von der gegenseitigen Bereicherung und Befruchtung. Das ist richtig und dazu muss in jeder Hinsicht noch viel mehr getan werden. Wir können gar nicht genug übereinander wissen, voneinander lernen und miteinander reden. Die Tatsache allein, dass Kulturen sich begegnen, dass unterschiedlichste Kulturen auf engem Raum zusammenleben, schafft von sich aus noch keine "Begegnung" im zivilen, im friedlichen Sinne des Wortes. Leider belegen viele Beispiele aus aller Welt, dass Begegnung oft genug in erster Linie Konfrontation bedeutet.
Wenn solcher Konfrontation Raum gegeben wird, wenn sie nicht alsbald umgewandelt wird in eine um Verständnis und Akzeptanz bemühte Begegnung, besteht die Gefahr, dass sich die Einstellungen verhärten, dass sich aus Vorurteilen und Halbwissen festgefügte Überzeugungen und fertige Bilder voneinander bilden, die nur mehr schwer verändert werden können.
Trotz aller Angst die viele zur Zeit haben, trotz allem Ablehnung, mit der wir fundamentalistischen Bestrebungen begegnen, trotz allem Abscheu, den wir empfinden, wenn Terrorakte religiös begründet werden, trotz allem, was uns an anderen Kulturen fremdartig vorkommt: wir dürfen nicht aufhören mit dem Dialog der Kulturen. Wir müssen ihn verstärken, gerade jetzt. Wir müssen uns untereinander verständigen. Wir müssen ja in dieser einen Welt miteinander leben. Ein Dialog der Kulturen setzt die Kultur des Dialogs voraus - und das kann man nicht einfach, das muss man auch lernen.
Natürlich können Kulturen keine Dialoge führen. Das können nur Menschen. Nur zwischen Menschen, die aus innerer Überzeugung dazu bereit sind oder dafür gewonnen werden können. Uns helfen nur echte Begegnungen mit all dem, was den anderen bestimmt, was ihn ausmacht, was seine Hoffnungen und Sehnsüchte, was seine Angst und seine Ehrfurcht ausdrückt.
IV. Ich sage das hier und heute nicht nur aus dem aktuellen politischen Anlass. Ich sage das gerade hier bei Ihnen, vor dem Kulturkreis der deutschen Wirtschaft, weil der Dialog der Kulturen, zu dem man natürlich noch viel mehr sagen müsste, auch mit der Kunst zu tun hat, also mit der Kultur, wie wir sie verstehen, wenn wir etwa vom "kulturellen Leben" sprechen.
Warum öffnen wir uns der Kunst, warum brauchen wir sie, warum fördern wir sie? Warum können wir uns ein Leben ohne Begegnung mit Kunst nicht vorstellen? Weil uns die Kunst Zugänge vermittelt, die wir ohne sie nicht finden würden, die wir aber für ein wahrhaft menschliches Leben brauchen.
Ich nenne drei Zugänge, die uns die Begegnung mit der Kunst vermittelt.
Das erste ist der Zugang zum Erbe. Das bedeutet für mich immer noch und immer wieder, dass Maßstäbe erkennbar werden. Es geht weder um Musealisierung noch um Beweihräucherung. Es geht in der Begegnung mit den "alten Meistern" - ich fasse darunter jetzt Dramatiker und Poeten, Komponisten, bildende Künstler und auch Filmemacher zusammen - um das Entdecken der großen Form, der gelungenen Gestalt und eines Sinnes, der sich immer wieder neu erschließt. Wer einen Zugang zum großen künstlerischen Erbe gefunden hat, der hat auch Zugang zu Maßstäben, einen Zugang zu kritischem Bewusstsein, zu einem eigenen aufgeklärten Urteilsvermögen.
Wir brauchen, zum zweiten, auch den Zugang zum Neuen. Gerade Sie haben - ich habe es angedeutet - die Förderung des Neuen, die Entdeckung dessen, was sich noch nicht "durchgesetzt" hat, wie man sagt, energisch betrieben. Es ist wichtig für die "Produzenten", aber auch für das Publikum, dass Neues entstehen kann.
Das Neue, das trägt und ( vielleicht ) bleiben wird, die Avantgarde, die wirklich zukunftsweisend ist: die sind gewiss nicht einfach zu finden. Was ist Avantgarde heute, in einer beschleunigten Zeit, die sich selber die Vorhut, die Avantgarde zu sein scheint? Was bedeutet das kritisch Neue, das Unerhörte in einer Zeit der Beliebigkeit? Ich vermute, dass das wirklich Neue, wie immer, die Gegenwart in Frage stellen wird. Ich bin mir fast sicher, dass das wirklich Neue nicht darin besteht, die Beliebigkeit der Gegenwart durch Kunst noch einmal zu verdoppeln.
Vielleicht wird das Neue etwas zu tun haben
Das sind natürlich nur Vermutungen. Eines scheint mir aber klar zu sein: das Neue von heute und morgen, das Sie entdecken, auszeichnen oder fördern und für das Sie ein Publikum suchen werden, wird eine ganz andere Gestalt haben als das Neue von Gestern. Es wird uns überraschen.
V. Wir brauchen einen Zugang zum Erbe, wir brauchen einen Zugang zum Neuen und wir brauchen, drittens, einen Zugang zu Fremdem.
Wir sind oft "befremdet" durch Kunst. Entweder durch ihre Vollkommenheit oder durch die neue, geniale Sicht auf die Dinge und die Menschen, manchmal durch ihre Transzendenz, in der sie auch "das ganz Andere" aufscheinen lässt, manchmal dadurch, dass sie sich entzieht und mit unseren Hör- Lese- oder Sehgewohnheiten bricht und uns auf diese Weise verstört.
Die Begegnung mit der Kunst ist also schon inmitten unseres eigenen "Kulturkreises" - damit meine ich nicht nur den der deutschen Wirtschaft - eine Vorschule zur Begegnung mit dem anderen, dem Fremden. Durch Kunst lernen wir, uns umzustellen auf mögliche andere Sichtweisen, mögliche andere Perspektiven, mögliche andere Einstellungen.
Einerseits gilt also: Durch Kunst und Kultur finden wir zu unserer Identität und durch sie verstehen wir uns selber besser. Andererseits aber haben Kunst und Kultur auch immer mit dem Fremden, dem Anderen zu tun. Kultur, die nur bei sich selber bleibt, verödet und wird steril. Kultur ist immer schon Begegnung, Dialog, Austausch, wechselseitige Befruchtung, Vermischung gewesen.
In der Begegnung mit anderen, ja auch mit dem zunächst ganz Fremden, werden wir auch neu bestimmen können, wer wir selber sind. Wir werden vielleicht auch neu entdecken, wer wir sein möchten und was wir ändern müssen. Wir werden entdecken, was an uns selber gut und was veränderungsbedürftig ist. Das gilt für die einfache Begegnung von Mensch zu Mensch, das gilt auch für den Dialog der Kulturen.
Wir brauchen einen Zugang zum anderen, der über Herz und Verstand führt, über Kunst und Musik, über Literatur und Theater. Ich glaube, dass es hier sehr viele Möglichkeiten gibt, die bei weitem noch nicht alle genutzt werden und ich glaube, dass das eine der lohnendsten Aufgaben von kulturpolitischem oder mäzenatischem Engagement ist.
Ich habe von drei Zugängen gesprochen, die die Kunst eröffnet, dem Zugang zum Erbe, zum Neuen und zum Fremden - notwendigerweise ein wenig allgemein. Das Erbe ist groß, doch es lastet schwer auf den Haushalten. Das Neue meldet sich, doch es ist oft schwer vermittelbar. Und die anderen Kulturen sind da, aber man schafft es noch nicht genug, zueinander zu kommen.
Gerade darum möchte ich Sie alle im Kulturkreis der deutschen Wirtschaft ermutigen, Ihre Arbeit weiterzumachen und Ihr Engagement fortzuführen. Es ist wichtig für uns alle.
VI. Ich habe vielleicht etwas zu sehr darauf hingewiesen, wozu die Begegnung mit der Kunstdienenkann, wozu sie gut ist, wozu sie nützt, bis hin zum Dialog der Kulturen, der in diesen Zeiten und noch für lange ganz oben auf der Tagesordnung steht. Das ist natürlich längst nicht alles. Das ist auch für viele längst nicht das wichtigste in der Begegnung mit der Kunst.
Wir sehen einen Film, wir besuchen eine Ausstellung und wir lesen ein Buch, weil es uns einfach interessiert, nicht weil wir hinterher bessere Menschen werden wollen oder weil das Buch die Welt verbessert. Wir sehen einen Moment von uns ab, wir sind einen Moment nicht bei unserem Alltag. Wir gönnen uns das andere, das Festliche, das Nicht-alltägliche.
Wir gönnen uns den Luxus, das nicht unbedingt notwendige, das nicht auf den ersten Blick nützliche zu tun oder zuzulassen.
Ja, es ist ein Luxus, das nicht unbedingt notwendige zu tun.
Es ist ein Luxus, etwas zu hören, zu sehen, zu lesen, das zum reinen Funktionieren unseres Lebens nichts beiträgt.
Dieser Luxus aber ist es, der uns zu wirklichen Menschen macht. Und an solchem Luxus sollten möglichst alle, die das möchten, teilhaben können.
Herzlichen Dank.