Redner(in): Johannes Rau
Datum: 7. November 2001

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/11/20011107_Rede.html


I. Seit einiger Zeit gibt es keine bildungspolitische Stellungnahme, die ohne den Begriff "Wissensgesellschaft" auskommt. Ich gestehe: Ich habe damit meine Probleme. Entweder ist der Begriff nichtssagend - über Wissen verfügten auch schon die Neandertaler, als sie mit ihren Faustkeilen hantierten - oder er ist irreführend. Weit verbreitet scheint mit jedenfalls die Vorstellung zu sein, Wissen sei eine Art Super-Benzin, das man nur zu tanken braucht, und schon brumme der Motor. Das stimmt bekanntlich nicht, denn Wissen ohne Urteil ist wie Benzin ohne Schmieröl. Wer viel davon hat, mag fahren können, aber er fährt nicht. Das Getriebe seines Kopfes wird an der nächsten Ecke den Geist aufgeben - im wahrsten Sinne des Wortes.

Richtig ist aber schon: Wir leben in einer Zivilisation, die auf wissenschaftlichem und technischem Wissen beruht. Wer sich in dieser Welt zurechtfinden will, der muss lernen können und lernen wollen, urteilen können und urteilen wollen - ein ganzes Leben lang. Sind wir dafür gerüstet?

II. Deutschland gehört nach wie vor zu den führenden Wissenschaftsnationen. Die OECD hat uns gerade einen überdurchschnittlich guten Bildungsstand bescheinigt. Trotzdem haben wir keinen Anlass zu satter Selbstzufriedenheit. Bildungspolitik muss wieder einen deutlich höheren Stellenwert bekommen, und wir müssen uns gezielt auf die Punkte konzentrieren, an denen wirklich etwas getan werden muss.

Der Weg dorthin führt nicht über Alarmismus, sondern über das sprichwörtlich gewordene Bohren dicker Bretter. Die spezifischen Defizite, die es im deutschen Bildungswesen gibt - und es gibt einige davon - sind nicht erst gestern entstanden. Sie sind auch nicht erst vor zwanzig oder dreißig Jahren entstanden, sondern sie reichen häufig weit in die deutsche Bildungsgeschichte zurück. Es sind also Hartholzbretter, ziemlich dick und nach allen Regeln der Kunst mehrfach verleimt. Das bürgt für geringe Flexibilität. Für solche Bretter braucht man ziemlich gute Bohrer und einen sehr langen Atem, damit einem nicht die Puste ausgeht.

Eines dieser Bretter ist der zu geringe Stellenwert, den die Wissensvermittlung in unserem Bildungssystem besitzt. Darüber will ich heute reden.

III. Die Rede von der Wissensgesellschaft bezieht sich meist auf die Universitäten und dort nicht selten auf die Forschung, also auf die Produktion von Wissen. Es kann überhaupt keine Frage sein, dass eine lebendige und innovative Forschung in den Natur- und Geisteswissenschaften das Herz jedes modernen Bildungssystems ist und auch künftig in Takt bleiben wird. Aber ein Organismus kann nur funktionieren, wenn nicht nur das Herz, sondern auch die Blutgefäße frei sind.

So ist es auch mit der Bildung: Wenn das Wissen, das in der Forschung produziert wird, nicht an die Stellen der Gesellschaft gelangt, an die es gelangen soll, dann wird der Organismus irgendwann krank. Wenn der Austausch zwischen dem zirkulierenden Wissen und dem Gewebe des gesellschaftlichen Lebens nicht funktioniert, dann bricht der Kreislauf zusammen, und auch das Herz hört früher oder später auf zu schlagen.

Das Adernsystem, durch das in unserer Gesellschaft Bildung und Wissen fließen, ist vielfältig und verästelt. Hochschulen, Schulen und Volkshochschulen, aber auch die Betriebe, die ihren Beitrag zum dualen System leisten, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Nun lässt sich aber durchgängig beobachten, dass wir der Vermittlung des Wissens nicht die Aufmerksamkeit schenken, die ihr gebührt. Wir päppeln das Herz und lassen die Adern verkalken.

Lassen Sie mich diese Situation mit einigen Schlaglichtern beleuchten:

Und schließlich:

Das Grundmuster ist überall dasselbe: Vernachlässigt werden diejenigen Phasen und Bereiche unseres Bildungswesens, in denen die Vermittlung des Wissens sich nicht gewissermaßen von selbst ergibt. Gespart wird dort, wo Lehre oder Lehrer besondere Aufmerksamkeit und spezielle Ressourcen brauchen.

IV. Wenn eines richtig ist an der Rede von der Wissensgesellschaft, dann sicher das, dass künftig immer mehr Menschen an Wissen teilhaben wollen und müssen. Das ersetzt gewiss nicht die Produktion von neuem Wissen. Ganz falsch wäre es aber auch, Forschung gegen Bildung auszuspielen und in maroden Klassenzimmern von der Faszination der Forschung zu predigen. Die Vermittlung von Wissen muss endlich den Stellenwert bekommen, der ihr gebührt. Das wird Geld kosten! Zur Stärkung der Wissensvermittlung gehört auch, dass der Weiterbildung und den Institutionen, die sie tragen, das ihnen zustehende Gewicht gegeben wird.

In der viel geschmähten und selten gelesenen Verfassung von Weimar stand zu lesen: "Das Volksbildungswesen einschließlich der Volkshochschulen soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden." Das war vorbildlich und ist heute aktueller denn je. Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft ist kontinuierliche Weiterbildung wahrlich kein Luxus, sondern eine drängende Notwendigkeit.

Wichtig für die künftige Entwicklung der Weiterbildung scheint mir zunächst zu sein, dass wir einen Fehler vermeiden, an dem unser Bildungswesen bis heute krankt: Noch immer orientieren wir uns zu stark am staatlich definierten und überwachten traditionellen System der Bildungsberechtigungen - trotz aller Bemühungen, das zu ändern. Das führt dazu, dass unser Bildungssystem an vielen Stellen viel zu undurchlässig ist. Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht entlang der etablierten Trampelpfade der Bildungslaufbahnen bewegen wollen oder können, haben es schwer. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Bildungswegen ist nach wie vor zu mühsam und die Vernetzung zu gering.

Die wechselseitige Abschottung der Bildungsinstitutionen ist ein allgemeines Problem, in der Weiterbildung ist sie aber besonders schädlich. Die Weiterbildung lebt schließlich genau davon:

Diese hohe Flexibilität lässt sich nur erreichen, wenn alle, die etwas zur Weiterbildung beitragen können, zusammenarbeiten, wenn sie Netzwerke bilden, die flexibel und fest zugleich sind.

V. Solche Netzwerke brauchen aber feste Verankerungen, Pfeiler, auf denen sie ruhen können, die ihnen Stabilität und Verlässlichkeit geben. Wir haben diese Pfeiler: Es sind die tausend Volkshochschulen in unserem Land - mehr als in jedem anderen Land Europas.

Da fragen nun manche: Welches Wissen erwirbt man denn dort schon? Spötter, die mit Antworten immer schnell zur Hand sind, sagen: Da lernst Du Häkeln für Linkshänder. Sie alle kennen dieses verzerrte Bild von unseren Volkshochschulen. Es ist ein Vorurteil, es ist ungerecht und es stimmt nicht. Gerade, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der lebenslanges Lernen so wichtig ist, liegt mir besonders viel daran, dass wir entschieden gegen dieses falsche Bild angehen, das in den Köpfen vieler herumspukt.

Die Volkshochschulen haben eine Leistungspalette, deren Schwerpunkte gerade in unserer heutigen Situation noch aktuell sind. Sprachkurse, die elektronische Datenverarbeitung und die menschliche Gesundheit stehen fast überall auf den Programmen. Es gibt professionelle Firmenkurse, in manchen Ländern gibt es zum Beispiel auch Lehrerfortbildung im Auftrag der Landesregierung. Dabei muss die Volkshochschule einen schwierigen Spagat leisten: Einerseits ist sie eine Bildungseinrichtung, die allen Gruppen der Bevölkerung den Zugang zum Wissen ermöglichen soll. Andererseits soll sie mit dem spezialisierten Angebot von kommerziellen Instituten konkurrieren können, die auf eine kleine und zahlungskräftige Klientel zielen.

Ich glaube nicht, dass es das Ziel der Volkshochschule sein sollte, sich zur Eier legenden Wollmilchsau zu entwickeln. Ich glaube aber wohl, dass in der schwierigen Aufgabe, Hochschule für alle sein zu sollen, ihre besondere Chance liegt. Natürlich muss die Volkshochschule ein Angebot bereithalten, das jenen zugute kommt, die nicht über privilegierte Zugänge zu Wissen verfügen. Es ist aber ungerecht, dass gerade dieser Bildungsanspruch der Volkshochschule dazu geführt hat, sie als ein Bildungsinstitut für Arme zu diskreditieren - einmal ganz abgesehen davon, dass ich nicht erkennen kann, was daran verachtenswert wäre.

Neben den Angeboten für die so genannten Normalverbraucher findet sich in den Programmen der Volkshochschulen aber in der Tat noch eine ganz andere Klientel angesprochen. Zurecht, wie ich meine. Für Spezialisten und Profis gibt es Angebote, die mit jenen der kommerziellen Institute konkurrieren können. Ich weiß, dass gerade dieser Zweig der Volkshochschularbeit gelegentlich kritisiert wird. Aber ich möchte fragen: Muss nicht eine VHS, die ihrem Namen Ehre macht, auch für alle im Volk etwas bieten können?

Das breite Spektrum des bildungspolitischen Angebotes der Volkshochschulen hilft zu verhindern, dass die Wissensgesellschaft eine gespaltene Gesellschaft wird. Die Zahlen sprechen für sich: Allein in Nordrhein-Westfalen haben im Jahr 1999 fast zwei Millionen Menschen - und das sind mehr als zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger - an einem der über 90.000 Kurse der Volkshochschulen teilgenommen. In ganz Deutschland haben die Volkshochschulen im letzten Jahr in mehr als 500.000 Kursen fünfzehn Millionen Unterrichtsstunden angeboten.

VI. Auch Einrichtungen, die so leichtfüßig und reaktionsschnell wie die Volkshochschulen sind, brauchen Geld.

Gerade beim Thema Weiterbildung gibt es manche, die meinen, dafür müsse jeder Bürger selber aufkommen, denn schließlich diene die Weiterbildung ja immer einem individuellen und nicht einem allgemeinen Interesse. Manche Träger von Volkshochschulen erwarten wohl auch, dass die Volkshochschulen mit ihren Angeboten die öffentlichen Haushalte entlasten. Das ist falsch.

Natürlich wird Weiterbildung, so wie sie von den Volkshochschulen und von anderen Trägern angeboten wird, immer von einzelnen Menschen nachgefragt. Man kann - das stimmt auch - von jemanden einen eigenen materiellen Beitrag erwarten, der einem persönlichen Bedürfnis, einem Interesse oder einer Neigung nachgehen möchte. Es gibt wohl einen Anspruch darauf, dass jeder in der Schule schwimmen lernt. Aber es gibt keinen Anspruch darauf, dass jeder, nachdem er einmal die Schule verlassen hat, immer gratis die Badehose dazu bekommt, die er braucht und die ihm gefällt.

All das heißt aber nicht, dass Länder und Gemeinden und übrigens auch die Unternehmen nicht ihrerseits ein massives Interesse daran haben, dass die Weiterbildung und hier insbesondere die Volkshochschulen gut funktionieren. Sie müssen auch ein Interesse daran haben, dass sie das in Zukunft noch besser tun, als das bereits heute der Fall ist.

Weiterbildung darf in unserer Gesellschaft kein Luxus werden, den sich nur ein Teil leisten kann. Das würde am ehesten jene treffen, die am meisten auf Weiterbildung angewiesen sind. Weiterbildung muss für jeden bezahlbar sein. Daher sind die Volkshochschulen die entscheidenden Knotenpunkte in den Netzwerken der Weiterbildung, denn sie machen nicht nur qualitativ hochwertige, sondern auch bezahlbare Angebote.

Das können sie aber nur, wenn der Staat sich nicht zurückzieht. Durchschnittlich vierzig Prozent des Jahresetats von 1,8 Milliarden Mark der deutschen Volkshochschulen bringen bereits heute die Kursteilnehmer durch ihre Gebühren auf. Ich finde, dass das eine ganze Menge ist. In manchen Ländern liegt dieser Anteil noch deutlich höher, zum Teil über fünfzig Prozent. Er soll und darf nicht noch weiter zunehmen, auch wenn die öffentlichen Hände sparen müssen. Die Volkshochschulen und ihre Vermittlungsaufgabe müssen uns etwas wert sein, auch in Geld und mehr als heute.

Geld ist freilich nicht alles. Gerade die Volkshochschulen leben auch von der Begeisterung ihrer Dozenten und Kursteilnehmer, die nicht nur ein vorgegebenes Programm abarbeiten, sondern die sich auch mit dem Herzen engagieren.

Wir haben vielfachen Grund dafür, ihnen zu danken. Dafür zu danken,

Ohne dies menschliche Engagement wären unsere Volkshochschulen nicht denkbar. Meine Bitte und meine Hoffnung ist es, dass sie nicht nachlassen, daran mitzuarbeiten, dass Bildung allen zur Verfügung steht: Überall, lebenslang und nah am Menschen.