Redner(in): Johannes Rau
Datum: 7. März 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/03/20010307_Rede.html
Meine Frau und ich haben mit großer Freude die Einladung angenommen, gemeinsam mit Ihrer Majestät der Königin die Ausstellung "Spirit of an Age" in der National Gallery zu eröffnen. Und wir freuen uns darüber, jetzt mit Ihnen allen zusammen sein zu können.
Bei unserem Rundgang durch die Ausstellung haben wir alle heute wunderbare Bilder gesehen. Diese eindringlichen und ausdrucksstarken Gemälde gehören zu den bedeutenden Werken der europäischen Kunstgeschichte. Sie stammen aus mehreren künstlerischen Epochen - von der Romantik bis hin zum Expressionismus - und spiegeln doch eine Zeit, die voneinergroßen Veränderung geprägt wurde: Der industriellen Revolution in Europa. Mancher wendet vielleicht ein, dass das gerade in den Werken der deutschen Romantik nicht sichtbar werde. Und doch stehen gerade sie für diesen Umbruch - in ihrer tiefen, nicht selten melancholischen Sehnsucht nach unberührter Natur, nach Überschaubarkeit und nach dem Glück im Stillen. Der Titel der Ausstellung ist daher, meine ich, besonders treffend gewählt: "The Spirit of an Age".
Mehr als ein Jahrhundert später erleben wir einen neuen, grundlegenden Wandel. Die Globalisierung, die immer mehr Lebensbereiche erfasst, scheint keine Grenzen mehr zu kennen. In ihren weitreichenden Auswirkungen wird sie gelegentlich mit der industriellen Revolution oder auch dem Zeitalter der Entdeckungen verglichen. Eines gilt heute wie damals: Wenn den Menschen Veränderungen abverlangt werden, wenn sie bereit sein sollen, sich auf ganz Neues einzulassen, dann ist ihr Bedürfnis nach überschaubaren persönlichen Lebensverhältnissen besonders groß, nach lokaler und regionaler Bindung, nach Identität, nach Heimat und Geborgenheit.
In unseren beiden Ländern stellt sich deshalb in gleicher Weise die Frage: Was ist der "Spirit of our Age?" Wie lässt sich das vereinbaren: Einerseits dieses tief verwurzelte Bedürfnis der Menschen nach Identität, nach regionaler und nationaler Verankerung und andererseits die Gesetzmäßigkeit der neuen Zeit? Wie werden wir mit dieser wachsenden Spannung fertig?
Eines ist sicher: Wir dürfen die kulturellen Unterschiede, die zwischen Regionen und Staaten existieren, nicht verleugnen, wir müssen Traditionen achten und dürfen Besonderheiten nicht abschleifen. Dann können wir uns - und damit meine ich: Briten und Deutsche und unsere Partner in Europa - erfolgreich mit der Tatsache auseinander setzen, dass es auf die zentralen Herausforderungen der Welt von heute und von morgen keine rein nationalen Antworten mehr gibt. Stellen wir uns diesen Herausforderungen daher gemeinsam, stellen wir uns ihnen mit Selbstvertrauen und Zuversicht!
Mit der europäischen Integration haben wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen historischen Durchbruch zum gemeinsamen Handeln geschafft. Wenn wir an die 50er Jahre zurückdenken, dann wird uns klar, dass wir alle, alle europäischen Partner, einen weiten Weg gegangen sind. Noch aber haben wir nicht die Köpfe und Herzen aller Menschen erreicht. Das können wir aber schaffen, wenn es uns gelingt, die großen europäischen Aufgaben, vor denen wir stehen - die Erweiterung und die Vertiefung der europäischen Union - überzeugend zu lösen.
Wir müssen vor allem die jungen Menschen gewinnen. Ich freue mich daher ganz besonders darüber, dass heute ein Fonds ins Leben gerufen worden ist, der den Schüler- und Lehreraustausch zwischen Großbritannien und Deutschland fördern soll. Hier gibt es wirklich erheblichen Nachholbedarf. Mit Hilfe des Fonds sollen Sprachkenntnisse verbessert werden, Schüler und Lehrer sollen sich mit der anderen Kultur und mit den Nachbarn vertraut machen. In der Sprache des modernen Börsengeschehens: Diese Investition in die gemeinsame deutsch-britische Zukunft verspricht eine hohe Rendite.
Besonders freue ich mich auch darüber, dass der Fonds auf gesellschaftliche Anstöße zurückgeht und dass er nicht von den Regierungen, nicht "von oben", eingerichtet worden ist. Allen, die mithelfen, dieses wichtige und vielversprechende Vorhaben zu verwirklichen, danke ich herzlich.