Redner(in): Roman Herzog
Datum: 31. Mai 1995
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/05/19950531_Rede.html
Im Mittelalter sagte man: "Stadtluft macht frei!" Dieser Satz hielt sich lange. Er klingt heute wie eine Liebeserklärung an die Vielfalt, die Lebendigkeit, die Offenheit der Städte. Er spiegelte die Sehnsucht nach dem "Ungebundenen", nach Individualität. Er bedeutete ursprünglich Freiwerden von Leibeigenschaft, später ganz allgemein Freisein von Zwängen, ja selbst von falschen Konventionen. Die Stadt war das Sinnbild des pulsierenden Lebens, war Hort der Liberalität. In ihr galt und sollte weitergelten: Leben und Lebenlassen.
Aber ist das noch heute die Wirklichkeit unserer Städte? Ich will kein Psychogramm entwerfen. Natürlich ist es in unseren Sommersmoggeplagten Städten am wenigsten die Luft, nach der man sich sehnt. Aber die Ballungszentren scheinen auch über diesen ökologischen Effekt hinaus zu Zonen kumulierter Probleme geworden zu sein. Sie tragen die finanzielle Last der Sozialhilfeempfänger. Die Langzeitarbeitslosigkeit entwickelt sich in den Gemeinden zu einem sozialen Problem. Denn wer sich nicht mehr gebraucht fühlt, verliert leicht jeden Halt. Es entstehen soziale Randzonen, mit denen wir nicht gerechnet haben. Neue Formen der Kriminalität tauchen auf. Immer mehr Menschen fühlen sich nicht mehr sicher in ihren Städten. Es fehlen Kindergartenplätze. Wo Mieten nur noch für Doppelverdiener erschwinglich sind, ist das ein besonders unerträglicher Zustand. Es geht nicht, daß ein Polizeimeister mit zwei Kindern seine Miete nur noch mit Wohngeld finanzieren kann. Weil neue Deponien kaum noch zu finden sind, wissen die Kommunen nicht mehr wohin mit ihrem Müll. Nicht nur die Einkommensschwachen beschweren sich über die steigenden Gebühren der Gemeinden. Es scheint, als könnten wir die Probleme unserer Welt wie durch ein Brennglas im urbanen Mikrokosmos erleben.
Freilich: Auch früher waren die Städte in Wahrheit nie beschauliche Orte der Harmonie, sondern als Kreuzungspunkte von Waren und Nachrichten, Begegnungsstätten der Menschen und Zentren geistlicher und weltlicher Macht stets auch Austragungsort vieler Konflikte. Und sie waren auch nicht nur Idyllen der Freiheit. Die enge Nachbarschaft vieler Menschen führte auch zu Reibereien, zu Aufpassereien und sozialem Druck. Die Bilanz über die Jahrhunderte hinweg ist also nicht so negativ, wie wir uns das heute oft selbst einreden.
Daneben hat sich die Vielfalt unserer Stämme stets in der Vielfalt unserer Städte gespiegelt. Städte haben Gesichter, jede ihr eigenes. Vielleicht liegt es daran, daß sie nicht am Reißbrett geplant, nicht nach Gesichtspunkten ökonomischer Effizienz strukturiert wurden. Sie haben sich ganz langsam und organisch aus ihrem Kern herausgebildet, um den sie wuchsen wie die Jahresringe um einen Baumstamm. Natürlich hat es Zerstörungen durch Krieg und auch durch Modernisierungswut gegeben. Sie haben den Gesichtern der Städte Wunden geschlagen. Sie haben Städte entstellt, aber nicht bis zur Unkenntlichkeit.
Hoffentlich noch rechtzeitig haben wir erkannt, daß unsere Städte den Bürgern nur dann Heimat sind, wenn sie charakteristisch bleiben. Hamburg ist gottlob nicht wie Heidelberg, Quedlinburg nicht wie Würzburg, Weimar nicht wie Speyer. Unsere Städte wirken nicht wie Filialbetriebe eines nach "Corporate Identity" strebenden nationalen "Volksheims", ihr Wert liegt in ihren jeweiligen Besonderheiten, die sie für die Bürger lebenswert machen.
Die klassischen städtischen Funktionen werden mit "Wohnen, Arbeiten, Erholung, Verkehr und Versorgung" umschrieben. Man muß hinzufügen: Diese Funktionen dürfen nicht nur technisch erfüllt werden. Denn wohnen und arbeiten wollen wir nicht irgendwie, sondern so, daß wir uns wohlfühlen.
Tatsächlich stoßen wir mit diesen Wünschen aber immer wieder an Grenzen. Viele erleben ihre städtische Umwelt anders: In Wohnsilos und Betonburgen fühlen sie sich durch soziale Entwicklungen bedrängt, durch Kriminalität bedroht, oft durch Kommerz gestört. Die Frage ist also, wie Wunsch und Wirklichkeit näher zueinander gebracht werden können.
Für die Städte ist das eine besondere Herausforderung. Denn nicht jedem Bürger gelingt es, sich in der "freien Stadtluft" zurechtzufinden. Was für den einen Chance bedeutet, überfordert den anderen. Was für den einen Ausleben der Individualität, ist für den anderen erzwungene Vereinzelung. Tatsache ist: In den großen Städten leben immer mehr Menschen allein. Positiv gewendet kann man sagen, daß immer mehr Menschen ihr Leben selbständig führen. Aber negativ betrachtet heißt es auch: Immer öfter wird aus dem Alleinleben auch ein Alleinbleiben. Einsamkeit.
In den Städten gibt es immer weniger Kinder, sie leben mit weniger Geschwistern zusammen, sie haben weniger Spielkameraden, sie haben ein weniger kindergeeignetes Umfeld. Und es gibt mehr alte Menschen, mehr Menschen ohne soziale Kontakte, mehr Pflegebedürftige ohne Angehörige. Wo früher Nachbarschaft und Familie den Alltag organisierten, tritt heute die Nachfrage nach öffentlichen Diensten. Nach Jugendfreizeitheimen und Sozialstationen, nach Altentagesstätten und Pflegeheimen.
Professionelle Dienstleistungen werden wichtiger, auch wenn wir das nicht immer für die beste der denkbaren Lösungen halten. Für viele gibt es gar keine Alternative.
Unsere persönliche "Befindlichkeit" hat also viel zu tun mit der "Befindlichkeit" der Städte. Noch haben unsere Städte ihr inneres Gleichgewicht nicht verloren. Noch sind Slums und Elendsquartiere Bilder aus einer "anderen Welt". Noch sind Stadtteile als brisante Mischung aus Zerstörung und Kriminalität Bilder aus dem Fernsehen. Aber niemand garantiert uns, daß es so bleibt. Ansätze dazu gibt es auch bei uns.
Menschen wollen Überschaubarkeit und Wiedererkennbarkeit. In herkömmlichen Großstädten kann es sie noch geben, in Mega-Städten wahrscheinlich nicht mehr. Darauf sollten wir unsere Planungen einstellen.
Trotz ihrer wachsenden Probleme sind unsere Städte und Gemeinden noch immer Schulen der Demokratie. Nirgendwo sonst sind politische Entscheidungen direkter und erfahrbarer, nirgendwo sonst greifen sie unmittelbarer in das persönliche Lebensumfeld ein. Sie sind näher am Bürger als Landesverwaltungen, Bund oder Brüssel. Deshalb tun wir gut daran, den Kommunen das Recht der Selbstverwaltung zu erhalten.
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wir sollten auch allen Versuchungen widerstehen, das Recht auf Selbstverwaltung faktisch auszuhöhlen. Diese Gefahr besteht. Vieles, was die Kommune betrifft, wird durch den Staat gesetzgeberisch und planerisch geregelt, vom berühmt-berüchtigten "goldenen Zügel" ganz zu schweigen. Handelnde und Betroffene sind also nicht mehr deckungsgleich.
Wenn ich das mit einem kritischen Unterton sage, so bedeutet das nicht, daß ich eine immer größere Finanzverantwortung des Bundes als die Lösung aller Probleme der Gemeinden betrachte. Es heißt andererseits auch nicht, daß ich einem Verzicht auf die sachlich gebotene Rückverlagerung gestalterischer Zuständigkeiten auf die kleinere Einheit das Wort rede. Nur wenn wir uns einmal zu dieser Rückverlagerung entschlossen haben sollten, müssen wir auch die entsprechenden Konsequenzen für die Finanzverfassung ziehen. Eine alte Juristenweisheit besagt: "Wer bestellt, bezahlt".
Ich brauche nur an die Finanzierung der Sozialhilfe zu erinnern, um deutlich zu machen, daß wir uns etwas einfallen lassen müssen. Um alle Leistungen erbringen zu können, die wir von ihnen erwarten, sind die Gemeinden auf ein solides finanzielles Fundament angewiesen. Das beste Fundament, das ich mir vorstellen kann, ruht auf drei Säulen: Die erste ist eine Finanzzuweisung, die der Zuweisung von Aufgaben entsprechen und vor allem verläßlich sein muß. Kommunale Finanzpolitik nach wechselnden Mehrheiten oder nach Kassenlage allein geht nicht. Die zweite Säule sind die eigenen Einnahmen der Gemeinden aus kommunalen Steuern sowie aus öffentlichen oder privaten Dienstleistungen von Wasser, über das Stadtgas bis zum Müll. Dabei ist das einfallslose Hochdrehen der öffentlichen Gebührenschraube sicherlich auch nicht der beste Weg. Unternehmerisches Denken muß nicht unbedingt exklusives Privileg privater Unternehmen sein. Wirtschaftliche Effizienzgewinne, die gleichzeitig die Einnahmen aus Dienstleistungen erhöhen und die Preise für die Verbraucher senken, sind auch in Gemeinden denkbar. Die dritte Säule bezieht ihre Stärke aus schlichter Logik. Das Schliessen von Deckungslücken in den Gemeindehaushalten ist nicht nur auf der Einnahmeseite, sondern auch auf der Ausgabenseite möglich. Man kann es auch noch einfacher mit einer guten deutschen Tugend ausdrücken: "Sparsamkeit".
Ich habe natürlich keine Patentrezepte für die Entwicklung unserer Städte. Ich will mich daher auf einige Grundlinien beschränken: Erstens - und wenig originell: Wir müssen der Subsidiarität wieder zu ihrem Recht verhelfen. Der Staat und andere größere Träger öffentlicher Verwaltung dürfen nur in dem Maße Zuständigkeiten in Anspruch nehmen, wie kleinere Einheiten - Personen, Familien, nachrangige Träger und eben auch die Gemeinden - zur Erfüllung der Aufgabe nicht in der Lage sind.
Das entspricht auch unserem demokratischen Grundgefühl des Aufbaus von unten nach oben. Die "Vorfahrt der kleinen Einheiten" ist sowohl unter dem Gesichtspunkt der Effizienz als auch unter dem der Finanzierbarkeit dringlich.
Auch unsere neuere Diskussion über die "Bürgergesellschaft" ist eine Rückbesinnung darauf, daß sich der Bürger umso solidarischer verhält und für sein Gemeinwesen engagiert, je unmittelbarer sein persönlicher Verantwortungsbereich betroffen ist. Solidarität mit Familienangehörigen ist selbstverständlich, mit Freunden immerhin noch wahrscheinlich, mit Nachbarn häufig - aber mit Institutionen höchst selten. Je anonymer die Beziehung, desto unwahrscheinlicher das Bürgerengagement. Seine Stadt ist dem Bürger näher als der Staat. Wir sollten diese Nähe nutzen, um sein Engagement herauszufordern.
Zweitens: Das Bekenntnis zur Subsidiarität ist nicht nur eine Verbeugung vor der Selbstverwaltung, sondern auch Aufforderung zum Nachdenken über die Aufgabenverteilung zwischen öffentlicher Hand und Privaten. Dieser Gedanke hat verschiedene Facetten. Es geht nicht nur darum, was angesichts knapper Kassen in die Eigenverantwortung des einzelnen zurückverlagert werden muß. Diese Diskussion darf ohnehin nicht rein fiskalisch geführt werden, sondern sie muß auch im Auge behalten, welche Freiräume sich der Bürger wieder erschließen sollte.
Ich denke darüber hinaus an die Optimierung des Managements von Aufgaben, die wir bislang als öffentliche verstehen. Natürlich ist eine Gemeinde kein "Profit-Center". Aber sie ist doch ihren Bürgern schuldig, über die Wirtschaftlichkeit ihres Handelns Rechenschaft abzulegen. Sie muß über die Privatisierung bisheriger öffentlicher Aufgaben nachdenken, die partnerschaftliche Kooperation zwischen öffentlicher Hand und privaten Anbietern erproben und ihre Verwaltungsstrukturen optimieren. Wo anders als in den Kommunen können und müssen solche Modelle getestet werden?
Schauen wir dabei ruhig über die Grenzen unseres Landes hinaus! In den USA gibt es inzwischen Städte, die nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen verwaltet werden. In Skandinavien gibt es Versuche, Gemeinden von bestimmten Vorschriften und Auflagen freizustellen. In den Niederlanden diskutiert und praktiziert man Modelle einer "kundenorientierten Verwaltung". In Neuseeland erprobt man ein "Agency-Konzept" mit einer Teilverselbständigung öffentlicher Aufgaben.
Mir ist bewußt, daß jedes dieser Modelle unter den spezifischen Bedingungen des jeweiligen Landes entwickelt wurde, also auf uns nicht ohne weiteres übertragbar ist. Aber ich werbe dafür, daß wir uns diesen Erfahrungen anderer Staaten öffnen und experimentierfreudiger werden.
Denn unsere Gesellschaft wandelt sich und mit ihr die Anforderungen an das Gemeinwesen. Und wir neigen zu sehr dazu, in der öffentlichen Verwaltung Überkommenes als Gebotenes zu verstehen.
Drittens: Ich könnte mir mehr Bürgerbeteiligung vorstellen. Ich will kein demokratietheoretisches Experimentierfeld im Stil der 68er Bewegung, sondern nur ganz pragmatisch meine Erfahrung zu Protokoll geben: Wir erleben Tag für Tag, daß die Bürger sehr aktiv werden, wenn es um ihre unmittelbaren Interessen geht, und die Vermutung ist falsch, daß es diese Bereitschaft nur beim Anti, nur beim Verhindern gibt. Die Selbsthilfebewegung ist der schlagende Beweis: Menschen stellen gern anderen ihre Erfahrungen zur Verfügung. Denn es ist nicht nur Last, es ist auch ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden.
Sollten wir nicht diese überall vorhandene Bereitschaft zum Mittun auch dort nutzen, wo es um das Gemeinwesen insgesamt geht? Ist mehr Partizipation - beim Mitentscheiden, vor allem aber beim Mitarbeiten - nicht auch ein Schlüssel zu größerem Engagement?
Viertens: Ich appelliere an die Kommunalpolitiker, nicht mehr allen Forderungen nach mehr Ausgaben und verbesserten öffentlichen Leistungen nachzugeben. Das mag populär scheinen und in den Kommunen von manchem Mandatsträger zum Überlebensprinzip gemacht werden. Aber viel zu selten wird getestet, ob es nicht gelegentlich noch populärer wäre, Wünschen zu widerstehen. Bei der hohen Steuer- und Abgabenbelastung ist es doch unmittelbar verständlich, daß die Bürger ein elementares Interesse haben, Ausgaben in Schach und Proportion zu halten. Schließlich müssen sie die Mehrbelastungen ja doch selbst aufbringen.
Lassen Sie mich einen weiteren Gedanken anfügen: So ungern wir Steuern oder Gebühren zahlen, so bereit sind wir doch offenbar, freiwillig etwas für gute Zwecke oder Projekte abzuzweigen. Natürlich kann und will niemand Steuern durch einen freiwilligen "Zehnten" ersetzen. Aber tagtäglich erweist sich, daß die Deutschen ein spendenfreudiges Volk sind. Warum sollten wir nicht öfter freiwillige Leistungen erbitten?
Mäzenatentum muß nicht das Privileg von Millionären sein! Gibt es nicht auch die kleinen Mäzene, die für konkrete Aufgaben einen Beitrag zu leisten bereit sind? Eine Parkbank zu finanzieren. Für die Ausstattung eines Kindergartens zu spenden. Und ist es illegitim, wenn ein privater Sponsor seinen Beitrag in der Erwartung leistet, daß die Freigiebigkeit sein Ansehen fördert? Mir soll es recht sein, wenn die Opernkarte den Hinweis auf einen Autokonzern enthält, wenn sie dafür vom Kämmerer 20,- DM weniger Zuschuß fordert.
In den neuen Bundesländern gibt es Probleme besonderer Art. Wir sehen sie hier in Magdeburg. In der DDR ist es den Städten verwehrt worden, nach dem Kriege wieder lebendige Orte des Handels und Handwerks zu werden. In den Innenstädten gab es das Notwendige in bescheidener Verpackung. Sie waren nicht persönliche Erlebnisbereiche, sondern allenfalls architektonische Denkmäler ideologischer Vorgaben. In den 16 Grundsätzen zum Städtebau der Regierung der DDR von 1950 hieß es beispielsweise: Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeste an Feiertagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplaners und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt."
Wo der Krieg alte Bausubstanz verschonte, beseitigte allzuoft der Sprengmeister oder die Abrißbirne jede Erinnerung an eine frühere Zeit.
Manchmal waren die großen Phantasien der sozialistischen Planer übrigens gar nicht weit entfernt von denen ihrer westlichen Kollegen. Bis auf wenige prestigeträchtige Einzelbauwerke wurde manches zerstört, etliches verschandelt und vieles schlicht dem Verfall preisgegeben.
Nach der Einheit ergab sich eine kritische Entwicklung. Städte und Gemeinden standen vor der Frage, wie sie mit den Monumenten der sozialistischen Zeit umgehen sollten. Bei anderen war zu entscheiden, ob es sich um erhaltenswerte Denkmäler handelt. Zugleich ging es um eine Neubelebung der Stadtkerne. Es muß jetzt ein für alle erträglicher und an unserer Geschichte gerechtwerdender Mittelweg gefunden werden zwischen Bewahrung erhaltenswerter DDR-Architektur einerseits und der Weiterentwicklung der Städte zu attraktiven lebenswerten Zentren andererseits.
Wir leben in einer Zeit, die ihren Namen noch nicht gefunden hat, auch nicht ihren Stil in der Architektur und im Städtebau. Der Stil des modernen Bauens kann sich noch nicht anders definieren als durch die Vorsilbe ' Post- ' vor Modernismus. Als jemand, der an die Vorteile von Wahrheit und Klarheit glaubt, bin ich dafür, daß die Brüche in unserer Gesellschaft sich durchaus auch in unserer Architektur und in unseren Stadtbildern zeigen sollten.
Selbst auf die Gefahr, es mit allen Dogmatikern und Puristen zu verderben, lassen Sie es mich am Beispiel der Berliner Mitte auf eine Formel bringen: NichtentwederSchloßoderPalast der Republik, sondernetwasSchloß, etwasPalast der Republik und vor allemetwasganz Neues. Dieses Neue sollte die Geschichte nicht verdrängen wollen und doch den Geist der Freiheit und Offenheit zum Ausdruck bringen, in dem unsere Gesellschaft sich täglich neu findet.
Ein besonderes Problem entstand dadurch, daß Investoren nach 1990 in den neuen Bundesländern bevorzugt "auf der grünen Wiese" bauten. Das ging schneller, hier waren die Eigentumsverhältnisse unproblematischer, und es war billiger. Vielerorts hatten die Innenstädte gar keine Chance, sich gegen diese Konkurrenz vor ihrer Tür zu wehren. In den neuen Ländern befinden sich über 50 % der Verkaufsflächen im Außenbereich der Städte, in den alten sind es nur 20 % . Trotz einiger erfreulicher Gegenbeispiele ist die Gefahr nicht zu verkennen, daß in den neuen Bundesländern Innenstädte erst gar nicht mehr zu dem werden, was sie in den alten Ländern noch sind: wirkliche Zentren.
Aber wo es den Verlust der alten Mitte gibt, wo Ortskerne nicht wieder erstehen, werden sie auch als Wohngegend unattraktiv. Heute werden die zentralen Lagen in Ostdeutschland noch annähernd zu 80 % für Wohnzwecke genutzt. Aber ohne die bunte Vielfalt der Schaufenster, ohne Einkaufsmöglichkeiten und Gaststätten wird das nicht so bleiben. Dann entstehen brisante Kumulationen aus sozialen Problemgruppen, die bleiben, und unattraktiven Stadtkernen, die niemanden zum Verweilen - geschweige denn zum Wohnen - einladen. Es gibt in Amerika Beispiele großer Städte, die aus ihrem Kern heraus veröden. Wir müssen verhindern, daß bei uns Ähnliches eintritt. Wir müssen das Interesse der Bürger für ihre Städte wachhalten. Wir müssen die Bereitschaft fördern, erhaltenswerte Substanz auch dann zu restaurieren, wenn dies teurer ist als Neubauten.
Ich frage mich - und ich frage Sie: Brauchen wir wirklich noch mehr Supermärkte und Wohnsilos auf der "grünen Wiese" ? Und wenn ja: Wieviel davon ist wirklich notwendig?
Die Initiative der Einzelhändler etwa zur Wiederbelebung der Innenstädte spricht mir aus dem Herzen. Ich appelliere an alle Stadtplaner, diese Initiative zu unterstützen.
Da ich gerade über die neuen Bundesländer rede: Lassen Sie sich um Gottes Willen nichts über angebliche Verschwendung Ost einreden. Wenn schon Verschwendung, dann müßte darüber in eine allgemeine Debatte eingetreten werden. Aber ich glaube, wenn solche Schlagworte verbreitet werden, dann von Leuten, die in wohlgewärmten Behörden- und Redaktionsstuben sitzen und sich nie den kalten Wind einer Pionier- und Aufbauzeit um die Nase wehen lassen mußten. Sie in den neuen Ländern sind die Gründergeneration unserer Tage. Sie leisten Vorbildliches unter schwierigen Bedingungen.
Noch ein Zweites: Immer wieder höre ich bei meinen Gesprächen mit Vertretern des Mittelstandes aus den östlichen Bundesländern, daß öffentliche Aufträge hier im Osten überproportional an Unternehmen aus dem Westen vergeben werden. Hier müssen Sie aufpassen. Die Ausschreibungsbedingungen müssen so sein, daß ostdeutsche Unternehmer, insbesondere aus dem Mittelstand, auch eine Chance haben, zum Zug zu kommen. Wenn Sie ein Planungsbüro aus den alten Bundesländern mit dem Bau einer kommunalen Einrichtung beauftragen, was oft unvermeidlich ist, darf es doch nicht verwundern, daß dann bei Ausschreibungen zunächst bekannte Unternehmen aus dem Westen berücksichtigt werden. Zu unbekannt sind oft Name und Leistungskraft hiesiger Betriebe. Wohlgemerkt: Ich will nicht die einseitige Bevorzugung ostdeutscher Unternehmen, sondern nur die richtige Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes, nach dem Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muß. Ihre westdeutschen Kollegen kennen sich in diesen Fragen perfekt aus. Allerdings hatten sie auch längere Zeit zum Üben.
Die Erinnerung an das Gewesene stellt Teil des Wiedererkennungswertes unserer Städte dar. In Deutschland brauchen wir gottlob keinen Besuch im "Disney-Land", um eine mittelalterliche Stadtmauer oder eine Jugendstilfassade, eine gotische Kirche oder ein Haus der Gründerzeit zu sehen. Ich würde mir wünschen, daß das noch einige Jahrhunderte so bleibt. Auch in unseren Innenstädten. Daß auch in den neuen Bundesländern hinter alten Fassaden moderne Kaufhäuser entstehen, daß die Vielfalt fortbesteht oder zumindest neu entsteht.
Ich wünsche mir Stadtkerne, in denen die Menschen wohnen, leben und arbeiten können. Ich wünsche mir Wohnbereiche, die nicht nur für Singles gemacht sind, sondern auch Familien Möglichkeiten eröffnen. Ich wünsche mir eine innerstädtische Struktur, die vor allem grüne Zonen, Zentren mit kurzen Wegen und eine umweltgerechte Verkehrsplanung aufweist. Ich wünsche mir Fußgängerzonen, die das Flanieren und Einkaufen, das Sehen und die Begegnung mit anderen zu einem vergnüglichen Erlebnis machen. Ich wünsche mir Innenstädte als Orte gastronomischer Vielfalt, kultureller Faszination und mannigfaltiger Erholungsmöglichkeit, kurz: Ich wünsche mir ein buntes Treiben in der Innenstadt.
Ich bin davon überzeugt: Die Kommunen können viel dafür tun, daß das Wohnen in der Stadt nicht gleichbedeutend ist mit dem Leben in einer lauten, öden und stickigen ( Beton- ) Wüste und daß die Luft zum Atmen erträglich ist.
Womit wir wieder bei der Stadtluft angelangt wären.
Ich wünsche mir, daß auch unsere Kinder und Enkel mit Überzeugung sagen können: "Stadtluft macht frei." Es liegt an unserer Generation, ihnen diese Option zu geben.