Redner(in): Roman Herzog
Datum: 27. Juni 1995

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/06/19950627_Rede.html


Akademische Einladungen, wie sie die Deutsche Forschungsgemeinschaft dieses Mal ausgesprochen hat, nehme ich immer besonders gerne entgegen. Sie können sich vorstellen, daß ich schon aufgrund meines beruflichen Werdeganges die Suche nach neuen Erkenntnissen als eine eminent wichtige Sache betrachte - sei es in Grundlagenforschung oder in angewandter Forschung. Ich habe selbst meine Zeit als Wissenschaftler sehr genossen und verstehe mich heute noch als zugehörig - auch wenn ich durch andere Ämter häufig zweckentfremdet worden bin. Dies will ich freilich nicht als Klage verstanden haben, schon gar nicht als Klage über meinen derzeitigen Beruf. Ich hätte ihn ja nicht anzunehmen brauchen.

Für mich ist es das schönste am Berufsleben, wenn man sich mit der eigenen Tätigkeit wirklich identifizieren kann. Und gerade das garantiert der Arbeitsbereich Wissenschaft und Forschung in hohem Maße. Einer unserer Kollegen wurde einmal gefragt, warum er Wissenschaftler geworden sei. Die profane Antwort lautete nicht etwa,"weil ich mich für besonders klug halte" - davon dürfte er ausgegangen sein - oder "weil ich dazu berufen bin" - auch davon war er wohl überzeugt - sondern "weil ich mir da die größte geistige Freiheit versprochen habe". Ohne diese Freiheit und Autonomie könnten sich Wissenschaft und Forschung in der Tat gar nicht entfalten. Nur in einer Gesellschaft, in der frei gedacht und gehandelt wird, ist es weitgehend ausgeschlossen, daß Probleme übersehen oder nicht angepackt werden. Wenn es auch gelegentlich Zeitverschiebungen zu verzeichnen gibt.

Nicht von ungefähr garantiert deshalb Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes die Freiheit von Forschung und Lehre. Diese Bestimmung schützt vor allem den einzelnen Wissenschaftler in seiner Person. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft versteht sich daher zu Recht nicht als Steuerungsinstrument. Ich will nicht, daß Forschung gesteuert wird, geschweige denn als ausführendes Organ der Forschungspolitik des Bundes oder der Landesregierungen verstanden wird. Sie will Garantin für die Selbstverwaltung der Wissenschaft sein, die in erster Linie auf die Bedürfnisse der "scientific community" hört und dadurch die Spitzenforschung in Deutschland sichern hilft.

Vor diesem Hintergrund wird die DFG gelegentlich auch als die letzte Stützmauer der deutschen Universitäten bezeichnet. Fast 2 Milliarden DM stehen ihr hierfür zur Verfügung. Vierzig Prozent aller Drittmittel für die deutschen Hochschulen stammen von der DFG. Diese Mittel sollen ausschließlich zur Förderung besonderer Forschungsvorhaben und zur Sicherung der Spitzenforschung in Deutschland verwendet werden; denn für die Grundausstattung der Hochschulen sind andere in unserem Staat zuständig - und daran wollen wir festhalten - . Die DFG muß sich deshalb nicht in den universitären Alltag einmischen, sondern sie kann die besten Forschungsprojekte aussuchen und diese unterstützen. Welche die besten sind, das können - wiederum im Sinne der Freiheit von Wissenschaft und Forschung - nur unabhängige Fachgutachter beurteilen, die selbst Forscher sind.

Hier schließt sich also der autonome Kreis der Wissenschaft. Aber dieser Kreis ist nur gegenüber unberechtigter Einflußnahme abgeschottet; eigentlich besitzt er ja weltweite Schnittmengen. Die Zunft der Wissenschaftler stand selten in der Gefahr, sich im Rahmen nationaler Grenzen aufzuhalten. Die Universitäten waren beispielsweise die ersten, die weltweit vernetzt waren und sich "Internet" - Briefe zuspielten. Sprachgrenzen gab es selten. Die Forschung ist internationaler als jede Politik. Nur die Wirtschaft hat heute einen ähnlichen Grad weltweiter Verknüpfung erreicht.

Die wissenschaftlichen Ergebnisse, die wir in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren im Bereich der Naturwissenschaften erwarten, beweisen diese Grenzenlosigkeit. Die Beispiele will ich vor Ihnen gar nicht ausbreiten, weil Sie sonst hinterher sagen, was ich alles nicht genannt habe. Der Nutzen dieser Forschung für alle Menschen liegt auf der Hand. Forschung ist nicht national, nicht parteiisch und nicht exklusiv. Sie treibt - wenn auch nur in ihrem eigenen Sektor - die Globalisierung von Kultur und Wirtschaft und damit auf einem bestimmten Sektor das Zusammenwachsen der Weltgemeinschaft voran.

Von daher rechtfertigen sich hohe Investitionen in die Forschung. Hier bin ich nicht so berückt über die Zahlen, die mir zu Ohren gekommen sind. Deutschland steht innerhalb der OECD, was die Ausgaben für Bildung anbetrifft, an drittletzter Stelle. Nur - so wird gesagt - Spanien und die Türkei wenden weniger Mittel auf als wir. Hier will ich mich auf Winston Churchill beziehen, der sagte, er glaube nur an die Statistik, die er selbst gefälscht hätte. Allerdings ist auch der Anteil, den die Privatwirtschaft an den Forschungsaufwendungen trägt, in den letzten Jahren von 62 auf 59 Prozent gesunken. Mir scheint hier ein enormer Nachholbedarf zu bestehen. Schließlich garantiert die Forschung langfristig die Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft und - nicht zuletzt auch - , was mir noch viel wichtiger ist, die geistige Flexibilität unserer Gesellschaft.

Die Arbeitsplätze, die in den letzten zehn Jahren neu entstanden sind - und das sind rund 3 Millionen - wurden überwiegend in forschungsintensiven Industrien und bei innovativen Dienstleistungen geschaffen. Schon aus diesem pragmatischen Grund plädiere ich dafür, daß alle öffentlichen Institutionen, die die Spitzenforschung in Deutschland fördern, kontinuierlich, verläßtlich, kalkulierbar angemessene Mittel erhalten.

Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses liegt mir von meinem augenblicklichen Beruf her, besonders am Herzen. Deshalb schätze ich das Engagement der DFG in diesem Bereich, das manche fehlende Planstelle an Hochschulen und Forschungseinrichtungen ersetzt. Gerade bei den Habilitationen ist das notwendig, wenn ich auch nicht glaube, daß die Rekrutierung unseres wissenschaftlichen Nachwuchses allein aus dem Kreis der Habilitierten möglich und sinnvoll ist. Vermehrte Habilitationsmittel werden es aber möglich machen, den Bedarf an Professoren zu decken, den wir um die Jahrtausendwende haben werden. Hier denke ich besonders auch an Frauen. Jutta Limbach, meine Nachfolgerin im Amt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, sagte einmal: Frauenförderung sei dringend notwendig, angesichts der Tatsache, daß Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch 97,4 Prozent aller deutschen C4 -Professuren in Händen von Männern sind. Diese Zahlen legen den Eindruck nahe, daß die Universitäten und Forschungseinrichtungen - zumindest, was die Personalpolitik betrifft - die letzten Bastionen des 19. Jahrhunderts sein könnten. Ich denke aber, daß schon heute die Dinge in Bewegung geraten sind. Die DFG - wenn sie das will - kann hier im übrigen das ihrige tun.

Wissenschaftliches Forschen hat für mich immer etwas mit der Suche nach Wahrheit zu tun. Die Popperianer unter Ihnen sollten mir das allerdings nicht als Reminiszenz einer überholten Erkenntnistheorie auslegen. Ich weiß sehr wohl um die Unvollkommenheit menschlichen Wissens. Als Jurist weiß ich auch, wie man herrschende Lehren ins Leben ruft; wahrscheinlich geht das auch anderswo. Ich sehe aber auch, daß Wissenschaft sich stets an der Erfahrungswelt überprüfen lassen muß. Sonst hat sie den Vorwurf, im Elfenbeinturm zu sitzen, wohl verdient. Ich meine auch nicht, daß es keine Paradiesvögel unter den Forschern geben sollte.

Gerade die Zweckfreiheit wissenschaftlichen Forschens kann für außergewöhnliche Gedanken Raum schaffen. Ich habe die Forschung einmal mit einem Friseurladen verglichen. Im allgemeinen wird auch hier mit dem Strich gebürstet. Gelegentlich sollte jedoch jemand zum Zuge kommen, der gegen den Strich der herkömmlichen Forschungsrichtung bürstet. Die Forschung muß deshalb gelegentlich auch von dem Anspruch auf Zweckmäßigkeit dispensiert werden. Keiner kann ausschließen, daß gerade aus dem Luxus an der Gedanken- und Experimentierfreiheit, den sich unsere Gesellschaft mitunter leistet, eines Tages das entsteht, was wir unter gesellschaftlichem Nutzen verstehen.

Nachfolgende Generationen brauchen die geistigen Investitionen, die jetzt getätigt werden - auch wenn die Forscher und die jetzige Gesellschaft die Früchte der zur Zeit geleisteten Grundlagenarbeit vielleicht nicht mehr ernten werden - das auch im Hinblick auf unsere Altersstruktur - . Ich wünsche den Mitarbeitern der DFG, allen Wissenschaftlern - insbesondere denen, die ehrenamtlich als Gutachter tätig sind - , weiterhin viel Erfolg und viel Unverdrossenheit und meine, daß gerade das Setzen von wissenschaftlichen Sprößlingen die beste Garantie für eine reiche Ernte ist.