Redner(in): Johannes Rau
Datum: 13. Dezember 2001

Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/12/20011213_Rede.html


jeden Tag sehen wir auf vielen Fernsehkanälen und zur besten Sendezeit Börsenberichte. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, die Deutschen seien ein Volk wohlhabender Aktionäre geworden oder sie hätten die Börse als Spielcasino entdeckt. Nun muss man sagen, in den letzten Monaten ist mancher Aktionär auch arm geworden oder jedenfalls ärmer. Darüber ist auch berichtet worden.

Was aber bedeutet "Armut" heute, was bedeutet "Reichtum" heute in Deutschland? Wer ist arm und wer ist reich? Darüber streiten sich Professoren und Statistiker. Darüber streiten sich die Bürger auf der Straße schon lange, und die Bibel sagt dazu auch einiges.

Arm sind gewiss die Menschen in Afrika oder in Asien, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Darüber gibt es keinen Streit. Unbestritten ist auch, dass diese Definition von Armut für uns in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, kein Maßstab sein kann.

Darum benutzen wir in den reichen Ländern meist einen relativen Armutsbegriff. Weil er relativ ist, ist er umstritten. Armut und Reichtum gibt es aber wirklich, im täglichen Leben, auch bei uns:

Not und Armut gibt es auch bei uns, mitten in der Wohlstandsgesellschaft. Wir können und wir dürfen sie nicht wegdefinieren, weder mit politischer Rhetorik noch mit statistischen Tricks.

Reichtum ist wahrlich keine Schande, aber Armut ist ein Menetekel und ein Schandfleck für die ganze Gesellschaft.

Bei der Verteilung von Reichtum und Armut geht es nicht um statistische Verfahren, sondern es geht um individuelle Schicksale, es geht um individuelle Lebenslagen und um individuelle Lebenschancen.

Armut hat nicht nur etwas mit dem Einkommen zu tun. Armut hat viele Ursachen, und Armut hat viele Gesichter.

Schon Adam Smith, der Ökonom, der auch Moralphilosoph war, hat in seinem Werk über den Wohlstand der Nationen darauf hingewiesen, dass das Realeinkommen nicht nur die materiellen Möglichkeiten des Menschen bestimmt. Es geht auch um die Möglichkeit, so sagt er,"sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen", es geht darum, am Leben der Gemeinschaft teilnehmen zu können.

Für Adam Smith waren lebenswichtige Güter nicht nur die, die zum Leben unerlässlich sind, sondern auch "Dinge, ohne die achtbaren Leuten, selbst aus der untersten Schicht, ein Auskommen nach den Gewohnheiten des Landes nicht zugemutet werden sollte".

Wer die Angebote in der Kultur und in der Bildung nicht nutzen kann, wer auf dem Wohnungsmarkt, in der Gesundheitsfürsorge nur einen Stehplatz abbekommen hat, der wird sehr schnell als nicht mehr vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft angesehen und behandelt.

Armut grenzt aus, und darum hat Armut viel mit verletzter Würde zu tun und: Wer weiß schon, dass arme Menschen im Durchschnitt sieben Jahre kürzer leben?

Unser Grundgesetz sagt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Wir haben das in diesem Monat viel zitiert, vor allem im Zusammenhang mit der bio-ethischen Diskussion. Wir haben weniger zitiert, was auch im Grundgesetz steht: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen".

Das ist ein wichtiger Satz, denn er schreibt die Werte Solidarität und Gerechtigkeit fest, und die gehören zu dem Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

Die Diskussion darüber, was denn nun gerecht ist, wird es immer geben. Gerechtigkeit ist schwer zu definieren. Das darf aber nicht zum Vorwand werden für wachsende Ungerechtigkeit.

Natürlich gibt es in jeder, auch in unserer, Gesellschaft wirtschaftliche Ungleichheit und ich sage dazu: Auch der dem sozialen Ausgleich verpflichtete Staat wäre schlecht beraten, wenn er hier Nivellierungen versuchte. Das würde zu nichts Gutem führen.

Nicht jede wirtschaftliche Ungleichheit darf man gleichsetzen mit Ungerechtigkeit oder sozialer Kälte. Nein, Leistung erfordert Belohnung und es ist richtig, unterschiedliche Leistungen auch unterschiedlich zu belohnen.

Wo aber die Ungleichheit zu groß ist, da wird nicht nur die Gerechtigkeit verletzt, da wird auch die Freiheit von Millionen Menschen eingeschränkt.

Die Frage ist also: Wie viel Ungleichheit braucht eine Leistungsgesellschaft und wie viel wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit verträgt der soziale Friede, der ein eigener Wert ist und zugleich ein wichtiger Standortfaktor?

Ich habe den Eindruck, dass eine gerechte Verteilung der Lebenschancen und der tatsächlichen Lebensbedingungen ein Wert ist, an dem es uns mangelt.

Gewiss: Es kann nur das verteilt werden, was vorher produziert worden ist.

Es stimmt aber auch, dass die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums auch das Angebot und die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen behindern kann.

Die beiden großen Kirchen haben schon 1997, also vor dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in ihrem gemeinsamen Wort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" von "tiefen Rissen" gesprochen,"die durch unser Land gehen". Sie haben auf den wachsenden Gegensatz von Wohlstand und Armut verwiesen und festgestellt, dass,"Solidarität und Gerechtigkeit heute keine unangefochtene Wertschätzung mehr genießen".

Der gesellschaftliche Konsens scheint also brüchiger geworden zu sein.

Da gibt es widerstreitende Interessen von kinderreichen Familien und von Singles, von älteren und von jüngeren Menschen, von Arbeitsplatzbesitzern und von Arbeitslosen.

Das führt auch dazu, dass in der Hitze der politischen Diskussion manches übertrieben oder wenigstens instrumentalisiert wird, was doch besser nüchtern und sachlich behandelt würde.

Natürlich gibt es den Missbrauch von sozialen Leistungen. Den muss die Politik abstellen, so weit das möglich ist. Niemand sollte aber der Versuchung erliegen, alle Empfänger staatlicher Transferleistungen unter Generalverdacht zu stellen.

Ich höre auch häufig den Vorwurf, es lohne sich doch für einen Sozialhilfeempfänger gar nicht, eine Arbeit aufzunehmen. Ich kann vor solchen pauschalen Behauptungen nur warnen.

Ganz gewiss gibt es Grenzbereiche, in denen Sozialhilfeleistungen so hoch liegen wie das Einkommen in den untersten Lohngruppen. Pauschale Behauptungen können aber dazu führen, dass mancher Empfänger von Sozialhilfe sich aufgefordert fühlt, keine Arbeit aufzunehmen. Das kann niemand wollen.

Hier ist die Politik gefordert, mehr Flexibilität an der Schnittstelle von Sozialhilfe und Arbeitsentgelt zu schaffen. Dafür gibt es ja Vorschläge. Ich erinnere nur an die Programme "Arbeit statt Sozialhilfe", die sich in vielen Städten und Gemeinden bewährt haben, an viele andere Ansätze unter dem Titel "Hilfe zur Arbeit" oder an Vorschläge zur negativen Einkommensteuer oder zur staatlich finanzierten Ergänzung niedriger Einkommen.

Arbeit zu haben, bedeutet viel mehr, als nur über Einkommen zu verfügen. Arbeit ist in unserer Gesellschaft auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, es ist die Möglichkeit, das eigene Leben ein Stück nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Darum brauchen wir mehr Arbeitsplätze und nicht niedrigere Sozialhilfesätze.

Davon profitieren die Starken genauso wie die Schwachen in unserer Gesellschaft.

Die sozialen und die politischen Kosten von Armut und Ausgrenzung müssen wir alle tragen:

Armutsbekämpfung setzt an vielen Stellen an: Im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt, in der Schuldnerberatung und nicht zuletzt bei der Familienförderung.

Es kann doch nicht sein, dass wir auf der einen Seite den Geburtenrückgang beklagen, aber auf der anderen Seite hinnehmen, dass Kinder in unserem Land das größte Armutsrisiko sind. 23 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind alleinerziehende Frauen. Ich finde, das ist ein Skandal!

Es wäre aber ein Irrglaube, dass soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit dann am besten erfüllt würden, wenn möglichst viel Geld für soziale Aufgaben ausgegeben wird.

Ein staatliches Handeln, das den Sozialstaatsauftrag ernst nimmt, muss als Ziel haben, dass es möglichst wenige Arbeitslose gibt und nicht möglichst hohe Ausgaben für Arbeitslosengeld, dass es möglichst wenige Sozialhilfeempfänger gibt und nicht möglichst hohe Ausgaben für Sozialhilfe, dass es möglichst Wenige gibt, die auf Wohngeld angewiesen sind, und nicht möglichst hohe Wohngeldausgaben.

Es bleibt eine Kernaufgabe des Staates, sich um die zu kümmern, die am Rande stehen und sie wieder zurückzuholen in die Mitte unserer Gesellschaft. Der Staat muss für Chancen- und Teilhabegerechtigkeit sorgen.

Soziales Engagement ist aber nicht nur Sache des Staates.

Mehr als 20 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland ehrenamtlich - der größte Teil im sozialen Bereich. Das ist eine unschätzbare Hilfe.

Immer mehr Unternehmen bekennen sich zu ihrer sozialen Verantwortung und fördern soziale Projekte und motivieren ihre Mitarbeiter, sich ehrenamtlich zu betätigen.

Stiftungen verfügen in Deutschland inzwischen über ein Grundkapital von mehr als einhundert Milliarden Mark, mit dem sie im sozialen, im kulturellen und im wissenschaftlichen Bereich viel Gutes tun. Dazu kommt noch eine wachsende Zahl von Bürgerstiftungen.

Da entwickelt sich ein Engagement, wie ich es mir wünsche. Die Bereitschaft von Menschen, etwas für andere und für sich zu tun, ist durch nichts zu ersetzen. Dieses Engagement kann und muss den Sozialstaat ergänzen durch praktische Solidarität im Alltag.

Wer Armut erfolgreich bekämpfen will, der muss sich im politischen Handeln an den alten und nach wie vor gültigen Werten orientieren: an Solidarität und Gerechtigkeit, an Mitmenschlichkeit und Mitgefühl. Davor bewahrt keine Börsennachricht.