Redner(in): Johannes Rau
Datum: 20. Februar 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/02/20020220_Rede.html


I. Meine Damen und Herren,

ich danke für die Einladung, heute im Detroit Economic Club zu Ihnen zu sprechen.

Herr Fountain, Sie haben zur Begrüßung Freundliches über mich gesagt. Meine Erziehung gebietet es mir eigentlich, so viel Lob zu relativieren. Da ich aber nun einmal in den USA bin, will ich gerne meine amerikanische Lieblings-Philosophin zitieren. Mae West hat einmal gesagt: "Es tut gut, ab und zu die Wahrheit zu hören." Ich will das Bonmot der großen Philosophin jedoch gar nicht auf mich beziehen, sondern mich davon in meiner Rede leiten lassen.

Aber seien Sie unbesorgt: Ich werde Ihnen nicht den Appetit verderben! In diesem Sinne also einige Überlegungen zu dem einfachen Thema "Globalisierung und transatlantische Partnerschaft".

II. Der Name Detroit steht für weltberühmte Unternehmen. Er ist Symbol für große Zeiten, bahnbrechende Ideen und weltweite Erfolge. Hier spürt man aber auch besonders, wenn die Konjunktur schwierig wird und wenn unter dem Vorzeichen globaler Veränderungen neue Herausforderungen aufkommen.

Oft wurde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Amerikas in einem Atemzug mit dieser Stadt erwähnt. Ein britischer Motor-Journalist hat einmal gesagt: " The ' 59 Cadillac says more

about America than a whole trunkful of history books ". Von Detroit gingen bahnbrechende Entwicklungen der industriellen Produktion aus.

Die Ideen von Henry Ford haben seinerzeit nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen sozialen Fortschritt markiert. Ford hat mit seinem System die Autos so billig gemacht, dass die Arbeiter, die die Autos herstellen, sie auch kaufen konnten.

Henry Ford wusste offenbar damals schon, dass Löhne nicht nur Kosten sind, sondern auch die Kaufkraft der Arbeiter bestimmen. Mit seinen Worten: "Autos kaufen keine Autos". So ist das bis heute geblieben.

III. Ich hatte gerade Gelegenheit, ein deutsches mittelständisches Unternehmen hier in Detroit zu besichtigen, das als Zulieferer der Automobilindustrie sehr erfolgreich ist. Es ist eines von 150 deutschen Unternehmen, die sich in Michigan niedergelassen haben, um hier für den amerikanischen Markt zu produzieren.

Detroit ist ein gutes Beispiel für das erfolgreiche Zusammenwirken von Firmen und damit auch von Menschen aus vielen Ländern der Welt. Das gilt für die Gegenwart wie für die Vergangenheit. Viele Einwanderer aus Deutschland und ihre Nachfahren haben entscheidende Beiträge zur industriellen Produktion, aber auch in anderen Bereichen geleistet.

Stellvertretend für sie möchte ich wenige Namen nennen:

Deutsch-Amerikaner haben in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung und bei der Konzeption von Sozialgesetzen seit dem 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt. Ich denke hier zum Beispiel an Robert Wagner, der die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Präsident Roosevelts maßgeblich vorbereitet hat.

Der Staat Michigan steht für die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten und Deutschlands. Vier der zehn größten amerikanischen Investoren in Deutschland kommen aus Ihrer Region. Amerikanische Unternehmen stehen mit Abstand an erster Stelle unter allen ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland. Umgekehrt stehen die USA auch an der Spitze deutscher Direktinvestitionen im Ausland.

Heute steht die traditionsreiche Industriestadt Detroit für die Produktion unter den Bedingungen der weltweiten Vernetzung. Ihr Name ist eng verbunden mit dem Namen anderer Städte. Lassen Sie mich drei Verbindungen zwischen Städten in Deutschland und in den USA nennen:

IV. Wenn wir heute ein Auto einmal näher anschauen, dann merken wir, was Produktion im Rahmen der Globalisierung bedeutet. Die Marke des Autos ist für jedermann erkennbar. Der Markenname ist unverzichtbar. Er ist den Menschen wichtig. Er steht für das deutsche, das japanische oder das amerikanische Erbe, das dieses Produkt auszeichnet. Auch wenn sich Unternehmen heute weltweit verbinden, so beziehen die jeweiligen Marken ihre Faszination doch immer noch aus der besonderen Tradition ihrer Herkunft.

Die einzelnen Teile eines Automobils stammen heute aber längst aus vielen Ländern - wie auch die Fertigkeit, sie zu produzieren oder das Talent, ihnen kunstvolle oder aufregende Linien zu geben.

Das zeigt sich, wenn wir einen Blick auf Modelle werfen, die hier produziert werden:

Was sagt nun dieser amerikanische und doch internationale Wagen über das Amerika von heute aus? Ist ein typisch amerikanisches Auto? Oder ist es ein globales Auto? Überall auf der Welt sind Autos Symbole für Wohlstand, für Fortschritt und Mobilität.

Weltweit sind Menschen von Autos begeistert. Autos wecken Gefühle und Sehnsüchte. Diese globale Faszination, die vom Automobil ausgeht - bei allen Problemen, die es auch mit sich bringt - kann uns durchaus dabei helfen, dass die Menschen in Zukunft weltweit mit der Globalisierung auch diese positiven Werte verbinden: Wohlstand, Fortschritt und Freiheit.

V. Den Menschen gilt unsere Politik. Diese Überlegung - was ist dem Menschen gemäß? - sollte uns auch leiten, wenn wir von der Produktion des Automobils und ihrer Verbesserung sprechen.

Denn Produktion, das sind - trotz aller Automatisierung und Rationalisierung - eben die Menschen, die in Detroit leben - oder in Bochum, in Tokio oder in Stuttgart, in Puebla, Turin oder Shanghai. Globalisierung heißt eben immer auch: Die Firmennamen, die Maschinen, die Teile und die Produkte, die werden global. Die Menschen aber, die bleiben in aller Regel an einem Ort verwurzelt. Sie sind Deutsche, Amerikaner, Spanier, Franzosen, Mexikaner, Japaner... Diese Menschen lieben ihre Familie, sie wollen ihre Musik, ihr Essen und ihre Mannschaft im Sport nicht missen.

Die Globalisierung bietet uns die großartige Möglichkeit, für alle Menschen größeren Wohlstand zu schaffen. Immer wieder erfahren wir aber, dass Markt und Wettbewerb nicht von alleine dafür sorgen, dass tatsächlich möglichst viele und nicht nur wenige Menschen hiervon profitieren können.

Wir alle haben noch die kritischen, auch die selbstkritischen Töne, auf dem diesjährigen World Economic Forum in New York in Erinnerung. Es war ja schon bemerkenswert, dass ausgerechnet aus dem IWF Einschätzungen zu vernehmen waren, wie sie früher höchstens von seinen Kritikern geäußert wurden.

IWF-Generaldirektor Horst Köhler hat den Protektionismus, die Subventionen und die "ego-istische Handelspolitik" der Industrieländer kritisiert. Internationale Beziehungen, so Köhler, können nicht so aussehen, dass die Großen Absprachen treffen und die Entwicklungsländer das Nachsehen haben.

Der Generaldirektor der WTO, Mike Moore, hat gesagt: "Ich teile 80 % der Argumente meiner Gegner" - und damit meinte er die Globalisierungskritiker. Der Ökonom Paul Krugman stellte bei der Tagung in New York fest, dass den großen Industrieländern das Bewusstsein dafür fehlt, dass sie für das Wohlergehen der Weltwirtschaft gemeinsam Verantwortung tragen.

Amartya Sen, der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, hat für mich sehr überzeugend formuliert, wie das zusammenpasst, was in der globalisierten Welt zusammenwachsen muss: Markt, Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Freiheit der Menschen, so Sen, ist eingrößerer Wertals die Entscheidung für die Freiheit des Marktes. Wir sollten, so Sen, den Markt niemals nur von seinen sicher beeindruckenden Ergebnissen her beurteilen, sondern immer auch fragen: Haben alle die Freiheit, an ihm teilzunehmen, oder sind Menschen ausgeschlossen?

Als Demokraten dürfen wir nicht akzeptieren, dass der globale Markt angeblich Zwangsläufigkeiten und Eigengesetzlichkeiten mit sich bringt, die Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit für Viele einschränken und begrenzen. Der Markt muss im Dienst der Freiheit stehen, im Dienst der Menschen.

Die Ideen und die Erfahrung von vielen Menschen, ihre Intelligenz, ihr Wissen, ihre Hände und ihre Fähigkeit zur Teamarbeit - das sind für mich auch die wichtigsten der vielen Komponenten, aus denen sich heute jedes Auto zusammensetzt.

Um all das zu entwickeln, brauchen wir aber wirklich - und nicht nur rhetorisch - offene Märkte. Die weltweite Öffnung der Märkte muss auf weltweit gültigen Regeln basieren. Darauf hat - manchen mag das erstaunen - auch schon Adam Smith hingewiesen: Der Markt braucht einen Rahmen - und der muss heute die sozialen und die ökologischen Bedingungen des Wirtschaftens festlegen. Ohne Regeln geht jeder Markt zugrunde - und das dient weder Menschen noch dem Wohlstand der Nationen.

Die weltweite Offenheit der Märkte unserer Tage ist eine große Chance, und wir können sie im Interesse und um der Wohlfahrt der Menschen willen gestalten. Gelingt uns das, so können wir auch das große Ziel erreichen, Freiheit und Demokratie weltweit zur Geltung zu bringen. Das ist die neue, die aktuelle Herausforderung der alten demokratischen, aber auch der alten industriellen Traditionen, für die Ihr Land in besonderer Weise steht. Dieses Ziel verbindet uns freundschaftlich und dauerhaft über den Atlantik hinweg.

VI. Auf die transatlantischen Beziehungen wird es entscheidend ankommen, wenn wir die Herausforderungen in unserer einen Welt erfolgreich bewältigen wollen. Unsere Beziehungen ruhen auf einem festen Fundament. Natürlich können sie, wie alle engen Beziehungen, nur funktionieren, wenn wir sie dauerhaft und aufmerksam pflegen.

Uns verbinden gleiche Wertvorstellungen, persönliche Beziehungen und ein intensiver Handelsaustausch. 60 % der ausländischen Investitionen in den Vereinigten Staaten stammen aus der Europäischen Union, 45 % der amerikanischen Auslandsinvestitionen gehen nach Europa. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sind die Wirtschaftsregionen, die weltweit am stärksten miteinander verflochten sind.

In der Mitarbeit unserer Ländern in den Vereinten Nationen, in der NATO und in der OSZE kommt unsere Überzeugung zum Ausdruck, dass sich die großen Herausforderungen der internationalen Politik am besten durch gemeinsames Handeln bewältigen lassen.

Zwei neue Faktoren werden das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Europa in Zukunft mit bestimmen: Ein neues Element in den transatlantischen Beziehungen ist der Euro, der am 1. Januar 2002 ohne nennenswerte Probleme erfolgreich in Europa eingeführt worden ist. Es ist ein einheitliches Währungsgebiet entstanden, in dem etwa genau so viele Menschen leben wie in den USA. Damit hat die Europäische Union ein Symbol der Integration erhalten, das für jedermann sichtbar und fassbar ist. Ich bin davon überzeugt, dass der Euro wie der Dollar eine starke international geschätzte Währung für Kapitalanlage, Transaktionen und für Reservezwecke werden wird.

Dazu kommen wird die Erweiterung der Europäischen Union. Ihr Ziel ist es, politische Stabilität und wirtschaftliche und soziale Sicherheit auf Mittel- und Südosteuropa auszudehnen. Damit leistet Europa auch einen substantiellen Beitrag zur globalen Sicherheit, wie auch mit seiner umfassenden Unterstützung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Staaten des Mittelmeerraumes.

Europa wird durch Integration und Globalisierung in ganz eigener Weise zu sich selber finden. Aufgrund unserer spezifischen sozialen Traditionen wird das anders geschehen als in den USA. Wir haben gerade in Deutschland mit der Zusammenarbeit der Tarifparteien gute Erfahrungen gemacht; ohne die Gewerkschaften wäre das deutsche Wirtschaftswunder nicht möglich gewesen, ohne die Gewerkschaften hätten wir heute nicht das Wohlstandsniveau und den sozialen Frieden, um den uns viele beneiden.

Aus seiner fortschreitenden Einigung kann Europa Stärke gewinnen, wenn die Europäer bereit sind, den eingeschlagenen Weg entschlossen weiter zu gehen. Dann können wir auch künftig gemeinsam mit den USA international Verantwortung übernehmen. Europa und die USA sind strategische Partner, wenn es darum geht, Demokratie und Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit zu fördern und zu verteidigen. Ziel der deutschen Politik ist ein selbstbewusstes und starkes Europa, das seine Interessen und seine Verantwortung für die Welt wahrnimmt.

Der Erfolg künftigen Handelns - wirtschaftlich wie politisch - liegt nicht in Abschottung oder in einer Politik einsamer Entschlüsse. Gerade der Einsatz militärischer Mittel muss weltweit akzeptiert sein, wenn er nachhaltig Erfolg haben soll. Daher war es auch so wichtig, dass die amerikanische Antwort auf die Terrorangriffe vom 11. 09. nach sorgfältigen Konsultationen erfolgt ist und vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimiert war. Darum hat die eindrucksvolle, weltweite Koalition zum Kampf gegen den Terrorismus zusammengefunden.

Globalisierung heißt eben nicht: Der Starke ist am mächtigsten allein. Die Partner müssen bereit sein, miteinander zu sprechen, aufeinander zu hören - aber dann gemeinsam zu handeln. Der selbstbewusste und der freundschaftliche Umgang miteinander - das ist eine Perspektive, die mir gut gefällt.

Präsident Bush hat in seiner Rede zur Lage der Nation am 30. Januar gesagt, und ich zitiere: "Wir müssen verhindern, dass die Terroristen und die Regime, die nach chemischen, biologischen oder nuklearen Waffen streben, die Vereinigten Staaten oder die Welt bedrohen können". Ich kann nur zustimmen. Was läge dann näher, als die entsprechenden Rüstungskontrollvereinbarungen zu stärken und auch als wirksame Instrumente der Terrorismusbekämpfung auszugestalten?

VII. Durch die furchtbaren Anschläge vom 11. 09. hat unsere Partnerschaft eine ganz neue Bedeutung erhalten. Die transatlantischen Beziehungen sind verstärkt ins politische Zentrum gerückt, sie gestalten sich dichter und sind in vielen ihrer Aspekte schärfer konturiert.

Inzwischen blicken wir über die unmittelbare Bedrohung hinaus. Wir fragen uns, was Menschen bewegt, solch mörderische Taten gut zu heißen. Ich stimme Außenminister Powell zu, der auf der Tagung des Weltwirtschaftsforums in New York darauf hingewiesen hat, dass wir den Kampf gegen den Terrorismus und seine Ursachen nicht nur als militärische Herausforderung begreifen dürfen. Wir müssen diese Auseinandersetzung ebenso entschieden an einer zivilen Front führen und Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit die Grundlage entziehen, wie Colin Powell gesagt hat. Wo Menschen Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erleben, da werden sie terroristischer Verführung widerstehen. Darum brauchen wir auch eine weltweite Koalition gegen Hunger und Elend.

Die Politik Amerikas und seiner Partner ist in der Vergangenheit immer dann besonders erfolgreich gewesen, wenn sie nicht nur auf wirtschaftliche und militärische Stärke, sondern auch auf die Überzeugungskraft ihrer Konzepte und Ideen gesetzt hat. Nur so konnte die Ost-West-Konfrontation friedlich überwunden werden. Wir waren entschlossen, uns zu verteidigen und die dafür erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen. Wir haben - mit der KSZE und einer Politik der Verständigung - aber auch auf die Mittel der Diplomatie und die Kraft des Dialoges gesetzt. Darauf sollten wir auch heute vertrauen, wenn es darum geht, dem Ideal einer freiheitlichen und gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weltweit Geltung zu verschaffen.

In der globalisierten Gesellschaft gibt es nur gemeinsame Sicherheit. Gerade wir in Deutschland haben erlebt, dass es nicht Mauern und Waffen sind, die dauerhaft vor Bedrohung schützen, sondern Freiheit, Wohlstand und Demokratie. Was die Kraft dieser Werte bewirken kann, daran werden wir in Berlin täglich erinnert, wenn wir durch das seit zwölf Jahren wieder offene Brandenburger Tor fahren.

Diese Idee von Freiheit und Gerechtigkeit ist doch auch mit der Inschrift auf dem Sockel der Freiheitsstatue gemeint, die all jene Menschen begrüßt, die ihre Heimatländer aufgrund wirtschaftlicher Not oder politischer Verfolgung verlassen haben: "Gebt mir eure armen, obdachlosen, bedrängten Massen."

Das ist der Kern einer Botschaft, die von jeder freiheitsliebenden Nation ausgehen sollte: Es sind die freien Staaten, die in einer Allianz gegen den Terror zusammenstehenunddieein weltweites Bündnis gegen Hunger, Armut und Verfolgung bilden.

Freiheit, Demokratie und gemeinsame Sicherheit mit den Vorteilen eines globalen Marktes zu verbinden: Das ist die große Zukunftsaufgabe. Dazu brauchen wir Selbstvertrauen und Respekt vor den Vorstellungen anderer Kulturen. Dazu brauchen wir klare Wertmaßstäbe, aber keine Feindbilder.

Ich bin zuversichtlich, dass wir dieser Aufgabe gerecht werden können - damit dieser Traum, der Amerika und Europa eint, für die Menschen überall auf der Welt in Erfüllung gehen kann.