Redner(in): Johannes Rau
Datum: 8. Mai 2002
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/05/20020508_Rede.html
Ich möchte nicht die ganze Geschichte nachzuerzählen versuchen. Ich möchte meinen Dank sagen all denen, die einen Traum geträumt haben, diesen Traum, der heute in Erfüllung geht. Den Traum, aus dem verlassenen, zum Teil verfallenen, zum großen Teil auch vergessenen Schloss Hardenberg einen lebendigen Ort der Begegnung zu machen.
Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband und alle, die für das Projekt unermüdlich gearbeitet haben, können stolz auf das sein, was sie erreicht haben und was wir alle uns heute ansehen können.
Ich freue mich darüber, dass ich hier sein kann, an diesem wunderschönen Fleckchen Erde. Vom Hubschrauber aus habe ich schon sehen können, wie zauberhaft Neuhardenberg liegt und wie gut Park und Schloss harmonieren.
Viele werden es wie ich empfunden haben: Keine Frage - Neuhardenberg liegt nicht einfach am Weg. Hier kommt man nicht zufällig vorbei. Nach Neuhardenberg muss man wollen, man muss es suchen. Wenn man es aber gefunden hat, dann kommt es einem vor wie ein großes Geschenk.
Was die Verkehrsverbindungen angeht, so kann man gewiss mit Recht sagen: Neuhardenberg liegt abseits. Wenn man sich aber andere - geistige, kulturelle und geschichtliche - Verbindungen ansieht, dann entdeckt man eine andere Geographie, dann muss man sagen: Neuhardenberg liegt im Zentrum, zumindest im Schnittpunkt bedeutender Linien.
In dieser Hinsicht ist Neuhardenberg ein sehr deutscher Ort. Vieles in Deutschland, das kulturell und geschichtlich von Bedeutung ist, liegt ja nicht in den sogenannten Metropolen, sondern in der sogenannten Provinz. Vieles liegt am Rande und hat doch eine geistige Kraft entwickelt, die auf das Ganze ausgestrahlt hat und ausstrahlt.
Hier in Neuhardenberg, buchstäblich am Rande, stößt man überraschend auf zentrale Namen und Ereignisse preußischer und deutscher Geschichte. Der Große Kurfürst hat - in Gestalt seiner Frau - mit diesem Ort zu tun, Friedrich der Große begegnet uns hier, Karl Friedrich Schinkel. Dann natürlich Karl August von Hardenberg, der preußische Staatskanzler, dessen Name ein Synonym ist für vernünftige und aufgeklärte Reform. Sein Herz hing vielleicht an diesem Ort, der jetzt seinen Namen trägt, auf jeden Fall ist sein Herz hier aufbewahrt - eine eigenartige Reliquie in staatlichen Zusammenhängen.
Namen schließlich wie Peter Joseph Lenné und Hermann Fürst von Pückler-Muskau symbolisieren die urbane, die heiter-strenge, die sympathische Seite Preußens.
Und wir haben es gehört: Auch das Dritte Reich und der Widerstand des 20. Juli haben hier Spuren hinterlassen - nicht zuletzt die Niederlage, die Befreiung und Besetzung Deutschlands am Ende des Dritten Reiches. Genau heute, am 8. Mai, jährt sich der Tag der Kapitulation. Draußen im Schlosshof liegen Blumen und Kränze am Ehrenmal sowjetischer Soldaten, die gefallen sind bei der letzten großen Schlacht auf den Seelower Höhen.
Der Ort hieß zu DDR-Zeiten Marxwalde. Die Erinnerung an Preußen sollte ausgelöscht werden, und die Nationale Volksarmee ergriff mehr oder weniger Besitz von diesem Ort.
Und nun, nach Jahren der Renovierung und Neugestaltung, ein ganz neuer Beginn:
Ein Ort des Nachdenkens soll hier entstehen, ein Ort der Begegnung und des kulturellen Austausches; ein Ort, der immer noch am Rande liegt, soll zu einem geistigen Zentrum werden.
Dafür ist er außerordentlich geeignet. Er liegt an der Nahtstelle zwischen Deutschland und Polen. Hier in Neuhardenberg soll auf die geistigen und kulturellen Beziehungen zu Osteuropa besonderer Wert gelegt werden. Das halte ich für wichtig. Der Beitritt Polens zur Europäischen Union muss ganz besonders vom Interesse am kulturellen und am geistigen Leben der Nachbarn begleitet werden. Wenn Neuhardenberg dabei eine Rolle spielen wird, dann hat sich die große Mühe des Wiederaufbaus schon gelohnt.
Der Ort und die Bauten haben den Charme eines Refugiums, den Charme eines Ortes der Ruhe und der Distanz. Darin liegt eine ganz eigene Chance.
Wir brauchen solche Orte. Wir brauchen Orte, zu denen man sich aufmacht, um Abstand zu gewinnen. Nachdenklichkeit, Besinnung und Gelassenheit gehören zu den kostbarsten Güter, die wir uns geben können.
Unser gesellschaftliches, unser politisches Leben ist viel zu oft von Aufgeregtheiten bestimmt. Natürlich: Es geschehen Dinge, die uns aufregen, die unsere Aufmerksamkeit fesseln und uns gerade durch die immerwährende Präsenz der Medien zu distanzlosen Zeugen machen. Wir sind aber - gerade durch diese ständige Medienpräsenz, und das heißt nicht nur, dass die Medien bei uns präsent sind, das heißt auch: durch unsere Präsenz bei den Medien - in einer Art neuem Zeitzustand. Wir leben praktisch ständig in der Gegenwart. Dadurch wird unsere Urteilskraft, dadurch wird unsere Fähigkeit geschwächt, Dinge einzuordnen und richtig zu bewerten
Wer die Gegenwart verstehen will, wer auch nur begreifen will, was geschieht, der kann nicht allein in der Gegenwart leben. Er braucht Distanz zum Geschehen. Ohne Distanz gibt es keine Nachdenklichkeit, keine Besinnung, auch kein kritisches Bewusstsein, das diesen Namen verdient.
Für Nachdenklichkeit müssen wir uns im mehrfachen Sinn "Zeit lassen". Einmal ganz buchstäblich: Es ist gut, wenn etwas Zeit kostet, wenn es etwas kostet, um an einen Ort des Nachdenkens zu kommen. Nur so kann die Distanz, die man zur Aktualität braucht, auch sinnlich erfahren werden. Neuhardenberg liegt etwas abseits? Umso besser, muss man sagen, bei den Zielen, die man sich hier gesetzt hat.
Sich Zeit lassen: Das ist auch der erste Schritt hin zur Gelassenheit. Wenn dieser Ort, wie Sie in Ihrem Programm schreiben, ein Ort der "intensiven Gelassenheit" sein soll, dann geschieht das nicht mit dem Angebot einstündiger Kulturhäppchen. Dann bedeutet das, dass man sich Zeit lässt für das Anschauen und für das Verstehen größerer Zusammenhänge, dass man die verschiedenen Facetten eines Themas aufzunehmen bereit ist, dass man die Dinge hin- und herwendet.
Sich Zeit zu nehmen ist heute wirklich ein Luxus, aber es ist ein Luxus, der dringend nötig ist. Wir spüren doch alle immer wieder, wie unzureichend das simple Schema von Reiz und Reaktion ist, das unsere Öffentlichkeit weitgehend bestimmt.
Und schließlich: Wer sich Zeit lässt, der steht nicht mehr nur mit beiden Beinen fest in der jeweiligen Gegenwart. Der lässt andere Zeiten mitsprechen bei der kritischen Analyse dessen, was heute geschieht.
Ohne Rückbesinnung auf Vergangenheit und Geschichte können wir auch die Gegenwart nicht begreifen. Gelassenheit im Umgang mit der Gegenwart kommt aus der Perspektive historischen Bewusstseins. Alles, was geschieht, hat nicht nur unmittelbare Ursachen, sondern auch lange Wurzeln. Gelassenheit, die aus historischem Bewusstsein kommt, kann in dem aufgeregten Stimmengewirr des Tages eine große Wohltat sein. Und sie ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit, auch nicht mit Desinteresse. Sie weiß aber, dass das wirklich Neue unter der Sonne ziemlich selten ist. Darum gibt es durchaus Kategorien zur Unterscheidung der Geister, die nicht von heute - und doch nicht von gestern sind.
Neuhardenberg ist ein Ort mit Geschichte, es hat die Aura von historischen Orten, die viel gesehen haben. Neuhardenberg ist ein idealer Platz, um Abstand von der Gegenwart zu gewinnen - Abstand nicht, um die Gegenwart zu vergessen, sondern um genauer hinsehen zu können.
Die andere Dimension der Zeit, die Abstand von der schieren Gegenwart gewinnt, ist die Zukunft. Wenn wir davon reden, dass wir die Gegenwart gestalten wollen, dann müssen wir eine Idee von der Zukunft haben. Wir können nichts kritisch beurteilen, wenn wir nicht wissen, wohin wir wollen, welche Gesellschaft, welche Kultur wir uns vorstellen.
Gewiss: Politische Utopien haben im vergangenen Jahrhundert viel Schaden und unermessliches Unheil angerichtet. Auch davon weiß dieser Ort. Ohne eine Idee von der Zukunft, ohne Vorstellungskraft, ohne "konkrete Utopie", wie Ernst Bloch das genannt hat, wird aber jede Gestaltung der Gegenwart blind. Schon der Mut, diesen Ort wieder zu beleben, zeugt von der Zukunftsorientierung Ihrer Stiftung.
Wenn ich Ihr Programm richtig verstanden habe, dann geht es hier in Neuhardenberg nicht darum, der Nostalgie zu huldigen. Es geht Ihnen vielmehr darum, von Zeit zu Zeit gemeinsam Abstand zu gewinnen von der puren Aktualität, von den Orten des reinen Betriebs, um die Vergangenheit mitsprechen zu lassen bei unseren Ideen und es geht darum, Vorstellungen und Träume von der Zukunft zu entwickeln, die wir gemeinsam gestalten wollen.
Dass Ihnen das gelingt,"in intensiver Gelassenheit", wie Sie sagen, dafür sage ich Ihnen von Herzen: Glück auf!