Redner(in): Johannes Rau
Datum: 31. August 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/08/20020831_Rede.html


I. Mich verbindet mit dem Zollverein vieles. Mit dem Eiffelturm des Ruhrgebietes, wie man ihn genannt hat. Ich gehöre zu denen, die miterlebt und ein wenig begleitet haben, wie er erhalten und gerettet werden konnte - bis zu dem Tag und über den hinaus, an dem er nun zum Weltkulturerbe gehört. Viele haben daran mitgewirkt, haben sich darum verdient gemacht und Sie werden es nicht als parteiisch ansehen, wenn ich sage, mein ehemaliger Minister Christoph Zöpel ist in der Reihe der Vielen besonders aktiv und erfolgreich gewesen. Ich möchte ihn besonders herzlich grüßen.

Die Zeche Zollverein ist ein großartiges Symbol der Montangeschichte des Ruhrgebiets. Sie steht aber für mehr: Für die europäische Industriegeschichte zwischen 1850 und dem Ende des 20. Jahrhunderts. Und natürlich steht sie für den Strukturwandel, den industriell geprägte Regionen in Europa bewältigen müssen.

Der Name "Zollverein" war von Anfang an ein Programm. Als hier vor gut 150 Jahren die Schürfbohrungen begannen, da wählte man für das Grubenfeld in Katernberg den Namen "Zollverein", weil das Wort für Fortschritt schlechthin stand.

Zu Beginn der Industrialisierung, da verband sich mit diesem Namen eine politische und wirtschaftliche Vision: Die Mitglieder des 1834 in Deutschland gegründeten Zollvereins verzichteten auf Zollgrenzen, um einen großen Binnenmarkt zu schaffen. So wollten sie Wirtschaft und Handel fördern. Das war ein Beispiel für eine erfolgreiche grenzüberschreitende Zusammenarbeit und ein Meilenstein auf dem Weg zu einem wirtschaftlich und politisch geeinten Europa.

II. Die Geschichte der European Heritage Days ist recht kurz, verglichen mit dem Alter der Denkmäler und Kulturgüter, die wir in Europa haben. Das Bewusstsein dafür, dass wir unser Kulturerbe nicht nur im nationalen Bereich, sondern gerade auch europäisch pflegen und bewahren müssen, ist noch nicht sehr alt.

Wenn wir von Umwelt reden, dann denken wir in der Regel an Umweltschutz und Ökologie, an die Bewahrung der Schöpfung.

Seit den siebziger Jahren ist uns immer deutlicher geworden: Wir müssen mit der Natur sorgfältiger, behutsamer - und ich möchte auch sagen: intelligenter - umgehen, als wir das bis dahin getan haben. Heute bezweifelt niemand mehr ernsthaft, dass wir ein ökologisches Umweltbewusstsein brauchen und danach handeln müssen.

Wir sollten den Radius unseres Umwelt-Bewusstseins künftig aber noch weiter ziehen: Wir müssen auch einkulturellesUmweltbewusstsein entwickeln. Zwischen unserer natürlichen und unserer kulturellen Umwelt bestehen Zusammenhänge, die wir noch stärker wahrnehmen müssen.

Wir sollten beim Stichwort "Umwelt" auch an unsere kulturelle und historisch gewachsene Umwelt denken, an den Menschen und an seine Schöpfungen.

In diesen Tagen haben wir alle die Bilder der Flut vor Augen, die in vielen Gegenden Mitteleuropas schreckliche Schäden angerichtet hat. Auch in Russland und China mussten Hunderttausende vor dem Wasser fliehen. Viele tausend müssen die Zerstörung ihrer Wohnungen und Häuser verkraften, Geschäftsleute und Unternehmer müssen ihre Existenz neu aufbauen.

Kleider und Möbel, persönliche Erinnerungen, Bilder und Andenken sind von der Flut fortgerissen, Kunstschätze zerstört oder schwer beschädigt worden. Das ganze Ausmaß der Zerstörung lässt sich noch gar nicht absehen.

Wir haben im Kampf gegen die Fluten viel Solidarität und eine große Hilfsbereitschaft erlebt. Nicht zuletzt dort, wo es darum ging, Denkmäler, historische Parkanlagen oder alte Bauwerke zu schützen - oder auch Bibliotheken und Archivgut:

In der sächsischen Stadt Grimma hat die Leiterin des Museums die kostbarsten der beschädigten Dokumente zum örtlichen Bäcker und zum Fleischer gebracht. Die haben Bücher und Archivalien in ihren Kühlhäusern eingefroren - natürlich haben sie damit gegen die Lebensmittelvorschriften verstoßen. Doch so werden sich Spezialisten nun um die Erhaltung dieses wertvollen Gefrierguts kümmern können.

Das ist, in aller Not, eine ermutigende Erfahrung gewesen: zu sehen, wie viele Menschen nicht nurgegeneine Umweltkatastrophe gekämpft haben, sondern auchfürSchätze, die einen Teil ihrer kulturellen Identität bedeuten.

Als Menschen wollen wir etwas von dem geschichtlichen Boden wissen auf dem wir stehen, etwas von unserer Herkunft und von dem, was unseren Großvätern und unseren Urgroßmüttern wichtig gewesen ist.

III. Wer, wie Sie, vom europäischen Erbe spricht, der will offenbar im großen Maßstab Geschichte aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren. Das kann bekanntlich manche Probleme mit sich bringen. Paul Valéry hat dazu einmal gesagt: Zu den gefährlichsten Produkten, die der menschliche Geist je erfunden hat, zählt die Geschichte.

So gesehen fällt der Transport der Geschichte, dem Sie sich verschrieben haben, gewissermaßen unter die Gefahrgutverordnung. Was kann man nicht alles aus dem Stoff der Geschichte machen!

Der Umgang mit Geschichte will also gelernt sein - er muss aber auch gelerntwerden, denn auf ihn verzichten können wir nicht.

Überhöhung und Verdrängung sind Sackgassen. Wir brauchen die Erinnerungen, die uns verbinden mit unseren Städten und Regionen, mit unseren Ländern, mit Europa und auch mit anderen Regionen der Welt

Wenn wir uns Geschichte vergegenwärtigen wollen, dann müssen wir sorgfältig und kritisch, demokratisch und offen mit ihr umgehen.

Sie tragen zu solchem Umgang mit der Geschichte bei und dafür bin ich Ihnen dankbar.

Denkmalpflege hält Erinnerungen fest - und sie illustriert damit auch die Wechselfälle der Geschichte. Damit hilft sie uns, die eigene Gegenwart einzuordnen und auch den nötigen Abstand zu gewinnen. Dafür ein Beispiel: Im gleichen Jahr wie die Zeche Zollverein ist die Altstadt von Akko als Weltkulturerbe ausgezeichnet worden. Vor über 900 Jahren wurde die Hafenstadt zum Zentrum der christlichen Kreuzfahrer - neben Jerusalem. Später haben Muslime auf den Ruinen weitergebaut. Seit bald 25 Jahren ist Akko nun die israelische Partnerstadt von Recklinghausen.

IV. Wenn wir von Denkmalpflege reden, dann geht es nicht darum, dass wir das, was wir ererbt haben, nur entstauben oder restaurieren und an einigen Gedenktagen vielleicht hochleben lassen.

Es geht vielmehr darum, dass wir ein lebendiges Verhältnis zu dem finden, was uns überkommen ist.

Das gilt für jeden Einzelnen und die ganz persönlichen Erinnerungsstücke, die wir bewahren. Das gilt aber auch für die größeren Gemeinschaften und für die Gesellschaft, in der wir leben.

Lebendige Denkmalpflege hilft uns, die Gegenwart wahrzunehmen, sie gibt der Gegenwart Sinn und ordnet sie zwischen Vergangenheit und Zukunft ein.

Unsere kulturelle Umwelt ist deshalb so lebenswichtig wie die ökologische:

V. Es gab Zeiten, da hat man vor lauter revolutionärem Eifer bedeutende und schöne Schlösser abgebrannt oder in die Luft gejagt.

Es gab Zeiten, da hat man Kirchen gestürmt und den Heiligenfiguren die Gesichter weggeschlagen.

Es gab Zeiten, da hat man in langsam gewachsenen Stadtteilen nur viel zu enge Gassen gesehen und hat sie platt gemacht für den Bau einer breiten Stadtautobahn.

Es gab Zeiten, da hat man ein Zechengelände und seine Fördertürme für unnützes Alteisen, für Schrott gehalten und hat sie eingerissen.

Gerade im Umgang mit unserer kulturellen Umwelt hat es immer wieder Gedankenlosigkeit gegeben und es ist manche Umweltsünde begangen worden.

Lebendige Denkmalpflege - das heißt für mich, dass wir das Vergangene in Beziehung zu dem setzen, was heuteandersist als früher und zu dem, was in Zukunft anders werden sollte als es früher war.

Lebendige Denkmalpflege - das heißt für mich auch, dass wir nicht, vor lauter Respekt vor den Leistungen unserer Vorfahren, kritiklos werden dürfen. Denkmalpflege ist nie lebendig, wenn sie bei der bloßen Rückschau verweilt.

Ich glaube, dass die Denkmalpflege dann ganz lebendig werden kann, wenn wir unseren Kindern schon früh beibringen, was es bedeutet und welchen Gewinn es bringt, Denkmäler zu erleben und sie zu lesen, sie zu verstehen.

Wir dürfen keine Analphabeten der Erinnerung werden. Darum müssen wir unseren Kindern helfen, einen Blick für Denkmäler zu entwickeln, also müssen wir ihnen zeigen, dass man und wie man in ein spannendes Gespräch mit dem kulturellen Erbe kommen kann.

Denkmalpflege ist lebendig, wenn sie uns immer wieder in ein solches Gespräch zieht.

Mein besonderer Dank gilt der Arbeit der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Der Tag des offenen Denkmals ist in ganz Europa mittlerweile zu einem großen Erfolg geworden. Er trägt dazu bei, dass von Denkmälern für viele Menschen Denkanstösse ausgehen und dass Denkmäler auf diese Weise für noch viel mehr Menschen zu einem ansprechenden und interessanten Teil ihrer Umwelt geworden sind.

VI. Sie widmen sich dem Denkmalschutz auf europäischer Ebene. Damit leisten Sie einen ganz wichtigen Beitrag zu unserem Bemühen, die europäische Einigung voranzubringen.

Auf immer mehr Feldern wächst Europa zusammen, handeln die Länder Europas gemeinsam, werden nationale Entscheidungsverfahren durch gemeinschaftliche ersetzt.

Wenn wir an die Zeit vor den Römischen Verträgen zurückdenken, dann sehen wir, wie viele Vorteile die europäische Integration den Menschen in Europa gebracht hat und bringt. Trotzdem stößt Europa immer wieder auf Widerstand und Ablehnung.

Das hat mit der Sorge der Menschen zu tun, auch ihre kulturellen Unterschiede könnten eingeebnet werden, ihre Traditionen und ihre regionalen und nationalen Besonderheiten könnten verschwinden.

Das kann niemand wollen. Europa, das soll auch künftig eine Einheit sein, die ihre Stärke auch aus der gewachsenen Vielfalt gewinnt. Wenn die Menschen das Gefühl haben, ihre Wurzeln zu verlieren, dann werden sie dem Einigungsprozess fremd, ja ablehnend begegnen.

Die Denkmalpflege trägt dazu bei, Unterschiede und Eigenheiten deutlich zu machen. Sie bewahrt den Reichtum unseres kulturellen Erbes. In der europäischen Zusammenarbeit kann sie zugleich zeigen, was uns bei allen Unterschieden seit Jahrhunderten verbindet, wie wir uns in Europa wechselseitig beeinflusst haben - das eben zeigen, was Besucher aus einer anderen Weltregion als unverwechselbar europäisch empfinden.

VII. Im Denkmalschutz spielt das Engagement der Bürgerinnen und Bürger eine große und besonders wichtige Rolle. Es hat zahlreiche Formen:

Bürgersinn und bürgerschaftliches Engagement allein können die großen Aufgaben aber nicht bewältigen, vor die der Denkmalschutz uns stellt. Allein in Deutschland haben wir zur Zeit etwa 1,3 Millionen Denkmäler. Auch in Zukunft können sie ohne staatliche Hilfen nicht erhalten werden.

Auch wenn in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden gespart werden muss, sollten wir die großen Streichkonzerte nicht in unseren Kulturhaushalten aufführen.

Ich wünsche mir, dass es der Denkmalpflege überall in Europa gelingt, unser großartiges kulturelles Erbe in seiner regionalen und internationalen Vielfalt zu bewahren und lebendig werden zu lassen.

Ich heiße Sie alle herzlich willkommen und wünsche Ihnen und Ihrer wichtigen Arbeit eine gute Zukunft.