Redner(in): Johannes Rau
Datum: 3. September 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/20020903_Rede.html


I. Die "Potsdamer Begegnungen" haben sich in wenigen Jahren einen festen Platz im dichten Geflecht der deutsch-russischen Beziehungen erworben. Was der "Petersburger Dialog" für den Austausch der Zivilgesellschaft ist, das sind die "Potsdamer Begegnungen" für die reiche und vielfältige Welt der Kultur.

In diesem Jahr befassen Sie sich mit Moskau und Berlin. Unsere großen, unsere so schwierigen und faszinierenden Hauptstädte werden von den Architekten und Künstlern betrachtet, die an ihnen bauen und in ihnen arbeiten. Niemand spricht heute vom Neuen Paris, vom Neuen London oder gar vom Neuen Rom sprechen. Aber das Neue Moskau, das Neue Berlin - das geht uns leicht von den Lippen.

Wir verbinden damit nicht nur die neue Architektur, die in den letzten Jahren geschaffen wurde, sondern auch die neuen politischen Bedingungen, unter denen beide Städte sich entwickeln. Heute können wir nur einen Zwischenstand betrachten, denn das Bauen im Berliner Regierungs- und Parlamentsviertel oder am Moskauer Autobahnring, um nur zwei von vielen Großprojekten zu nennen, geht ja weiter. Über Berlin hat ein Beobachter der Stadt schon in den zwanziger Jahren gesagt: "Berlin ist nicht, Berlin wird immer". Ich denke, das gilt - trotz der Unverrückbarkeit des Kreml - auch für Moskau.

II. Sie haben gestern auch über das Zusammenleben der Kulturen in unseren Hauptstädten diskutiert, und ich bin gespannt, von den Ergebnissen zu hören. Sind Berlin und Moskau wirklich Schmelztiegel der Kulturen, wie die Fragestellung in einem Ihrer Panels lautete? Auf jeden Fall sind die Integration und das Zusammenleben von Menschen vieler Kulturen und Religionen in beiden Städten eine große Herausforderung.

Die 150.000 russisch sprechenden Menschen in Berlin und die vielen tausend Deutschen in Moskau leisten Großartiges für die kulturelle Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern. Seit dem Fall der Berliner Mauer erleben auch die wissenschaftlichen Beziehungen eine beispiellose Blüte. In kein Land der Welt vergeben der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Alexander von Humboldt-Stiftung mehr Stipendien als nach Russland. Etwa 3,7 Millionen Russen lernen die deutsche Sprache, mehr als in jedem anderen Land. Ich hoffe sehr, dass auch in Deutschland mehr Menschen Freude an der russischen Sprache finden, denn das Wort Puschkins, dass der Übersetzer der "Postbote der Kultur" ist, hat heute eine größere Bedeutung als je zuvor.

III. Anfang nächsten Jahres beginnt das Jahr der Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen. Wir wollen in ihm die Gemeinsamkeiten aufzeigen, aber auch die Verschiedenheiten. Wir werden neue Entwicklungen deutlich machen, den Platz unserer beiden Länder in den Strömungen von Geist und Kunst der Gegenwart ausloten. Dabei soll auch der zweite Teil der Ausstellung "Berlin - Moskau" in beiden Hauptstädten gezeigt werden.

Deutschland wird auch mitfeiern, wenn Sankt Petersburg stolz seinen dreihundertsten Geburtstag feiert. Ich bin dankbar dafür, dass das Bernsteinzimmer mit Unterstützung eines deutschen Unternehmens in altem Glanz wieder erstehen wird und dass die von einem deutschen Meister gebaute Orgel der Petersburger Philharmonie ebenfalls mit deutscher Hilfe restauriert wird.

Im Jubiläumsjahr werden noch mehr deutsche Besucher nach Sankt Petersburg und Russland kommen und die Schönheit des Landes und die Gastfreundschaft seiner Menschen kennen lernen. Vielleicht kommen auch zu den bereits bestehenden hundertsechzig deutsch-russischen Städtepartnerschaften noch einige dazu, und vielleicht werden sich noch mehr junge Menschen entscheiden, zum Studium oder zur beruflichen Fortbildung in das andere Land zu gehen. Vielleicht schaffen wir es ja endlich auch, ein deutsch-russisches Jugendwerk ins Leben zu rufen.

IV. Für mich ist es ein gutes Zeichen, dass auch die Geschichtsforschung in beiden Ländern zusammenarbeitet. Eine Historikerkommission befasst sich schon seit 1994 mit der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen und spart dabei auch heikle Themen nicht aus - etwa die Frage der Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg. Deutsche und russische Historiker haben zusammen das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst neu gestaltet.

Weil Geschichte in der Schule beginnt, ist die Absicht der Kommission, die Darstellung des jeweils anderen Landes in den Schulbüchern zu untersuchen, ein wichtiger Schritt zum gegenseitigen Verstehen. Die auf Initiative der ZEIT-Stiftung geplante Gründung eines Deutschen Historischen Instituts in Moskau kann den Dialog der Historiker noch stärker erleichtern. Vielleicht trägt die Zusammenarbeit der Historiker auch dazu bei, das Problem der Rückführung der Kulturgüter zu lösen.

V. Ich habe gesagt, dass von Moskau und Berlin eine große Faszination ausgeht. Moskau und die Osthälfte Berlins haben nicht weniger als einen kompletten Systemwechsel durchgemacht. Und das westliche Berlin ist dabei mit durchgeschüttelt worden, so dass es tatsächlich wieder fast überall in der Stadt ein einiges Berlin gibt - mit Unterschieden, die fortdauern und die das Leben auch manchmal spannend machen.

Der Systemwechsel hat uns Deutschen eine vereinigte Hauptstadt und den Moskauern eine neue Lebendigkeit gebracht, die während langer Zeit hinter den grauen Fassaden verschwunden schien und nur im Verborgenen blühte. Jetzt ist die Lebendigkeit wieder öffentlich und alle Besucher staunen. Moskau ist eine der faszinierendsten Städte der Welt. Das Neue Moskau wächst aus dem alten heraus. Wer hätte das vor zwanzig Jahren zu prophezeien gewagt?

Sie sind hier zusammengekommen, um über das Staunen der Welt angesichts der Entwicklung Moskaus und Berlins hinauszudenken. Faszination ist nur eine Empfindung - danach müssen Reflektion und Debatte über die Zukunft der beiden Städte und aller großen Städte weltweit folgen:

Ihr Thema heißt "Berlin und Moskau - urbane Kulturen und globale Trends". Ein spannender Städtevergleich, der nicht nur für Deutschland und Russland ein wichtiges Thema ist, weil weltweit immer mehr Menschen in die Großstädte ziehen und die Probleme immer größer werden. Thomas Jefferson war noch im Stand der Unschuld, als er sagte: "Wenn wir in den großen Städten so übereinandergestapelt werden wie in Europa, werden wir so korrupt werden wie die Europäer." Richtig ist aber wohl, dass die Qualität des Stadtlebens im 21. Jahrhundert die Qualität der Zivilisation bestimmen wird.

Ich bin gespannt auf die Ergebnisse Ihrer Diskussionen, von denen Sie mir berichten werden, und ich wünsche Ihnen einen guten weiteren Verlauf für die "Potsdamer Begegnung" hier in Moskau.