Redner(in): Johannes Rau
Datum: 4. September 2002
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/20020904_Rede.html
I. Ich bin gern zu Ihnen gekommen, weil zu den Berufseigenschaften des Bundespräsidenten die Neugier gehört. Dabei sind mir besonders die Begegnungen mit jungen Menschen wichtig, denn schließlich werden Sie die Zukunft Ihres Landes und die Zukunft der deutsch-russischen Partnerschaft in Europa bestimmen.
Ich möchte versuchen, Ihnen zu sagen, wie ich die Zusammenarbeit unserer Länder sehe, welche Entwicklungen ich in Europa erwarte und welche Rolle unsere beiden Länder gemeinsam in der Welt spielen können. Dabei will ich nicht verschweigen, dass wir die Entwicklungen in Ihrem Land mit Hoffnungen, gelegentlich aber auch mit Sorgen sehen. Ich möchte Ihre Kommentare, Ihre Hoffnungen und Ihre Sorgen gerne hören.
II. Heute sind die deutsch-russischen Beziehungen gut und umfassend. Wenn es früher Phasen deutsch-russischer Annäherung gegeben hat, ich nenne nur die Stichworte Tauroggen und Rapallo, wurden sie in Europa zum Teil argwöhnisch betrachtet, weil sie auch gegen andere Staaten gerichtet waren. Heute ist die deutsch-russische Zusammenarbeit eingebettet in ein umfassendes System europäischer und transatlantischer Kooperationen. Sie ist also nicht gegen andere gerichtet. Sie ruht auf einem Netzwerk dichter Beziehungen und sie ruht auf einer gemeinsamen Basis, nämlich dem Wunsch, den Frieden zu erhalten und Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zu mehren.
Die Wirtschaftsbeziehungen sind ein tragendes Element dieser Zusammenarbeit. Dabei ist klar: In dem Maße, wie Russland seine Wirtschaft und Gesellschaft modernisiert und die Rahmenbedingungen für Handel und Investition verbessert, wird auch der Wirtschaftsaustausch weiter zunehmen. Schon jetzt ist Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands, und die deutschen Direktinvestitionen sind im Vorjahr erstmals wieder gestiegen.
Dabei betrachtet Deutschland Ihr Land Russland nicht nur als Rohstoff- und Energielieferanten. Wir fördern eine starke russische Volkswirtschaft mit vielen international konkurrenzfähigen Wirtschaftszweigen. Die Erweiterung der wirtschaftlichen Basis und die Entwicklung solider mittelständischer Unternehmen fördern den Wohlstand breiter Schichten und tragen damit bei zu wirtschaftlicher und politischer Stabilität. Das ist in unserem gemeinsamen Interesse.
Die Kultur gehört zu den besonders tragfähigen und dauerhaften Brücken zwischen unseren beiden Völkern. Die gegenseitige Anziehung in diesem Bereich war bei Deutschen und Russen immer groß. Selbst in Zeiten der Not und in Zeiten des Hasses ist die Achtung vor den großartigen Werken der Kultur des jeweils anderen Landes nie ganz verloren gegangen.
III. Die deutsch-russische Partnerschaft entwickelt sich nicht immer geradlinig. Es gab glückliche Zeiten in der gemeinsamen Geschichte, etwa unter Peter dem Großen, und es hat auch Tragödien unvorstellbaren Ausmaßes gegeben. Die Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs sind unvergessen, und gerade vor dem Hintergrund dieser Katastrophe ist es schwer, neues Vertrauen zu gewinnen. Neues Vertrauen ist aber die Grundlage unserer Partnerschaft. Daher stimme ich Präsident Putin zu, der im Deutschen Bundestag gesagt hat: "Wir sprechen von einer Partnerschaft, in Wirklichkeit haben wir immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen."
Die historische Erfahrung lässt sich nicht mit einem Schlag abschütteln. Natürlich bleiben in unserem Verhältnis noch viele Fragen offen, und natürlich bleiben auch Verpflichtungen, die aus unserer Geschichte erwachsen und die als Mahnung fortbestehen. Dazu gehört etwa die "Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft". Dazu gehört die Pflege der Gedenkstätten und der Ehrenmale für sowjetische Gefallene in Deutschland und die Pflege der Gräber deutscher Soldaten in Russland. Ich weiß, wie wichtig es ist für die Angehörigen gefallener Soldaten, ein Grab zu haben, das sie besuchen und auf das sie Blumen legen können, an dem sie sich erinnern können an die Menschen, die sie verloren haben. Dazu gehört auch das Problem der Rückgabe von Kulturgütern. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass der Wunsch und der Wille besteht, die Türen endlich und für immer weit zu öffnen.
IV. Deutschland ist engagiertes Mitglied in der Europäischen Union und im Nordatlantischen Bündnis. Wir sind Teil der europäisch-atlantischen Wertegemeinschaft. Unsere Außenpolitik ist europäische Außenpolitik.
Jede Zeit hat ihr eigenes Gesetz. Russland ist in der neuen Zeit auf gutem Wege, sich an die europäisch-atlantischen Strukturen anzuschließen. Wir begrüßen die Westorientierung der russischen Politik unter Präsident Putin ausdrücklich. Die Gegensätze der Systeme und der Ideologien gehören wirklich und unwiderruflich zur Vergangenheit. Der Kalte Krieg ist zu Ende.
Die Staaten der EU wollen, dass Russland sich nicht nur außenpolitisch nach Westen orientiert, sondern dass Russland umfassend im neuen Europa mitarbeitet. Europa braucht Russland und Russland braucht Europa. Ich bin davon überzeugt, dass es für keine Seite eine Alternative zu einer immer engeren Zusammenarbeit gibt.
Die Vielfalt nationaler und regionaler Identitäten in Europa macht unseren Kontinent ganz einzigartig. Ich glaube aber, dass es auch eine gemeinsame europäische Identität gibt, die auf gemeinsamen Werten, Erfahrungen und Traditionen beruht. Helmut Schmidt hat die europäische Identität einmal so beschrieben: Sie bezieht sich zunächst auf die Kultur im engeren Sinne: Religion, Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Architektur, Malerei. Sodann umfasst sie die politische Kultur, basierend auf den Idealen der Würde und der Freiheit der Person sowie gleicher Grundrechte. Es ist die Kultur der demokratischen Verfassungen, des Rechtsstaates mit geordnetem privaten und öffentlichen Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicher Macht und Kirche. Es ist die Kultur des Wohlfahrtstaates und des Willens zu sozialer Gerechtigkeit."
Russland hat Großartiges zur europäischen Kultur beigetragen, die Werke seiner Komponisten und Dichter sind ein unvergänglicher Teil unseren gemeinsamen Erbes. Wer an der umfassenden europäischen Zusammenarbeit teilhaben will, sei es als Partner oder als Mitglied der EU, muss sich aber auch mit den europäischen Werten identifizieren. Darum verfolgen wir mit großer Aufmerksamkeit den Konflikt in Tschetschenien und die Entwicklung der Pressefreiheit und der Meinungsvielfalt in Russland, denn auch dabei geht es um unsere gemeinsame Identität.
Ich glaube, dass der ökonomische und gesellschaftliche Wandel in Russland unumkehrbar ist, weil die junge Generation in Russland ihn akzeptiert und sich seinen Herausforderungen stellt.
Die Reformen in Russland werden auch international anerkannt. Russland und die EU sind miteinander verbunden durch ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, das als Perspektive einen gemeinsamen Wirtschaftsraum vorsieht.
Wir wissen auch, dass Russland mit seinen vielen Völkern, Religionen und Kulturen Interessen verfolgt, die weit nach Asien hineinreichen. Die europäische Partnerschaft mit Russland muss deshalb auf zwei Pfeilern ruhen: Auf der kulturellen Vielfalt und auf dem gemeinsamen Wertekanon. Das ist die Basis für ein Zusammenfinden im gemeinsamen europäischen Haus.
Der 11. September 2001 hat uns die neuen Gefahren unserer Zeit vor Augen geführt: die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und durch die weltweite Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Das sind Gefahren, die uns alle betreffen und auf die wir gemeinsame Antworten finden müssen. Wer den internationalen Terrorismus wirklich besiegen will, der muss durch politisches Handeln dafür sorgen, dass den Propheten der Gewalt der Boden entzogen wird. Armut und Ausbeutung, Elend und Rechtlosigkeit lassen Menschen verzweifeln. Wer religiöse Gefühle und auch kulturelle Traditionen missachtet, der nimmt den Menschen Hoffnung und Würde.
Zu den Herausforderungen, die gemeinsames politisches Handeln nötig machen, gehören auch die Globalisierung der Wirtschaft, die Bedrohung der Umwelt oder die Gefährdung des Friedens in vielen Regionen der Welt. Wir müssen dabei die bewährten Institutionen nutzen: die Vereinten Nationen, die NATO, die EU und die OSZE.
Russland hat mit der NATO einen neuen Arbeitsmechanismus gefunden, der sichert, dass Ihr Land in die Diskussion und die Beschlussfassung in der Allianz eingebunden wird. Damit hat die NATO gezeigt, dass sie mit Russland gemeinsam Verantwortung übernehmen will.
Beim Aufbau einer dauerhaften und stabilen Friedensordnung in ganz Europa kommt auch der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( OSZE ) eine wichtige Rolle zu. Die OSZE fördert Menschenrechte, Demokratie und Rechtssicherheit in allen ihren Mitgliedsstaaten. Sicherheit in Europa kann sich nicht allein nach militärischen Fähigkeiten definieren. Sicherheit muss sich stützen auf eine prosperierende Wirtschaft, auf Demokratie, die vom Vertrauen der Bürger getragen wird, und auf eine zivile Gesellschaft.
V. Deshalb möchte ich unserer Diskussion, auf die ich mich sehr freue, vier Fragen voranstellen:
Soweit meine Beobachtungen und Thesen. Ich bin auf Ihre Kommentare und Fragen gespannt. Dass wir dabei offen und vor laufenden Kameras diskutieren können, das halte ich für ein gutes Zeichen.