Redner(in): Roman Herzog
Datum: 29. Oktober 1995

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/10/19951029_Rede.html


Ich will zunächst folgendes sagen: Gegenwart und Zukunft der Deutschen Gewerkschaften sind für mich von größtem Interesse. Denn die Gewerkschaften im allgemeinen und die IG Metall als größte Einzelgewerkschaft im besonderen, sie tragen Mitverantwortung für unsere Gesellschaft, für unsere Wirtschaft und Sozialordnung. Ich bin deshalb ausgesprochen gern Ihrer Einladung gefolgt, ohne meine Anwesenheit allerdings überbewerten zu wollen: Denn ich halte es für eine schlichte Selbstverständlichkeit, daß ein Bundespräsident genauso Kontakt zu Gewerkschaften hält wie zu den Verbänden der Wirtschaft.

Gewerkschaften sind ein konstitutives, ja ein lebenswichtiges Element unseres Staats- und Wirtschaftslebens. Im letzten Jahrhundert, als sich Gewerkschaften in Deutschland als Notgemeinschaften der Arbeiterschaft bildeten und erst langsam zu einer politischen Kraft heranwuchsen, war das wahrlich nicht vorhersehbar.

Das war die Zeit, als ein deutscher Kaiser erklärte: "Gegen die Arbeiterbewegung bin ich zum Kampf auf Leben und Tod bereit und entschlossen". Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte hat vor kurzem anläßlich eines Gewerkschafter-Symposiums in meinem Amtssitz in Berlin auf diese historische Belastung für das Verhältnis von Staat und Gewerkschaften in Deutschland hingewiesen. Seitdem haben wir einen langen Weg zurückgelegt - von der staatlich verordneten Gegnerschaft zur Sozialpartnerschaft als wesentlichem Element unserer Wirtschaftsordnung.

Sozialpartnerschaft ist das Erfolgsrezept unserer Nachkriegsgeschichte geworden. Sie hat den Wiederaufbau und den Aufstieg Deutschlands in die Spitzengruppe der Industrienationen möglich gemacht. Sie hat uns zu einer Gesellschaft mit breitem Wohlstand werden lassen. Eine schwache Gewerkschaft könnte weder Kompromisse zustandebringen noch sie nach innen durchsetzen. Gewerkschaften haben die soziale Dimension der Marktwirtschaft in Deutschland mitgeprägt und den Ausbau des Sozialstaates über Jahrzehnte hinweg wesentlich vorangetrieben.

Soziale Marktwirtschaft ohne funktionsfähige Gewerkschaften ist heute nicht mehr denkbar und ich füge bewußt hinzu: Funktionsfähigkeit setzt auch Stärke voraus.

Die deutschen Gewerkschaften haben ihren "Frieden mit der Marktwirtschaft" gemacht. Auch sie setzen auf die innovative Funktion von Markt und Unternehmertum. Sie haben erreicht, daß die Arbeitnehmer in Deutschland in besonderem Maße in ihren Unternehmen mitbestimmen, aber auch mitverantworten, und daß sie einen besonderen Anteil an den Früchten der Sozialen Marktwirtschaft haben. Damit haben die Gewerkschaften zugleich wesentlich zur Identifikation der Arbeitnehmer mit unserem Staat beigetragen.

Eine große gesellschaftspolitische Integrationsleistung vollbringen die Gewerkschaften auch in der schwierigen Anpassungsphase nach der Wiedervereinigung. Die IG Metall und die übrigen Gewerkschaften haben die Menschen in den neuen Bundesländern begleitet auf dem schwierigen Weg aus der sozialistischen Planwirtschaft in eine Wettbewerbswirtschaft. Sie haben dabei mit Engagement die Interessen der ostdeutschen Arbeitnehmer vertreten, auch wenn nicht immer unumstritten war, welche Tarifpolitik deren Belangen im wirtschaftlichen Anpassungsprozeß am besten nützt.

Daß auch Erwartungen enttäuscht wurden, war wohl unvermeidlich. Ich halte es aber für unberechtigt, den Mitgliederschwund in den neuen Bundesländern als Zeichen des mangelnden Erfolgs gewerkschaftlicher Tätigkeit zu nehmen. Bezogen auf den geschrumpften Beschäftigtenstand hat der gewerkschaftliche Organisationsgrad zumindest bei der IG Metall sogar zugenommen.

In Osteuropa haben die deutschen Gewerkschaften ebenfalls Hilfe beim Aufbau moderner, wirklich freier Gewerkschaften geleistet. Und, wie ich mir habe sagen lassen, im Einzelfall waren sie aus wohlerwogenen Gründen sogar Geburtshelfer bei der Entstehung mancher Arbeitgeberverbände; das ist konsequent, denn wo das Gegenüber fehlt, kann man mit niemandem verhandeln.

Auch im wiedervereinigten Deutschland stehen die Gewerkschaften nach wie vor für ein System der sozialen Integration und des sozialen Friedens. Über Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz ist eine weltweit einzigartige Kooperationskultur geschaffen worden, um die uns viele in Europa und in der ganzen Welt beneiden.

Beide Seiten, Gewerkschaften wie Arbeitgeber, müssen dafür allerdings in etwa gleich stark sein. Nur dann funktioniert das System. Und beide Seiten müssen den im Konflikt erreichten Kompromiß anschließend bei ihren Mitgliedern verteidigen, meist mit den vorherigen Argumenten des Gegners. Das ist im Einzelfall sicher schwierig. Aber damit ist in das System auch ein besonderer Stabilisator eingebaut. Zwar muß gewerkschaftliches Handeln konfliktfähig, notfalls auch konfliktbereit sein. Aber stets hat es zugleich Kooperation aufgrund geschlossener Übereinkünfte oder gemeinsamer Interessen zum Ziel.

So erfolgreich die deutschen Gewerkschaften und die Arbeitgeber in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg waren: Beide müssen jetzt die Anpassung meistern, die durch die umfassende Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft notwendig wird.

Wir müssen auf die rasanten Veränderungen der letzten fünf Jahre reagieren:

1. auf den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und damit auf die Diskreditierung aller Modelle, die gesellschaftliche Ziele ohne oder gegen den Markt verwirklichen wollten;

2. auf die Integration von mehr als zwei Milliarden Menschen des früheren Ostblocks und des Südens in die marktwirtschaftlich organisierte Weltwirtschaft und

3. auf den enormen Schub an neuen Technologien.

Folgen all dieser Veränderungen sind die bekannte Globalisierung jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit, ein weltweiter Wettbewerb um Produkte, Produktionsverfahren, Arbeitskosten und Arbeitsplätze, um Sozialstandards und Standorte durch im Weltmaßstab operierende, sich gleichzeitig immer weiter aufspaltende,"fraktale" Unternehmen - wie das neudeutsche Wort dafür heißt.

Auf der einen Seite bieten sich damit neue Chancen und Möglichkeiten: Für die Industrieländer wachsen neue Absatzmärkte, neue Partner mit ähnlichen politischen Interessen heran: in Osteuropa, Lateinamerika, Asien. Marktwirtschaft und Wettbewerb bringen die Chance auf Entwicklung und Wohlstand, auf Überwindung von Hunger und Armut. Der Weltfriedekannsicherer werden.

Auf der anderen Seite sind aber auch die Risiken unverkennbar: Arbeitslosigkeit, Abbau sozialer Standards und Einkommensrückgang bei vielen Beschäftigten in den Industrieländern. Und in den Entwicklungsländern Diskriminierung, Zwangs- und Kinderarbeit, Unterdrückung von Gewerkschaften, von den globalen ökologischen Risiken ganz zu schweigen.

Wir sind alle gemeinsam aufgerufen, hier zu praktikablen Lösungen zu kommen.

Zuallererst müssen wir uns in Deutschland diesem Globalisierungsprozeß im eigenen Interesse und ohne Abschottung stellen. Freihandel ist kein Nullsummenspiel. Er bietet Vorteile für alle Beteiligten. Unsere Welt geht nicht unter, wenn Autos auch aus Spanien oder Korea, Computer aus Singapur oder Malaysia und Massenstähle aus Polen oder Tschechien kommen, solange wir uns nur erfolgreich mit besonders hochwertigen Qualitätsprodukten behaupten.

Allerdings konkurrieren wir auf den Weltmärkten heute mit Wettbewerbern, die uns gegenüber - zugespitzt formuliert - den scheinbaren Standortvorteil geringerer sozialer Verantwortung, geringerer sozialer Lasten, haben. Wenn wir also unsere kurzen Arbeitszeiten, unsere hohen Einkommen und ein starkes Sozialsystem behalten wollen, dann müssen wir deshalb in den technischen Entwicklungen, aber auch in der Beweglichkeit und in der Produktivität den anderen immer - wie ich zu sagen pflege - um zwei, drei Pferdelängen voraus sein und voraus bleiben.

Unser gesamtes System der Sozialen Marktwirtschaft muß daher wieder offener und flexibler werden. Nur dann kann es erfolgreich bleiben.

Soziale Gerechtigkeit ist dabei keineswegs ein negativer Standortfaktor. Investitionsentscheidungen werden ja nicht nur auf der Grundlage bloßer Lohnvergleiche getroffen. Produktivität sowie soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität spielen gleichermaßen eine Rolle. Alles andere wäre kurzsichtig. Manches ausschließlich auf bestimmte Kostenvorteile gestützte Auslandsengagement ist schon teuer bezahlt worden!

Was können die deutschen Gewerkschaften in dieser schwierigen Phase tun? Ich habe Ihnen keine Ratschläge zu erteilen und Sie würden sich das auch verbitten. Ich wünsche mir jedenfalls, daß sie auch weiterhin die Rolle eines positiven Standortfaktors spielen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht für die neuen globalen Herausforderungen starke, moderne Gewerkschaften. Jeder einsichtige, langfristig denkende Unternehmer wird Ihnen das auch heute noch bestätigen.

Das gilt für den verschärften internationalen Wettbewerb, aber auch für den Wandel innerhalb Deutschlands: die Umweltprobleme, die unerträglich hohe Arbeitslosigkeit, aber auch für den veränderten Stellenwert der Arbeit, die Ausdehnung des Dienstleistungssektors, die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit und die Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Gerade dieser letzte Punkt liegt mir sehr am Herzen. Es ist höchst problematisch, Menschen eine bestimmte Anpassung an Arbeitstakte von Maschinen abzuverlangen - mit der Folge, daß familiäre Strukturen beschädigt werden oder die Bürger aus beruflichen Gründen ihren Kinderwunsch unterdrücken! Heute bestünde doch mehr denn je technisch und organisatorisch die Chance, Arbeitsformen maßzuschneidern. Ich würde mir sehr wünschen, daß sich die Tarifparteien - und ich meine beide! - stärker diesem Humanisierungsaspekt widmen. Eine familien- und kinderfeindliche Arbeitswelt rächt sich für die gesamte Gesellschaft. Für die heutigen Arbeitnehmer spätestens dann, wenn eines Tages niemand mehr ihre Alterssicherung erarbeiten kann.

Kurzum: Auch hier sind die Gewerkschaften als "Zukunftswerkstatt" gefordert, wie es die Hans-Böckler-Stiftung einmal ausgedrückt hat.

Denn heute entscheiden sich Arbeitnehmer weniger aus Gründen der Tradition, sondern schlichtweg aus nüchternen Nutzenerwägungen für oder gegen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, nach dem Motto: Bringt mir mein Beitrag etwas oder nicht? Diese Frage beantwortet sich nicht allein durch die Höhe des Lohnes. Es geht auch um Arbeitsformen, die am Lebensrhythmus der Menschen maßnehmen. Die Ressource Mensch - eigentlich schon eine inhumane Formulierung - pfleglich zu behandeln ist besonders in einer Gesellschaft überlebenswichtig, die von der Kreativität und Schaffenskraft ihrer Bürger lebt.

Auch dem gewandelten Stellenwert der Arbeit im Leben der Menschen müssen wir gesteigert Rechnung tragen. Erwerbsarbeit ist für immer mehr Menschen nicht mehr der zentrale, alles andere überstrahlende Lebensinhalt. Angesichts zunehmender Individualisierung hat ohnehin die Neigung abgenommen, sich in Gruppen zu engagieren und ihnen vorbehaltlos die Vertretung der eigenen Interessen zu überlassen. Auch der stetige Trend zur Dienstleistungsgesellschaft lockert traditionelle Bindungen an Gewerkschaften.

Auf all diese Entwicklungen müssen die Gewerkschaften, müssen Sie, meine Damen und Herren, mit innovativen Konzepten reagieren - organisatorisch und politisch.

Wichtigstes Problem für Gewerkschaften und Gesellschaft bleibt die Arbeitslosigkeit. Wir können es weder politisch noch wirtschaftlich hinnehmen, daß in Deutschland 3 1/2 Mio. Menschen arbeitslos sind. Eine Zukunft ohne einen wirklich spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit, insbesondere bei den Langzeitarbeitslosen, kann ich mir nicht vorstellen.

Lassen Sie mich es in aller Deutlichkeit sagen: Hier tragen wir alle, auch die Tarifparteien, eine große, gewaltige Verantwortung. Die Frage lautet: Wie kann eine Tarifpolitik gleichermaßen die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer wie derjenigen berücksichtigen, die nach einem Arbeitsplatz suchen?

Mit den Ideen und Konzepten von gestern allein werden wir diese große Herausforderung von heute und morgen sicherlich nicht meistern können. Albert Einstein hat es sinngemäß einmal so formuliert: "Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung Anlaß gegeben haben!". Es sollte also in der notwendigen Diskussion über eine arbeitsplatzschaffende Tarifpolitik nicht von vornherein Tabuthemen geben.

Mir steht keine Bewertung der Einzelheiten zu; aber ich bin überzeugt, daß die Gewerkschaften solche früheren Tabus aufgeben, wenn die Arbeitgeber gleiches tun. Das ist nötiger denn je.

Ich bin für alle Anstöße in diesem Zusammenhang dankbar - gerade weil wir die bewährten Vorteile unseres Arbeitsmarkt- und Tarifvertragssystems erhalten müssen.

Den notwendigen Wandel bewältigen heißt auch hier, die richtige Balance zwischen Kontinuität und Flexibilität zu finden. Es gibt inzwischen vielfältige Formen flexibler Tarifverträge. Manchmal gingen kleinere Gewerkschaften als "Pfadfinder" voraus. Aber inzwischen ist die Botschaft bei allen angekommen. Es mag in unserem System der Tarifautonomie manchmal etwas länger dauern, bis notwendige Neuerungen überall umgesetzt werden. Im freiwilligen Konsens erzielte Vereinbarungen sind dann aber auch weiterreichend und stabiler.

Viele erfreuliche, arbeitsplatzschaffende Neuerungen sind durch Arbeitgeber und Gewerkschaften so schon auf den Weg gebracht worden - auch durch die IG Metall. Manches wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen. Beschäftigungsziele rangieren zunehmend gleichrangig mit den Einkommenszielen. Die Bereitschaft zur Flexibilität hat zugenommen.

Dazu gehören m. E. auch bessere Vorkehrungen in den Tarifverträgen, mit denen rasch auf unerwartete, umfassende Änderungen des wirtschaftlichen Umfeldes reagiert werden kann. Wenn es den Unternehmen unverschuldet wesentlich schlechter, aber natürlich auch, wenn es ihnen unverschuldet wesentlich besser geht, sollten die Tarifparteien darauf auch während der Laufzeit eines Tarifvertrages angemessen reagieren können.

Dann wäre es für beide Seiten auch leichter möglich, Tarifverträge über einen längeren Zeitraum abzuschließen und so die Planungssicherheit auf beiden Seiten zu verbessern. Gerade die IG Metall war hier in den 80iger Jahren schon einmal vorbildlich mit dem Abschluß von zum Teil dreijährigen Tarifverträgen.

Die Tarifpolitik wird auch stärker auf regionale und betriebliche Besonderheiten Rücksicht nehmen, sie wird Einheitlichkeit und Vielfalt gleichermaßen zulassen müssen. Der Ansatz tariflich geregelter Wahlmöglichkeiten sollte deshalb erweitert und vertieft werden. Nur dann kann unser deutsches Tarifsystem im globalen Standortwettbewerb überleben.

Ich begrüße es sehr, daß die IG Metall in ihrem Konzept "Tarifreform 2000" für die Industriearbeit der Zukunft einen neuen Gestaltungsrahmen zur Diskussion gestellt hat.

Wir kommen insgesamt um die Erkenntnis nicht herum: Nicht nur Unternehmen, sondern auch Arbeitsplätze müssen wettbewerbsfähig bleiben oder es wieder werden. Ohne Wirtschaftlichkeit schaffen wir ' s auf dem Arbeitsmarkt nicht. Aber ich füge hinzu: Ohne Menschlichkeit ertragen wir es nicht!

Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit liegen oft näher beieinander, als es zunächst scheint. Beides verlangt mehr Bewegungsbereitschaft und neue Modelle auch bei der Arbeitszeit. Die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Zeitsouveränität in ihren individuellen Lebensoptionen müssen endlich ernst genommen werden. Mit gleichem Nachdruck zwingt uns der immer intensivere globale Wettbewerb aber auch dazu, durch längere Maschinenlaufzeiten Kosten zu senken. An beidem haben moderne Gewerkschaften auch ein ureigenes Interesse. Zwischen beiden Zielbündeln besteht kein unüberbrückbarer Gegensatz. Gerade die IG Metall ist hier mit vielen, durchaus wegweisenden Modellen an die Öffentlichkeit getreten.

Viele der schon vereinbarten Flexibilitäten werden allerdings noch nicht ausreichend genutzt. Sicher ist die Forderung nach noch weitergehender Flexibilität durchaus begründbar. Aber sie gewönne an Plausibilität, wenn die bereits vorhandenen Flexibilitätsspielräume wirklich eingesetzt würden.

Vergessen wir bei der Klage über die angeblich mangelnde Flexibilitätsbereitschaft der Arbeitnehmer auch nicht, daß wir in Deutschland einen in Europa weit überdurchschnittlich hohen Anteil an Schicht- , Nacht- und Wochenendarbeitnehmern haben. Vielleicht reicht das angesichts des internationalen Wettbewerbs immer noch nicht aus; es muß aber gewürdigt werden.

Zu dieser Überschrift gehört auch die Möglichkeit eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand. Es entspricht doch keinem vernünftigen Lebensrhythmus, bis 65 die volle Stundenzahl zu arbeiten und sie dann an einem Stichtag auf Null zu reduzieren. Warum nicht sich Schritt für Schritt zurückziehen. So bleibt den Betrieben Erfahrungswissen und den Beschäftigten der Kontakt zur Arbeitswelt.

Wenn die Gewerkschaften hier im eigenen Lager, aber auch auf der Arbeitgeberseite noch vorhandene Widerstände überwinden, entsprechen sie nicht nur den Bedürfnissen vieler Arbeitnehmer. Sie schaffen gleichzeitig auch zusätzliche neue Arbeitsplätze. Daß gerade hier auch der Rentengesetzgeber gefordert ist, will ich hier nur als Merkposten hinzufügen.

In die Zukunftswerkstatt der Gewerkschaften gehört meiner Meinung nach auch ein neuerliches unvoreingenommenes Nachdenken über eine größere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktiveigentum. Die geringe Beteiligung breiter Arbeitnehmerschichten am Produktiveigentum in Deutschland ist für mich nach wie vor beunruhigend. Und vielleicht stehen wir auch hier vor einem neuen Lebensgefühl unserer jüngeren Mitbürger. Zu der "Generation der Erben", von der wir so oft reden, gehören ja auch viele Arbeitnehmer. Sollten sie nicht ein ganz anderes Gefühl für Anteilseigentum haben als ihre Eltern und Großeltern, die die heutige Erbmasse erst aus ihrem Arbeitseinkommen schaffen mußten?

Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben hierzu im vergangenen Jahr durch eine wichtige gemeinsame Publikation einen neuen, sehr verdienstvollen Anstoß gegeben. Ich würde mich sehr freuen, wenn er von der Gewerkschafts- wie der Arbeitgeberseite aufgegriffen und ohne Tabus diskutiert würde. Und wenn die Politik dafür den rechtlichen Rahmen schüfe.

Die Arbeitsgesellschaft der Zukunft, um eine weitere Aufgabe für die gewerkschaftliche Zukunftswerkstatt anzusprechen, wird ökologisch und umweltverträglich ausgerichtet sein müssen, oder sie wird nicht sein. Nachhaltiges Wachstum, sparsamer und schonender Umgang mit den Ressourcen werden national wie global zum unternehmerischen wie zum gewerkschaftlichen Muß. Nur umweltverträgliche Produkte, Produktionsverfahren und Arbeitsplätze werden im globalen Wettbewerb auf Dauer sicher bleiben können, ja sie werden uns auf lange Zeit einen Konkurrenzvorsprung sichern.

Ich begrüße es, wenn die Gewerkschaften diesen erkennbaren Strukturwandel nicht bremsen, sondern ihn sogar ausdrücklich fordern. Der wirtschaftliche Erfolg unseres Landes gerade auch auf diesem Gebiet - Deutschland ist jetzt schon Weltmeister beim Export von Umweltprodukten und -technologien - zeigt Ihnen schon jetzt, daß Sie hier auf dem richtigen Weg sind.

Die europäische Integration, die wirtschaftliche wie die politische, wird von den Gewerkschaften bejaht. Sie setzen sich mit Engagement dafür ein, daß die soziale neben der wirtschaftlichen und politischen Dimension den gleichen Rang erhält, was ich ausdrücklich unterstütze.

Ein wirtschaftlich, sozial und politisch gleichermaßen erfolgreiches Europa bedeutet aber nicht Vereinheitlichung, Normierung, Standardisierung und Beseitigung aller nationalen Unterschiede. Die europäische Vielfalt sollte auch hier erhalten bleiben, auch die Vielfalt der sozialpolitischen Lösungsansätze.

Weder politisch noch wirtschaftlich wäre es - zumindest für eine Übergangszeit - zu verkraften, alles zu vereinheitlichen, z. B. auf dem einheitlich deutschen Niveau. Das läge weder in unserem eigenen Interesse - denn wir würden voraussichtlich dafür bezahlen müssen - noch im Interesse unserer Partnerländer. Stattdessen sollten Schritt für Schritt die sozialen Mindeststandards harmonisiert und vorsichtig ausgebaut werden. Das ließe dann auch Spielraum für Lösungen in den Mitgliedsländern, die an jeweiligen Traditionen und Möglichkeiten orientiert sind.

Alles in allem bin ich, ohne die Probleme beschönigen zu wollen, zuversichtlich, daß die Gewerkschaften die Herausforderungen an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert bestehen werden. Auch in den vergangenen Jahrzehnten haben die deutschen Gewerkschaften den Strukturwandel überwiegend besser überstehen und - vor allem - besser mitgestalten können, als ihre Partnerorganisationen in anderen Industrieländern.

Wenn die deutschen Gewerkschaften das Motto dieses 18. ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall "Kämpferisch, Offen, Solidarisch" in allen Facetten verwirklichen, brauchen sie sich - brauchen wir uns - um ihre, und unsere Zukunft keine Sorgen zu machen.