Redner(in): Roman Herzog
Datum: 8. November 1995
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/11/19951108_Rede.html
I. Röntgens Entdeckung der X-Strahlen war eine bahnbrechende Erfindung, die unschätzbare Fortschritte für die Diagnose und Therapie von Krankheiten brachte. Es war, wie es in einer der zahlreichen Röntgenbiographien heißt, der "Aufbruch in die Innenräume der Materie". Im übrigen ist sie eine der wenigen Erfindungen, die im Deutschen den Namen des Erfinders trägt. Sie wurde bereits zu ihrer Zeit weltweit als wissenschaftliche Sensation anerkannt und fand in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit eine ungewöhnliche Resonanz. Am 9. Januar 1896 gratulierte Kaiser Wilhelm II. dem Physiker Wilhelm Conrad Röntgen zu seiner Entdeckung, und schon fünf Jahre später, im Jahre 1901, erhielt Röntgen den ersten Nobelpreis für Physik.
Mir bietet das Röntgen-Jubiläum einen willkommenen Anlaß, wieder einmal über die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung auch in ihrer Beziehung zu Wirtschaft und Gesellschaft zu sprechen. Wenn sich die Gesellschaft verändert - und das tut sie ohne Zweifel - , dann müssen auch Wissenschaft und Forschung diese Veränderung mitmachen, ja ihr möglicherweise sogar vorangehen. Denn in der weltweiten Konkurrenzlage, in der wir uns befinden, spielt der Zeitfaktor eine immer größere Rolle.
Ich will hierzu an eine Geschichte erinnern, die deutlich macht, wie weit der Weg von einer wissenschaftlichen Entdeckung über die experimentelle Auswertung zur tatsächlichen Anwendung sein kann. Nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen im Jahre 1895 war noch lange nicht klar, daß die Medizin auch mit den Strahlen diagnostisch arbeiten kann. Ein katholischer Pfarrer, Max Maier, im altbayerischen Schaufling hörte von der Entdeckung des Würzburger Professors und ließ sich einen Lichtverstärker, beschichtete Photoplatten, Akkumulatoren und Lichtmaschinen in sein Pfarrhaus bringen. Daraufhin forschte er über die Durchdringungskräfte der Röntgenstrahlen und durchleuchtete immer wieder seine eigene rechte Hand. 1899 legte er dem Professor Röntgen dann seine Doktorarbeit vor, woraufhin Röntgen schlicht kommentierte: "Das ist der Diagnosedurchbruch, jetzt erst kann mit den Strahlen gearbeitet werden." Der Schüler verhalf also der Erfindung des Meisters zum Durchbruch. Die Neugier und die Genialität zweier Menschen kamen zusammen.
So muß in der Forschung ein Rädchen ins andere greifen. Die Erkenntnisse bauen aufeinander auf. Grundlagenforschung wird anwendungsbezogen durch Menschen, die die Theorie mit der Praxis verbinden können. Und erst beide Forschungsarten zusammen erbringen Nutzen für den Menschen. Und noch etwas anderes kann man hier lernen: Forschung kann selbst gefährlich sein, und sie kann auch darüber hinaus gefährliche Folgen haben. Pfarrer Maier starb an den noch unbekannten Folgen der Strahlen. Die Technikfolgenabwägung war damals noch kein Thema; und sie ist es zu Recht heute. Gerade in diesen Tagen stehen wir ja auch wieder in einer Debatte über die nötige Vorsicht bei der Anwendung der Röntgenstrahlen.
Das Beispiel dieser Strahlen macht aber noch etwas deutlich. Eine Erfindung, so bedeutend sie in ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen sein mag, wird nur dann für den Menschen wirksam, wenn an ihrer Entwicklung und ihren praktischen Anwendungen sukzessive oder parallel weiter gearbeitet wird. Wer hier - und sei es von politischer Seite - die Hürden zu hoch legt, vermeidet möglicherweise Gefahren. Er verhindert unter Umständen aber auch, daß Menschen ernährt oder geheilt, Umweltprobleme gelöst oder die Zeituhr globaler Sicherheitsrisiken angehalten wird. Man kann auch durch Forschungsreglementierung Risiken heraufbeschwören oder sogar ihre Abwendung verhindern.
Nur weil seit der Erfindung der Röntgenstrahlen weitergeforscht wurde, haben wir heute verfeinerte Methoden der sogenannten "Durchleuchtung", ob sie nun Tomographie oder Ultraschall heißen. Wenn wir eine Erfindung wie die Röntgenstrahlen feiern, feiern wir also zugleich die Impulse für die weitere Forschung, die sie gegeben haben, und die Wissenschaftler, die den Spuren Röntgens gefolgt sind.
Das Beispiel Röntgens macht außerdem deutlich, daß die negativen Nebenwirkungen einer Technologie durchaus beseitigt werden können. An einer Röntgenaufnahme stören sich heute nur noch die wenigsten, weil sie den konkreten Nutzen verstehen und täglich vor Augen haben. Ich füge dem aber hinzu: Die Aufklärung über die Beherrschbarkeit der Risiken und den verantwortlichen Umgang mit Techniken ist Voraussetzung für ihre Anerkennung. Es gibt irrationale Reaktionen, wenn Sinn und Zweck von Forschung und Technik den Betroffenen nicht klar genug erklärt werden. Und: Hier können nur die Forscher selbst wirkliche Aufklärungsarbeit leisten. Der Dialog zwischen Wissenschaftlern und Öffentlichkeit wird folglich immer wichtiger. Dafür sollte sich auch kein Forscher zu gut sein. Da auf die Politiker zu warten ist ungerecht.
Ich frage mich oft, ob es nicht gerade damit zusammenhängt, daß die Forschung in Deutschland nicht mehr Anerkennung und Lob findet.
Anhand der Röntgenstrahlen lassen sich übrigens Probleme diskutieren, die wir heute bei vielen Entdeckungen und Erfindungen haben. Sie können ebenso zerstörend wie heilbringend sein; es kommt also darauf an, daß ihr Einsatz ausschließlich humanen Zwecken dient. Das klingt vielleicht in manchen Ohren zu abstrakt. Aber auch das ist unvermeidlich. Carl-Friedrich von Weizsäcker sagte einmal ganz zu Recht: Die eigentlichen Probleme der Zukunft sind nicht Probleme der Technik, sondern Probleme der Ethik.
Die humane Ausrichtung ist auch nicht mehr als die Frage nach dem Ethos des einzelnen Wissenschaftlers. Sie hat ein eindeutiges allgemeines Kriterium; daß der Nutzen der Forschung für den Menschen oberstes Ziel bleibt und daß der Mensch Subjekt, nicht Objekt der Forschung ist. Wir brauchen die Neugier, die Leidenschaft und den Eifer der Wissenschaftler, denn nur durch sie sind Fortschritte in der Forschung möglich. Aber ebenso dringend brauchen wir den verantwortungsvollen Umgang mit den Ergebnissen der Forschung.
Mir ist weiterhin die Überwindung von Hindernissen für die wissenschaftliche Ausbildung und Forschung in Deutschland wichtig. Mir geht es dabei nicht um einen Umbau unserer Wissenschafts- und Forschungslandschaft, wohl aber um ein besseres Funktionieren, um größere Effizienz, um mehr Dynamik und um ein forschungsfreundlicheres Klima. Ich meine: Hier müssen wir etwas tun. Die Zeiten sind nicht mehr wie vor hundert Jahren. Im Vergleich zu den USA kommen - beispielsweise - in Deutschland weniger Patentierungen aus dem Hochschulbereich. Wir haben eine wachsende Zahl an arbeitslosen Akademikern und eine im internationalen Vergleich extrem lange Studiendauer. In letzter Zeit wollen wohl nicht zuletzt auch deswegen deutlich weniger ausländische Studenten aus westlichen Industrieländern in Deutschland studieren.
Lassen Sie mich diese Punkte etwas vertiefen:
Weniger als 2 % der Patentanmeldungen kommen aus der Wissenschaft. Das liegt zum Teil an achtenswerten Haltungen der Wissenschaftler selbst. Aber es liegt gewiß auch an den Kosten, die für viele von Ihnen zu hoch sind, und an der Fremdheit des Verfahrens. Die Technische Universität Dresden geht hier mit gutem Beispiel voran. Die Hochschulleitung selbst trägt dafür Sorge, daß die einzelnen Wissenschaftler ihre Erfindungen patentieren und auf den Markt bringen können. Die Einnahmen stehen nach Abzug ihrer Aufwendungen zu 90 % dem Urheber zu. Das ist ein Vorbild. Wir müssen es bundesweit möglich machen, daß jungen Leuten die Kosten für eventuelle Patente zumindest gestundet werden. Hier liegt auch eine mögliche Brücke zwischen Grundlagenforschung und wirtschaftlicher Anwendung. Diese Brücke ist elementar für unsere Volkswirtschaft. Denn es ist klar, daß die positiven ökonomischen Effekte einer Erfindung auch ein wichtiges Schwungrad der Forschung sind. Ökonomen haben nachgewiesen, daß in den USA rund 23 % des Bruttosozialproduktes auf den wissenschaftlichen Durchbruch zur Quantenmechanik in der Physik zurückgehen. Bei uns dürfte die Zahl ähnlich hoch liegen. Transistoren, Computer, Laser und nukleare Energien beruhen zwar nicht nur auf der Quantenmechanik, aber sie sind ohne sie nicht denkbar. Ich bin sicher, daß auch auf anderen Gebieten ungeahnte Potentiale brachliegen. Sie zu mobilisieren, ist eine wirtschaftliche Überlebensfrage.
Um solche Brücken zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, brauchen wir allerdings den reibungslosen Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen an diejenigen, die sie nutzen und umsetzen können. Die Nahtstelle zwischen Forschung und Wirtschaft ist nicht gut genug verschweißt. Ich nenne nur zwei Allerweltsbeispiele: Sowohl das Faxgerät als auch die Autofokuskamera wurden in Deutschland erfunden; sie sind aber primär von japanischen Firmen vermarktet worden.
Mir scheint deshalb, daß in Deutschland für die Forschung nicht die Erkenntnis- , sondern die Umsetzungshürden das Problem sind. Das liegt einerseits an übermäßigen staatlichen Reglementierungen und an überlangen und überängstlichen Genehmigungsverfahren. Es mag andererseits aber auch daran liegen, daß manche von uns eher dazu neigen, alles Theoretische höher zu schätzen als alles Praktische. Das war nicht immer so.
Wenn es heute in Deutschland Berührungsängste zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gibt, so handelt es sich also nicht um ein deutsches Wesensproblem. Es gibt nicht den geringsten Grund, das, was in den USA völlig normal ist, bei uns als dogmatische Häresie oder als treuloses Überlaufen zur anderen Fraktion zu betrachten: den Wechsel von der Hochschule ins Unternehmertum und wieder zurück. Ich habe manchmal den Eindruck, daß es heute bei uns zu viele Einbahnstraßen gibt: Wissenschaftler auf Lebenszeit, dazu verbeamtet, auf der einen Seite und Praktiker in der Wirtschaft auf der anderen Seite. Mangelnde Rückkehrrechte, fehlende Flexibilität des einzelnen und Überbequemlichkeit scheinen mir hier die Gründe zu sein.
Wir werden uns diese Einstellung nicht mehr lange leisten können. Denn die Prognosen lauten, daß weiterhin industrielle Arbeitsplätze in Deutschland verloren gehen werden, dafür aber andere in Hochtechnologiebereichen und im Dienstleistungssektor entstehen. Ich sehe hier auch gar keine Möglichkeit, in Deutschland alte Besitzstände zu wahren. Es ist eine neue internationale Arbeitsteilung im Gange, die sich nicht aufhalten läßt. Man sieht das beispielsweise schon an der doch so neuen Computerindustrie.
Gerade in der Frage der Informationstechnologie waren auch die Universitäten Vorreiter. Sie gehörten zu den ersten Institutionen, die weltweit über e-mail international vernetzt waren. Auch die digitale Übertragung von Bild, Ton, Text und anderen Informationen sind keine Utopie. Sobald diese Technik in Wohnungen und in Büros die Regel wird, werden wir mit neuen Formen der Kommunkation zu rechnen haben.
Parallel dazu müßte doch eigentlich die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Disziplinen und die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft gestärkt werden. Das gilt heute besonders deshalb, weil der Weg von der wissenschaftlichen Entdeckung bis zur wirtschaftlichen Anwendung und bis zur gesellschaftlichen Breitenwirkung teilweise sehr lang geworden ist. Hierzu will ich ein markantes Beispiel nennen:
Der erste Schritt der Informationstechnologie begann mit dem Leipziger Physiklehrer Ferdinand Braun, der 1876 auf den kristallenen Halbleiter stieß. Einen zweiten Schritt tat Konrad Zuse, als er in den dreißiger und vierziger Jahren die ersten Computer der Welt fertigstellte. Ein dritter wesentlicher Schritt folgte, als der Amerikaner Bill Shockley und seine Mitarbeiter in den vierziger Jahren den Siliciumchip erfanden. Den vierten Schritt tat IBM, als sie sich den Speicherchip für Computer patentieren ließ. Und der fünfte Schritt war dann in den siebziger Jahren die vorwettbewerbliche Forschungskooperation der japanischen Elektronikfirmen, die das Chip-Monopol von IBM brach und durch die weltweite Vermarktung der Mikroelektronik den Grundstein für eine neue industrielle Revolution legte. Heute umgibt uns das alles in den unterschiedlichsten Formen, Robotern, Fotoapparaten, Autos, Küchengeräten und schließlich Telefonkarten.
Um solche gesellschaftlichen Umbrüche, wie es die Mikroelektronik tat, anzustoßen und zu unterstützen, brauchen wir nicht nur gute Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in den Unternehmen, sondern auch ein exzellentes Hochschulwesen. Ich frage mich, ob in Deutschland der derzeitige Zustand des Universitätswesens, das wir auf ' s höchste loben, diesen Anforderungen genügt. Ich könnte mir z. B. vorstellen, daß die Studienzeiten deutlich kürzer sein könnten.
Jedenfalls geht es nicht an, daß deutsche Hochschulabsolventen im Durchschnitt rund fünf Jahre älter sind als ihre europäischen Konkurrenten. Deutsche Absolventen sind zwar hoch qualifiziert, aber sie hinken gleichaltrigen Ausländern in der Berufserfahrung deutlich hinterher. Warum sollte man nicht die unbestritten exzellenten deutschen Maßstäbe der Wissenschaft kombinieren mit den viel flexibleren angelsächsischen Modellen des Studienablaufs? Was hindert uns eigentlich daran? Das müßte ja nicht bedeuten, daß weniger qualifizierte Menschen die Universität verlassen. Vielmehr böte es denjenigen, die die Hochschule als Berufsqualifizierung sehen, eine Chance, in jungen Jahren in die Praxis zu gehen. Andere, die eher unter den wissenschaftlichen Nachwuchs gezählt werden wollen, könnten sich im Anschluß daran der speziellen Forschung widmen.
Hierher gehört auch das Thema Promotion und Habilitation. Auch hier sollten eingefahrene Wege überdacht werden. Ich habe es nie begriffen, warum in manchen Fächern in einem Jahr und in anderen Fächern erst in sechs Jahren promoviert werden kann. In naturwissenschaftlichen Fächern gleicht die Promotion oft bereits einer Habilitationsleistung. Auch bei den Habilitationsanforderungen selbst existieren zwischen den Fakultäten erhebliche Unterschiede. Hier wäre es wichtig, daß sich die Fakultäten in ihren Anforderungen angleichen. Auch das gehört zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Ich hoffe darauf, daß wir weiterhin in Deutschland die geeigneten Voraussetzungen für Forscherpersönlichkeiten schaffen. Denn ohne solche Köpfe wird sich unsere Gesellschaft in ihrer Kultur und in ihrer zivilisatorischen Leistung nicht weiterentwickeln.