Redner(in): Johannes Rau
Datum: 5. November 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/11/20021105_Rede.html


I. Herr Präsident,

Sie sind der erste frei gewählte Präsident Ihres Landes, der Deutschland nach der Wende in Europa einen Staatsbesuch abstattet. Sie kommen in einer spannenden Zeit. Ihr Land findet seinen Platz in der europäischen und transatlantischen Gemeinschaft. Ich heiße Sie in Berlin und im Schloss Bellevue ganz besonders herzlich willkommen.

Wir begleiten den Weg der Neuorientierung Bulgariens mit Anteilnahme und Sympathie. Ich habe Ihr Land 1993 als Ministerpräsident besucht und ich freue mich über die großen Fortschritte, die seither erreicht wurden. In den vergangenen Jahren hat sich Bulgarien gewandelt. Es geht den Weg zu einer lebendigen Demokratie und zu einer funktionierenden Marktwirtschaft. Wir wissen, dass die Reformen von der Bevölkerung Opfer verlangen. Das ist hart. Zu konsequenten und glaubwürdigen Reformen gibt es aber keine Alternative.

Um so mehr freuen wir uns darüber, dass Ihre Anstrengungen Erfolg haben und dass nun auch Bulgarien eine klare Perspektive für den Beitritt zur Europäischen Union hat. Ihr Land zählt an Fläche nicht zu den großen Staaten Europas, aber wir wissen: Bei der europäischen Zusammenarbeit kommt es gerade auf die kleinen Staaten an. Ich erinnere nur an den großartigen Beitrag, den die Beneluxstaaten zur Integration Europas leisten. Kleine Staaten machen unseren Kontinent vielfältig und einzigartig und sind dadurch eine besondere Bereicherung.

II. Bulgarien hat eine lange und reiche Geschichte. In ihr finden sich griechische, byzantinische, römische und nicht zuletzt thrakische Einflüsse, mit denen Sie, Herr Präsident, besonders gut vertraut sind. Erste deutsch-bulgarische Kontakte gehen in das neunte Jahrhundert zurück, als Ludwig der Deutsche auf den Reichstagen in Paderborn und Mainz bulgarische Gesandtschaften empfing. Im Jahre 853 kam es sogar zu einem förmlichen Freundschaftsvertrag mit Zar Boris I.

Einen großen Aufschwung haben die Beziehungen nach der Wiedererrichtung des bulgarischen Staates 1878 erlebt. Viele Bulgaren studierten damals in Deutschland, vor allem in Leipzig. Zu den Leipziger Studenten gehörten auch Petar Beron, der "bulgarische Leibniz" und der Dichter Penco Slavejkov. Auch heute zieht es wieder viele junge Bulgaren zum Studium nach Deutschland. Zwischen deutschen und bulgarischen Hochschulen gibt es mehr als hundertfünfzig Partnerschaften. Die Zahl deutscher Touristen in Bulgarien steigt. Ich hoffe, dass dadurch auch die Kenntnis über Ihr Land und seine Kultur in Deutschland weiter zunimmt.

Das Interesse der Wirtschaft ist jedenfalls schon geweckt. Als Handelspartner und Investor steht Deutschland in Ihrem Land an führender Stelle. Die Plovdiver Messe wird alljährlich von vielen deutschen Unternehmen genutzt, um Produkte auf dem wachsenden bulgarischen Markt vorzustellen. Ein gutes Investitionsklima und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen sind die besten Voraussetzungen dafür, dass deutsche Firmen sich verstärkt und dauerhaft in Bulgarien engagieren werden.

III. Bulgarien ist ein ruhender Pol in einer noch immer unruhigen Region. Die regionale Zusammenarbeit zu intensivieren, das ist Ihnen, Herr Präsident, ein besonderes Anliegen. Ich freue mich darüber, dass Ende September beim Treffen der Außenminister Bulgariens, Rumäniens und der Bundesrepublik Jugoslawien die Bemühungen verstärkt worden sind, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu vertiefen. Ich ermutige Sie, auf diesem Weg weiter zu gehen. Wir in Deutschland wissen, welch friedensstiftende Bedeutung eine enge Kooperation mit den Nachbarn hat.

Bulgarien ist international ein verlässlicher Partner. In der Kosovo-Krise und während des Konflikts in Mazedonien stand Ihr Land fest an der Seite des westlichen Bündnisses. Nach den schrecklichen Ereignissen des 11. September 2001 hat Bulgarien seine Bereitschaft erklärt, am Kampf gegen den internationalen Terrorismus teilzunehmen. Das haben Sie, Herr Präsident, im September dieses Jahres in New York noch einmal bekräftigt, als Ihr Land den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte.

In absehbarer Zeit wird Bulgarien der Europäischen Union angehören. In zwei Wochen wird auf dem Gipfeltreffen in Prag auch über die Öffnung der NATO entschieden. Als Partner in den transatlantischen Organisationen werden wir dann gemeinsam Verantwortung tragen und gemeinsam unsere Zukunft gestalten. Das ist eine gute Perspektive.

IV. Ich bitte Sie jetzt, Ihr Glas zu erheben und mit mir anzustoßen auf das Wohl von Präsident Parvanov und von Frau Parvanova, auf die deutsch-bulgarische Freundschaft und auf eine glückliche Zukunft unserer beiden Länder in einem friedlichen Europa.