Redner(in): Johannes Rau
Datum: 13. November 2002

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/11/20021113_Rede.html


Ich danke Ihnen, Herr Präsident, und Ihren Mitbürgern herzlich für den freundlichen Empfang auf Ihrer Insel.

Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Meine Familie und ich kennen Mallorca von früheren Besuchen. Die waren freilich ganz privat. Mit einem Blick auf die Altstadt und auf die Kathedrale hatte ich schon Gelegenheit, gute Erinnerungen aufleben zu lassen. Ich bin immer wieder aufs Neue beeindruckt von der Schönheit der Stadt, von ihren Sehenswürdigkeiten und von den Zeichen wirtschaftlicher Prosperität. Ich freue mich darauf, heute Nachmittag noch mehr zu sehen.

Auf dem Weg zur "Alten Warenbörse" habe ich auch das Standbild des Dichters Ramon Llullwiedergesehen. Als berühmtester Sohn Mallorcas ist er weit über die Grenzen der Insel hinaus bekannt. Er hat auch großen Einfluss auf Nikolaus von Kues ausgeübt, einen der bedeutendsten deutschen Denker am Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. Kues war bemüht, die "Ars magna" Ramon Llulls, die auch "lullische Kunst" genannt wird, fortzubilden. Er war der Überzeugung, dass Einheit dann gelingt, wenn sie auf Vielfalt baut und dass wir von der Überzeugung des eigenen Glaubens zum Respekt vor anderen Religionen kommen müssen, vom regionalen Denken zu einem europäischen Horizont. Wir sehen hier, so meine ich, ein schönes Beispiel dafür, wie eng schon vor Jahrhunderten unsere Kulturkreise innerhalb Europas miteinander verbunden waren und wie aktuell diese Gedanken noch heute sind.

Ich freue mich darüber, dass meine Frau und ich während meines Staatsbesuchs auch nach Mallorca kommen können. Den Wunsch, Ihre Insel zu besuchen, teile ich mit vielen meiner Landsleute. Über drei Millionen Deutsche haben im vergangenen Jahr die Balearen besucht. Ich wollte in Spaniengeradedorthin reisen, wo sich Deutsche und Spanier täglich begegnen und wo sich das Zusammenleben zwischen ihnen besonders bewähren muss. Diese Begegnungen bedeuten ja für die einen Alltag, für die anderen Urlaub; sie können ein Miteinander oder sie können ein Nebeneinander sein. Das hat Folgen: Für die Menschen selber, für die Umwelt und für unser Zusammenleben in Europa.

Davon wollte ich mir selber ein Bild machen, und einige meiner Gedanken darüber möchte ich heute mit Ihnen teilen.

II. Die außergewöhnliche Schönheit von Mallorca ist immer wieder beschrieben worden. Besonders treffend finde ich das Kompliment des argentinischen SchriftstellersJorge Luis Borges, der über die Insel gesagt hat: "Ein Ort, wie geschaffen für das Schauspiel des Glücks".

UndKlaus Mann, der im Sommer 1936 zwei Wochen auf Mallorca verbrachte, schreibt 1939 in seinem Roman "Der Vulkan" : "Mallorca - höchst liebliches Eiland, mild beglänzt und beschienen von einer gnädigen Sonne; reich gesegnet mit Palmen, Zypressen und allerlei Blütengebüsch;( ... ) friedlichste Insel, sorgenloses kleines Paradies, weit entfernt von Lärm und Gefahren der Welt; angenehm isoliert, doch nicht abgelegen ( ... )". Der Eindruck der Sorglosigkeit, der Abgeschiedenheit von Lärm und Gefahren der Welt hat sich vielleicht nicht immer als ganz richtig erwiesen; doch die Begeisterung für die paradiesische Schönheit und die Vielfalt der Insel teilen wir auch heute noch.

Es ist daher kein Wunder, dass Mallorca-Besuche eine lange Tradition haben, sowohl in Spanien selbst, aber auch im restlichen Europa. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verbrachten Angehörige der spanischen Oberschicht regelmäßig die Wintermonate in Palma und Umgebung. Schon damals kamen aber auch ausländische Gäste, vorwiegend aus England und Frankreich, und sie erlagen dem Charme dieser Insel. Das berühmteste Paar sind sicherGeorge SandundFrédéric Chopin, die vor ziemlich genau 164 Jahren hierher kamen, um den "Winter in Mallorca" zu verleben, dem George Sand später ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Damals waren Urlaubsreisen in fremde Länder nur Wenigen vorbehalten. Heute ist das ganz anders. Damals waren Auslandsreisen - wenn es sie denn überhaupt gab - etwas ganz Exotisches. Für die meisten in Deutschland verbindet sich die Erinnerung an die ersten Reisen nach Italien oder Spanien mit dem deutschen Wirtschaftswunder nach dem Krieg.

Eine Reihe von Faktoren hat dazu beigetragen, dass Fernreisen, gerade auch innerhalb Europas, für viele Menschen heute fast etwas Selbstverständliches geworden sind: Wachsender Wohlstand, sinkende Transportkosten und die Tatsache, dass unser Kontinent zusammenwächst, dass sich die Grenzen öffnen und dass es leichter wird, im Ausland zu leben. Dazu kommt eine wachsende Vertrautheit mit dem Fremden - durch persönliche Erfahrungen mit Ausländern und Zuwanderern und durch das breite Angebot der Medien. Wir können uns - und wir tun das auch - überall in der Europäischen Union Zuhause fühlen. Wir genießen die Vorzüge eines einheitlichen Raums der Sicherheit und des Rechts - ja inzwischen sogar einer einheitlichen Währung.

Kaum jemand konnte sich vor einigen Jahrzehnten wohl vorstellen, dass die Erholung selbst einmal eine regelrechte Industrie werden würde. Hans Magnus Enzensberger hat dazu angemerkt: "Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden ( ... ) ( aber ) das Verlangen, aus dem sich der Tourismus speist, ist das nach dem Glück der Freiheit."

Viele Regionen der Welt haben den Tourismus als Quelle des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands entdeckt. Viele der Besucher weltweit kommen aus Deutschland. 2001 fuhren beispielsweise allein rund 11 Millionen Deutsche nach Spanien. Bei ihren Auslandsreisen geben die Deutschen im Schnitt fast dreimal so viel Geld aus wie ausländische Besucher in Deutschland - wir bedauern das.

Dieses Geld fließt in die ausländischen Volkswirtschaften; dadurch entstehen Arbeitsplätze, die Infrastruktur wird ausgebaut, die privaten Einkommen und die Steuereinnahmen steigen. Mancher Euro kommt übrigens auch wieder als Auftrag an Unternehmen in Deutschland zurück.

Aber wir alle wissen: Es gibt auch Schattenseiten des Tourismus. Ich denke an die Belastung der Verkehrswege, an eine oft ungezügelte Bautätigkeit, an Müllberge und an Wasserverschmutzung, an Engpässe bei der Trinkwasserversorgung und an einen hohen Energieverbrauch. Wenn der Besucherstrom sich im Übermaß in Natur- und Kulturlandschaften ergießt, kann der Tourismus auch zerstörerisches Potenzial entfalten. Es muss noch viel getan werden, damit ein Gleichgewicht entsteht zwischen Freizeitinteresse, wirtschaftlicher Entwicklung und dem Schutz der Umwelt.

Glücklicherweise hat in der Tourismusbranche seit einigen Jahren ein Umdenken begonnen. Dafür steht der Begriff "Sanfter Tourismus", der Versuch, ökonomische und ökologische Aspekte miteinander in Einklang zu bringen. Damit ist auch die Einsicht verbunden, dass wir uns auf den steuernden Mechanismus von Angebot und Nachfrage nicht immer verlassen können. Im Tourismus funktioniert er oft erst dann, wenn es eigentlich schon zu spät ist: Wenn zum Beispiel die Besucher ausbleiben, weil die ehemals unberührte Natur verschandelt wurde. Die Folge sind tiefgehende Einschnitte in das Leben der Menschen, die ihre Existenz auf den Tourismus gebaut haben. Es ist langwierig und schwierig, Fehlentwicklungen wieder rückgängig zu machen.

Mit solchen Problemen haben auch Sie teilweise zu tun. Viele Menschen suchen heute das "Glück der Freiheit", von dem Hans Magnus Enzensberger gesprochen hat, hier bei Ihnen. Spanien, die Balearischen Inseln und Mallorca sind das beliebteste Reiseziel der Deutschen im Ausland. Die Zahlen geben uns eine Vorstellung davon, wie sich der Tourismus auf Mallorca entwickelt hat:

In den sechziger Jahren besuchten jährlich etwa 400.000 Menschen die Inseln - auch das ist schon eine stattliche Zahl. Im Jahre 2000 waren es rd. elf Millionen, davon kamen allein über drei Millionen aus Deutschland. Es kommen aber nicht bloß Besucher: Etwa 50.000 Deutsche leben inzwischen ständig auf den Balearen.

Es spricht für die Tüchtigkeit und für den Geschäftssinn der Mallorquiner, aus einem Fleckchen Erde, das nicht reich war, aber "wie geschaffen für das Schauspiel des Glücks", das gemacht zu haben, was es heute auch ist, nämlich eine Insel des Wohlstands. Das Pro-Kopf-Einkommen auf Mallorca gehört zu den höchsten in Spanien. Mallorca und die Balearen sind auch ökonomisch eine Erfolgsgeschichte.

Damit die sich fortsetzen kann, muss das Gleichgewicht gefunden werden, das es allen Beteiligten erlaubt, vom Tourismus zu profitieren. 2002 ist das "Jahr des internationalen Ökotourismus". Das sollte uns darin bestärken, uns noch mehr um dieses Gleichgewicht zu bemühen. Umweltverträglicher Tourismus kann mithelfen, sowohl die Natur als auch den Tourismusfürden Menschenvorden Menschen zu schützen. Tourismus und Umweltschutz müssen keine Gegensätze sein, sie können sich ergänzen.

Die Mallorquiner haben begonnen, in diesem Sinne zu handeln. Die Gemeinde von Calvia zum Beispiel wurde beim diesjährigen Umweltgipfel in Johannesburg für ihr besonderes Engagement im Umweltschutz und für eine nachhaltige Entwicklung ausgezeichnet.

Neben der Umweltbelastung können sich aus dem Tourismus aber auch andere Probleme ergeben. Das gilt zum Beispiel für das Zusammenleben zwischen touristischen Gästen und ihren Gastgebern. Auf einen Mallorquiner kommen in der Hauptsaison fast zehn Touristen. Ich kann verstehen, wenn das aus der Sicht eines Einheimischen bisweilen als bedrückend empfunden wird und als Gefährdung eigener, gewachsener Strukturen und Lebensformen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass auch zeitlich begrenztes Zusammenleben zu Reibungen führen kann. Die Interessen und die Vorstellungen sind ja ganz verschieden darüber, wie die Wochen verlaufen sollen, die für viele die wichtigsten im ganzen Jahr sind. Manche Einheimische klagen dann über "Urlauberschwemme" und damit verbundene Exzesse; sie befürchten Identitätsverlust und den "Ausverkauf der Insel". Sie bemängeln fehlenden Respekt vor ihrer Kultur und den Unwillen von Urlaubern und Residenten, sich auf sie einzustellen. Die wiederum beschweren sich über vermeintliche "Touristenparadiese in Beton", über mangelnden Service und überhöhte Preise.

Manche dieser Konflikte lassen sich nicht endgültig ausräumen. Beide Seiten sollten aber versuchen, die Gefühlslage des Anderen zu verstehen.

Das gilt für diejenigen, die ein Interesse am Tourismus haben, deren Ängste und Sorgen sich aber nicht einfach mit dem wirtschaftlichen Gewinn verrechnen lassen.

Das gilt aber auch für die Touristen, die in einen fremden Kulturkreis kommen. Man sollte dem Gastland, seinen Menschen und ihren Gewohnheiten mit Respekt begegnen. Auch im zusammenwachsenden Europa darf man nicht erwarten, dass alles wie zuhause ist, aber mit noch größeren Freiräumen. Niemand darf dem Missverständnis erliegen, er müsse nur deshalb bestimmte Rücksichten nicht mehr nehmen, weil Urlaub eine Dienstleistung sei, für die bezahlt wird. Auch mit Trinkgeld kauft man sich nicht das Recht, einen Kellner schlecht zu behandeln.

Und wer nicht nur aufs Meer schaut, sondern auch in das Land hinter sich, der kann entdecken, dass der Strand nicht die einzige Alternative zum Alltag ist. Jeder profitiert davon, wenn er im Urlaub nicht nur das aus der Heimat Vertraute sucht, sondern auch Zugang zur Kultur, zur Landschaft, zur Mentalität und zur Sprache des Gastlandes.

Die Vielfalt der Kulturen ist es ja gerade, die Europa auszeichnet und die das Leben auf unserem Kontinent so interessant und so reich macht.

Auch wenn einzelne Boulevard-Blätter - vor allem zur Urlaubszeit - manchmal das Gegenteil zu suggerieren versuchen: Hier auf Mallorca scheint mir das Zusammenleben der Inselbewohner, der ausländischen Residenten und der Touristen im Großen und Ganzen - trotz mancher Probleme - doch zu gelingen.

Das liegt gewiss auch an der Gastfreundschaft und an der Toleranz der Mallorquiner. Und die meisten der ausländischen Gäste begegnen der Insel und ihren Menschen mit Interesse und Aufgeschlossenheit. Immer mehr Urlauber entdecken: Mallorca, das ist weit mehr als nur Strand und Sonne. Das ist abwechslungsreiche Landschaft und reiche Kultur, das sind liebenswürdige Menschen. So kann ein respektvoller Umgang miteinander entstehen - am Urlaubsort und darüber hinaus.

Ich freue mich darüber, dass es mittlerweile viele Menschen auf Mallorca gibt, die sich für dies respektvolle Miteinander einsetzen und denen die deutsch-mallorquinische Verständigung zur Herzenssache geworden ist. Einige von Ihnen sind heute hierher gekommen.

Ich freue mich auch darüber, dass Ihre Initiativen von den Behörden nach Kräften unterstützt werden.

III. Mein dreitägiger Staatsbesuch in Spanien geht heute zu Ende.

König Juan Carlos I. und Königin Sofia haben meine Frau und mich in den letzten Tagen ganz herzlich empfangen und freundlich begleitet. Wir haben uns in Spanien sehr wohl gefühlt.

Wir hatten Gelegenheit, aus erster Hand zu erfahren, wie gut und wie eng das deutsch-spanische Verhältnis ist. Dazu trägt Ihre Insel erheblich bei, gemeinsam mit den anderen Ferienzentren Spaniens.

Ich habe bei meinem Besuch einen Eindruck davon gewonnen, was europäische Vielfalt bedeuten kann, wie viel Lebensfreude, kultureller Reichtum und Gastfreundschaft es in Europa gibt, welch einzigartige Bereicherung gerade Spanien für Europa ist.

Ich hoffe, dass möglichst viele meiner Landsleute weiterhin ähnliche Erfahrungen machen können.

Für das Zusammenleben der europäischen Völker und Nationen sind das Gemeinsame und die Vielfalt unverzichtbar. Es ist diese Vielfalt Europas, seiner Menschen, seiner Sprachen, seiner Kulturen und seiner Traditionen, die unseren Kontinent einzigartig macht.