Redner(in): Johannes Rau
Datum: 13. März 2002

Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/03/20020313_Rede.html


was haben "degenerative Gelenkerkrankungen", das Lernforum für Bibliotheken und die Kernkennzahlen in der Kommunalverwaltung gemeinsam?

Ich könnte auch fragen, was ein Reformmonitor, die Selbstregulierung von Internet-Maschinen und die Akademie für manuelle Medizin miteinander zu tun haben.

Wer sich auf diese Festveranstaltung einigermaßen vorbereitet hat, dem wird die Antwort nicht schwer fallen. Ein kurzer Blick in den Jahresbericht der Bertelsmannstiftung zeigt uns, dass alle die genannten Themen Projekte der Stiftung sind - genauer: es sind sechs von fast 180 Projekten, die die Bertelsmann-Stiftung derzeit in Arbeit hat.

Eines von diesen 180 ist übrigens ein ganz besonderes, aber darüber will ich erst nachher etwas sagen.

Es ist wirklich beeindruckend, was alles auf die Beine gestellt wird, auf welchen Feldern der gesellschaftlichen Erneuerung die Bertelsmann-Stiftung arbeitet. Es ist auch beeindruckend, wieviel kluge Köpfe immer wieder zusammengebracht werden, um gemeinsam große Themen zu durchdenken, die uns heute und in Zukunft bewegen.

Ganz selbstverständlich beschränkt sich die Bertelsmann-Stiftung dabei nicht auf unsere Republik. Von Anfang an ist sie international orientiert, von Anfang an hat sie gewusst, dass man auch länder- und kontinentübergreifend voneinander lernen kann, weil die Herausforderungen zwar jeweils vor Ort gemeistert werden müssen, aber kein Land mehr für sich allein steht.

Also: vieles ist beeindruckend. Vieles hat - auch international - einen hervorragenden Ruf.

Trotzdem stellt sich die Frage: soll man schon das fünfundzwanzigjährige Jubiläum einer Stiftung groß feiern? Muss da der Bundespräsident sprechen? Ist das nicht eine verhältnismäßig kurze Zeit, ein bisschen unrund?

Die Antwort darauf hängt von der Perspektive ab.

Die Bertelsmann-Stiftung hat sich immer als Akteur im gesellschaftlichen und politischen Leben der Zeit verstanden. Sie möchte - mit den Worten Reinhard Mohns - eine "Reformwerkstatt" sein,"anwendbare Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Probleme erarbeiten und diese Lösungen in Modellversuchen auch ausprobieren."

Wenn wir nun mit dieser Perspektive 25 Jahre zurückschauen, dann sehen wir erst, was sich gesellschaftlich und politisch verändert hat - und wie lang diese fünfundzwanzig Jahre in Wirklichkeit doch sind.

Ich nenne nur wenige Stichworte. Zunächst: Kommunikationsmedien. Es gab Bücher, Zeitungen, Radio, Telefon und drei Fernsehprogramme. Kein Fax, kein Mobiltelefon, kein PC, keine e-Mail, kein Internet. Von heute aus gesehen gehört das Jahr 1977 in die Steinzeit der Kommunikation. Damals hat das aber niemand so empfunden.

Wir müssen uns von Zeit zu Zeit deutlich machen, welch veritable Revolution wir in diesem Bereich miterlebt haben - und welche gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen diese Revolution hatte und hat.

Das andere Stichwort betrifft die politische und ökonomische Welt. Es ist nicht originell, aber es beschreibt immer noch am besten, was geschehen ist: es heißt Globalisierung. Vor 25 Jahren sah das noch ganz anders aus: die Welt war sauber eingeteilt in einander gegenüberstehende Blöcke. Die Berliner Mauer stand fest.

Es gab in Europa noch kein gemeinsames Währungssystem, vom Euro ganz zu schweigen. Mit dem Anwerbestopp für sogenannte Gastarbeiter von 1973 war Migration kaum mehr ein Stichwort.

Auch in dieser Hinsicht wissen wir erst in der Rückschau, welche Revolution sich abgespielt hat - durch das Zusammenwachsen der Welt, durch die offenen Grenzen, aber vor allem durch den schnellen und ungehinderten Fluss von Daten aller Art und von Kapital rund um den Globus.

Eingebettet in eine solche Perspektive sind 25 Jahre also tatsächlich eine lange Zeit - und die Bertelsmann-Stiftung hat sich in dieser Zeit auch verändert.

In ihrem ersten Tätigkeitsbericht werden die Projekte vorgestellt, mit denen man sich damals, zwischen 1977 und 1981, befasst hat. Manches klingt heute wie aus weiter Ferne - manches aber zeigt auch, dass es Problemkonstanten gibt, die über die Jahre und Jahrzehnte gleich geblieben sind.

Da gab es damals ein Projekt, das sich mit dem "Kommunikationsmedium Buch" beschäftigt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis: "Unterscheidet man nach den verschiedenen Altersgruppen, so zeigt sich das Buch als ein Medium besonders der jüngeren Menschen." Elektronische Medien - man meinte damit allein das Fernsehen - seien keine wirklichen Konkurrenten.

Diesem Projekt - und besonders dem Ergebnis der Studie -merkt man deutlich sein Alter an. Von den PISA-Ergebnissen - und ihren Gründen - scheint diese Zeit um Lichtjahre entfernt zu sein.

Ein anderes, ebenfalls im allerersten Tätigkeitsbericht vorgestelltes Arbeitsprojekt, bleibt dagegen hochaktuell. Es zeigt, dass die Bertelsmann-Stiftung sehr aufmerksam und sehr früh eine bis heute andauernde Herausforderung gesehen und angenommen hat. Das Projekt heißt: "Integration von Ausländern - Illusion oder realistische Perspektive?"

Die Studie bezieht sich auf die Stadt Gütersloh - ihre Ergebnisse sollten aber auch Städten vergleichbarer Größenordnung Anregungen geben. Klar erkannt war schon vor über zwanzig Jahren, dass das Lernen und Beherrschen der deutschen Sprache für die Integration von zentraler Bedeutung ist. Integration von Ausländern - Illusion oder realistische Perspektive? " " - Die Frage hat sich heute kaum verändert - und sie ist heute eher noch drängender geworden.

Seit jener Zeit hat sich die Bertelsmann-Stiftung in diesem Bereich sehr engagiert. Sie hat Projekte, die sich mit Integration beschäftigen, in nationalem und in internationalem Rahmen gestartet, und sie hat damit immer wieder auch den kommunalen und staatlichen Stellen Anregungen geben können.

Genau an dieser Stelle kann ich nun in die unmittelbare Gegenwart springen. Wir haben nämlich gerade ein gemeinsames Projekt: der Bundespräsident und die Bertelsmann-Stiftung - und ich bin froh, dass ich gerade Sie dafür gewinnen konnte.

Ich bin von einer einfachen Idee ausgegangen: durch viele Begegnungen mit Menschen, die zu mir kommen oder die ich an verschiedenen Orten in Deutschland besucht habe, habe ich erfahren, wie viel ehrenamtliches Engagement es in Deutschland gibt, das sich für die Integration von Zuwanderern einsetzt.

Nun stimmt es zwar: Wenn viele einzelne, an vielen Orten vieles tun, wird sich auch im Großen etwas verändern. Aber es wäre auch gut, wenn diese vielen einzelnen voneinander wüssten, wenn sie voneinander lernen könnten - und wenn sie auch noch anderen Anregungen geben könnten - oder auch Mut - etwas ähnliches zu versuchen und auf den Weg zu bringen.

Ein zweites hat mich bewegt. Immer wieder hören wir Meldungen über Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, über fremdenfeindliche Gewalttaten und gefährlichen Rassismus. Daran darf man nichts beschönigen. Und es ist gut, wenn viele, wie man sagt, dagegen aufstehen und "nein" sagen gegen Gewalt, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.

Mir ist aber wichtig, dass zu diesem entschiedenen Nein auch ein Ja kommt, ein deutliches und aktives Ja - und das zeigt sich am besten in konkreten Initiativen zur Integration von Zuwanderern.

Wenn nun stärker ins allgemeine Bewusstsein kommt, dass es ungezählte solcher Initiativen gibt, dann ändert sich damit auch ein bestimmtes Bild von unserem Land.

Ich bin deswegen auf die Idee gekommen, einen bundesweiten Wettbewerb zur Integration von Zuwanderern auszurufen. An ihm können sich alle Initiativen und Projekte beteiligen, die in dieser Richtung arbeiten. So kann man sich gegenseitig kennenlernen und so kann diese breite Bewegung in das Licht der Öffentlichkeit kommen.

Das Bundespräsidialamt allein kann das nicht durchführen. Dazu reichen weder das Geld noch das Personal, noch das nötige Expertenwissen.

So bin ich froh, dass wir den Wettbewerb gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung durchführen können. Sie hat im letzten Sommer geholfen, ein Expertengespräch im Schloss Bellevue zu organisieren, an dem wichtige Fachleute für die ganzen Fragen von Integration versammelt werden konnten. Dabei haben wir auch ausführlich über die Chancen eines solchen Wettbewerbs diskutiert und dabei auch die möglichen Kategorien für eine Bewertung von Bewerbern aufgestellt.

Wir haben dann gemeinsam eine Agentur beauftragt, unseren Wettbewerb bekannt zu machen. Wir haben gemeinsam eine Jury ausgesucht. Wir haben den Wettbewerb gemeinsam mit einer Startveranstaltung eröffnet und wir werden ihn mit einem gemeinsamen Fest anlässlich der Preisverleihung im Sommer beschließen. Anschließend wird die Bertelsmann-Stiftung einen Band herausbringen, in dem nachahmenswerte Projekte und Initiativen vorgestellt werden - damit andere angeregt werden und auf ähnlich gute oder vielleicht sogar bessere Ideen kommen.

Ich erzähle darüber so ausführlich, weil mir diese Zusammenarbeit ein Stück weit typisch zu sein scheint für die Arbeit der Stiftung insgesamt:

Man ist interessiert an zentralen Fragen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dieses Interesse gibt sich nicht mit der Erhebung von Fakten zufrieden oder mit der Darstellung dieser Wirklichkeit. Man möchte Einfluss nehmen, man möchte gestalten, man möchte Vorschläge zur Verbesserung machen. In gewissem Sinne möchte man auch Politik machen.

Dabei kommt es natürlich darauf an, dass man die Sphären nicht verwechselt. Bürgerschaftliches Engagement, das mit privatem Geld arbeitet und die Schwerpunkte seiner Arbeit selber bestimmen kann, ist zu unterscheiden von Politik, die von gewählten Volksvertretern in demokratischem Auftrag gemacht wird.

Wir brauchen bürgerschaftliches Engagement. Unsere Gesellschaft kann ohne solches Engagement nicht leben, das sich zum Beispiel in Stiftungen und in deren Arbeit ganz vorzüglich zeigt. Solches Engagement kann oft viel schneller, flexibler und dynamischer auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren als staatliche Apparate. Man kann Schwachstellen aufspüren, die andere so nicht erkannt haben, man kann sich Feldern des gesellschaftlichen Lebens zuwenden, die vergessen, die übersehen oder zu wenig beachtet werden.

Eine Stiftung zum Beispiel kann sich auch in zentralen und keineswegs übersehenen Bereichen von Politik und Gesellschaft engagieren und dort neue Schwerpunkte setzen. Sie kann Perspektiven weisen, Anstöße geben - also im besten Sinn Pionierarbeit leisten. Man braucht dazu kein Mandat, man braucht nur den festen Willen, eine hohe Motivation - und natürlich das notwendige Geld.

Oft ist die Politik und oft ist der Staat auf solche Anstöße angewiesen, oft kann er von Lösungsversuchen und Erkenntnissen, die durch Projekte privater Initiativen und Stiftungen erzielt werden, außerordentlich profitieren.

Dennoch darf es - noch einmal sei es gesagt - nicht dazu kommen, dass die beiden Sphären verwechselt werden. Privates Engagement ist privates Engagement und staatliches Handeln ist staatliches Handeln.

Auch bei der sogenanntenpublic-private partnership, bei der Partnerschaft zwischen staatlichem und privatem Engagement, ist es wichtig, dass beide Partner sie selber bleiben und jeweils das tun, was ihre Sache ist.

Public-private partnershipdient nicht dazu, den Staat von den Aufgaben entbinden, die seine ureigene Sache sind. Sie soll auch nicht zum Reparaturbetrieb für angebliches oder tatsächliches staatliches Versagen oder Verzögern werden.

Nur wenn beide Partner in einer solchen Partnerschaft sie selber bleiben, kann dabei etwas fruchtbares herauskommen.

Ich finde deswegen unsere Partnerschaft beispielhaft.

Unsere Zusammenarbeit verweist auch noch auf einen weiteren Aspekt für die fruchtbare Arbeit von Stiftungen: Die Arbeit von Stiftungen wird glaubwürdig, wenn sie an einem Thema "dranbleiben", wenn sie es nicht nur bearbeiten, weil es einmal "angesagt" ist oder damit es "auch einmal drankommt". Glaubwürdig wird das Engagement, wenn es "nachhaltig" ist, wenn es über Jahre hinweg in vielen Verästelungen, Verbindungen, Vernetzungen verfolgt wird, wenn es auch dann bearbeitet wird, wenn es öffentlich keine große Konjunktur hat.

Darum finde ich es bemerkenswert, dass sich das Thema "Integration" von Anfang an unter den Projekten der Bertelsmann-Stiftung findet, dass es über die Jahre hinweg einen Schwerpunkt in vielen Bereichen der Arbeit dargestellt hat und dass auch internationale Aspekte des Themas ausführlich behandelt worden sind. Insofern hat sich die Stiftung für dieses Thema als besonders glaubwürdiger und kompetenter Partner erwiesen.

Nicht Strohfeuer sollten die Arbeit von Stiftungen kennzeichnen. Sie brauchen einen langen Atem damit nachhaltige Themen konsequent über Jahre hinweg bearbeitet werden. Dazu gehört natürlich auch eine gute Nase, die Themen zu finden, die nicht nur einen Sommer tanzen. Das prägt die Arbeit von Stiftungen. Das macht sie glaubwürdig. Damit werden sie auch verlässliche und - wenn ich es so schlicht sagen darf - brauchbare Partner für die Politik.

Eine Stiftung kann nicht existieren ohne Stiftungsvermögen. Auf welche Weise das erwirtschaftet wird, sollte nicht ganz gleichgültig sein. In Ihrem Fall steht es zweifellos nicht im Gegensatz zu den Zielen, die sich die Stiftung setzt.

Eine Frage beschleicht mich allerdings manchmal beim Lesen Ihrer Jahresberichte: Bekommen die Leute der BertelsmannAGnicht manchmal ein kleines bisschen Angst? Ich meine, und ich bitte Sie um Entschuldigung, es ist ja nur eine ganz weit hergeholte Spekulation:

Wenn all die Bildungsprogramme zum Beispiel - und auch die Programme zur bürgerschaftlichen Partizipation, die von der Stiftung ausprobiert und dann auch propagiert werden, den flächendeckenden Erfolg hätten, den man sich ja eigentlich wünschen müsste:

Würden die Menschen dann noch so lange vor dem Fernseher sitzen und jene Fernseh-Programme schauen wollen und jene Musik hören mögen, mit denen die AG eine Menge Geld verdient?

Nun, die Wirklichkeit ist dialektisch und es gibt Widersprüche, die nicht aufzulösen sind.

Es schien mir aber einmal eine kurze Abschweifung wert, darauf hinzuweisen.

Ohne Zweifel hat die Bertelsmann-Stiftung sich über die Jahre hinweg in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus, einen großen Namen gemacht. Das liegt auch an dem beispiellosen Engagement von Reinhard und Liz Mohn. So kann sie immer wieder für ihre Themen und Projekte die besten Köpfe gewinnen - was wiederum ihrer Arbeit und damit den gesellschaftlichen Zielen, für die sie sich einsetzt, zugute kommt.

Stiftungen gewinnen Autorität durch die Qualität ihrer Projekte oder Studienberichte oder Kongressergebnisse. Gerade deshalb hat Reinhard Mohn immer wieder herausgestellt, dass Stiftungen dem Gemeinwohl dienen sollen - und nicht dem Gemeinwesen vorschreiben, wie es nach Auffassung von Experten zu leben und sich zu organisieren hat.

So ist es möglich, das Verhältnis zwischen politisch operativen Stiftungen - so wie Sie sich verstehen - und der Gesellschaft frei nach Bertolt Brecht zu beschreiben:

Sie haben Vorschläge gemacht.

Wir haben sie angenommen.

Auf diese Weise wären wir beide geehrt.