Redner(in): Johannes Rau
Datum: 14. Mai 2003

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/05/20030514_Rede.html


Frau Präsidentin Roth,

meine Damen und Herren,

I. angesichts der fröhlichen Begrüßung durch Herrn Oberbürgermeister Widder kann Melancholie ja gar nicht aufkommen; aber vielleicht geht es doch dem einen oder anderen von Ihnen im kommunalpolitischen Alltag so wie mir, dass man Anflüge von Melancholie erlebt und sich fragt: Ist denn in manchen Dingen gar kein Vorankommen?

Mir ist es ein bisschen so ergangen, als ich mich auf diese Hauptversammlung des Deutschen Städtetages vorbereitete. Ich hatte noch einmal das Grußwort zur Hand genommen, das ich im Sommer 1999 bei Ihrem Schwesterverband gesprochen habe, beim Deutschen Städte- und Gemeindebund. Da hatte ich gesagt:

Ich las diese Feststellungen und Aufforderungen zum Handeln, ich dachte an die von Problemen und drängenden Sorgen geprägte Tagesordnung dieser Hauptversammlung - und da war er, jener Moment leiser Melancholie.

Er war aber nur ganz kurz, und ich komme zu Ihnen überzeugt und entschlossen wie eh und je:

II. Dem Deutschen Städtetag gehören rund 5.700 Städte mit insgesamt rund 51 Millionen Einwohnern an. Schon diese beiden Zahlen zeigen: Wer über die Lage der Städte spricht, der spricht über die Lage unseres Landes.

Am Zustand der Städte lässt sich ablesen, wie es dem ganzen Land geht, und die meisten Herausforderungen, vor denen wir insgesamt stehen, müssen vor allem in den Städten gemeistert werden. Gerade dort muss es zum Beispiel gelingen, für unsere älter werdende Gesellschaft vorzusorgen, das gute Zusammenleben von Einheimischen und Zuwanderern zu sichern, neue Arbeit zu schaffen und den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen Starken und Schwächeren zu bewahren und zu fördern.

Gerade in den Städten muss das gelingen, und dort kann es auch gelingen, denn unsere Städte haben die Stärke und die schöpferische Energie, die dafür nötig sind.

Die Kraft der Städte muss sich aber auch entfalten können. Sie darf nicht durch Fesseln behindert und vermindert sein. Die Kraft der Städte braucht Freiheit und Raum, wenn sie zum Besten des ganzen Landes wirken soll. Verhelfen wir ihr also dazu!

III. Deutschland ist reich an Städten. Ich wundere mich manchmal, wie oft das ungesagt bleibt, wenn die deutschen Stärken und auch die deutschen Standortvorteile aufgezählt werden. In tausend Jahren ist bei uns ein dichtes Netz von kleinen und großen Städten gewachsen - man muss sich da nur die imposante Liste der Jubiläen auf der Website des Deutschen Städtetages ansehen.

Viele von ihnen waren Residenzstädte wie das schöne Mannheim und gelangten so zu besonderer Blüte. Heute liegen sechzehn Landeshauptstädte - bei allen Unterschieden - im Wettstreit nicht nur um die besten politischen Konzepte, sondern auch um Urbanität und kulturelle Weltläufigkeit. Dazu kommen Großstädte mit ganz individuellem Profil, vom Finanzzentrum bis zur Medien- und Kunstmetropole; dazu kommen die mit gutem Grund selbstbewussten Universitätsstädte; und dazu kommen die vielen Mittel- und Kleinstädte, in denen es sich gut leben lässt und die ihre Besucher immer wieder beeindrucken und begeistern: mit reicher Geschichte, mit mittelständischen Unternehmen, die nicht selten Weltmarktführer sind, mit einzigartigen Kunstschätzen und mit einem Theater- und Konzertleben, das Bühnen- und Musikliebhaber aus aller Welt anzieht.

Die Kraft, die das aufgebaut hat und erhält, musste sich auch in Notzeiten bewähren: Nach dem Ersten Weltkrieg und in den Jahren der Hyperinflation waren es die Städte, die durch örtliche Fürsorge und durch eigene Anstrengungen bis hin zum Notgeld das Leben und das Überleben gesichert haben. Nach 1945 war überhaupt nur noch die kommunale Ebene intakt und sorgte dafür, dass die Menschen zu essen und zu trinken hatten und ein Dach über dem Kopf, dass die Trümmer weggeräumt wurden und der Wiederaufbau von Häusern, Straßen und Brücken begann. Deutschland ist damals in seinen Städten wiederaufgebaut worden. Es wird heute von den Städten her und in den Städten modernisiert, oder es wird nicht modernisiert!

IV. Worin liegt das Erfolgsgeheimnis der Städte? Ich glaube: Die Anteilnahme und die demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am Schicksal ihrer Stadt, das ist und bleibt die wichtigste Kraftquelle der Städte. Das Grundgesetz schützt diese Kraftquelle. Es verlangt demokratische Volksvertretungen in den Städten und Gemeinden und gewährleistet den Kommunen das Recht,"alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln."

Wie ist es heutzutage um die örtlichen Gemeinschaften und ihr Recht und ihre Fähigkeit zur Selbstverwaltung bestellt? Wer diesen Fragen nachgeht, der findet Grund zur Besorgnis und Gründe zum Handeln.

V. Manche bestreiten schon, dass es überhaupt noch örtliche Gemeinschaften gibt, wie sie die kommunale Selbstverwaltung voraussetzt. Wo existiere sie denn noch, die räumlich klar abgegrenzte, dauerhafte Gemeinschaft von Bürgern, die am selben Ort leben, arbeiten, Rat halten und gemeinsam entscheiden? Mit dem Wachstum der Städte und dem unaufhaltsam scheinenden Drang in die Vorstädte, ja in die Zersiedelung sei doch längst jede geschlossene und für den einzelnen überschaubare Form des Zusammenlebens abhanden gekommen.

Das Interesse der Einpendler und Auspendler am Geschick der Städte, in denen sie "nur" schlafen oder "nur" arbeiten, sei naturgemäß halbiert. Obendrein habe die Mobilität in Ausbildung und Beruf ein solches Maß erreicht, dass viele Wohnortwechsel längst die biographische Regel seien - und die örtlichen Wurzeln entsprechend schwächer. Zudem führe die Individualisierung der Lebensstile dazu, dass immer mehr Menschen sich von ihrer örtlichen Gemeinschaft abkehrten.

VI. Viele dieser Beobachtungen sind gewiss richtig, und trotzdem sehe ich keinen Anlass dazu, der örtlichen Gemeinschaft und ihrer demokratischen Selbstverwaltung den Totenschein auszustellen. Freilich verlangen die genannten Entwicklungen nach politischen Antworten. Einige davon möchte ich ansprechen:

Carl Zuckmayer hat vor Jahrzehnten geschrieben, das "Gesicht einer Stadt" begreife "man erst, wenn man sich zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten in ihrem Schoß betrinkt". Heutzutage könnte er angesichts uniformer Innenstädte, oft seelenloser Shopping-Malls und immergleicher "Events" vielleicht schon ganz nüchtern ins Grübeln kommen; ins Grübeln darüber, in welcher Stadt er sich wohl gerade befinde. Niemand lebt gern in einer Stadt mit einem Dutzendgesicht. Jede Stadt muss darauf achten, dass sie unverwechselbar bleibt.

Wo Stadt und Region zusammenwachsen, müssen die Verfahren und Institutionen der dafür nötigen Planung und Willensbildung mitwachsen. Es ist gut, dass sich der Deutsche Städtetag hier in Mannheim diesem Thema widmet.

Das Potential für solch freiwilliges Engagement ist obendrein noch längst nicht ausgeschöpft: 40 % derer, die noch nicht aktiv sind, sind nach eigenen Angaben bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren - das wären nochmals 20 Millionen Menschen, die in der Gesellschaft mitarbeiten und Verantwortung übernehmen.

Ich möchte hier nicht davon reden, dass die Bedingungen für ehrenamtliche Tätigkeit noch deutlich verbessert werden könnten - die Enquêtekommission "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements" hat dazu einige bedenkenswerte Vorschläge gemacht, die der Deutsche Städtetag mit Recht unterstützt. Mir geht es in diesem Zusammenhang um etwas anderes:

VII. VIII. IX.