Redner(in): Johannes Rau
Datum: 19. Juni 2003

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/06/20030619_Rede.html


Verehrte, liebe Frau Dr. Carstens,

meine Damen und Herren,

dies ist ein wunderschöner und gefährlicher Nachmittag. Gefährlich, weil Sie alle diesen Ablaufplan kennen, Sie wissen also, wann der Redner aufhören soll. Das macht mir Kummer, denn wie gerne würde ich lange, lange reden. Wann hat man als Bundespräsident schon die Chance, einer gleichermaßen liebenswerten und bedeutenden Frau öffentlich zu gratulieren? Das gibt es in dieser Kombination ganz selten.

Ich hätte natürlich persönliche Erinnerungen hinzuzufügen. Zum Beispiel die an den Anruf von Bundespräsident Carstens, er wandere nun durch Nordrhein-Westfalen mit seiner Frau, ob ich nicht ein Stückchen mitgehen wolle. Zweiunddreißig Kilometer! Zehn Stunden! Jede Stunde habe ich den Preis erhöht für eine Sänfte, aber es kam keine, und ich wusste nicht, wie viele Stunden ich noch schaffen sollte. Die Frau des Gegenkandidaten ließ schon sagen: ' Der Rau hat schon aufgegeben ' . Und fröhlich vorneweg Karl und Veronica Carstens, keine Atemnot, keine Eile - aber auch keine Behäbigkeit. Karl Carstens, siebzehn Jahre älter als ich, wirkte am Abend in Essen-Werder frisch wie der junge Morgen, und ich war kurz vor dem Rentenantrag!

Ich würde auch gerne erzählen, wie Karl Carstens über seine Frau mal sagte: "Wunderbar, nur freie Arztwahl habe ich nicht."

Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon Reden gehört habe über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber dass Frau Carstens ein Beispiel für die Vereinbarkeit von Beruf und Beruf ist, das ist einmalig. Gleichzeitig Fachärztin in Meckenheim und First Lady an der Seite eines Bundespräsidenten mit all den Verpflichtungen, die damit zusammenhängen, das ist unglaublich. Dabei habe ich Belege dafür im Archiv des Bundespräsidenten, dass sie das manchmal vermischte. Sie hat zum Beispiel der spanischen Königin beigebracht, dass Zwiebelsäckchen gegen Ohrenschmerzen helfen.

Ich würde Ihnen gern noch davon erzählen, wie oft wir in der Zeit, in der ich noch Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen war und in den Jahren vorher, als ich Wissenschaftsminister war, wie oft Frau Dr. Carstens und ich gemeinsam - gelegentlich auch getrennt, aber immer verabredet - versucht haben, Lehrstühle für Naturheilkunde an den deutschen Universitäten zu errichten. Wie wir gekämpft haben gegen die Fülle der Vorurteile, als ob Naturheilkunde etwas ganz Neues und ziemlich Versponnenes sei; während doch der Naturheilkundler von Jahrtausenden guter und hilfreicher Erfahrungen berichten kann, viel mehr als mancher Schulmediziner.

Der Satz: "Wer heilt, hat Recht" zieht sich durch das Leben der Naturheilkunde in all ihren Phasen. Welche Väter und Mütter ich da jetzt nenne, ist nicht so belangvoll, Sie kennen diese Namen. Dass aber der Kampf gegen Vorurteile, auch der Kampf gegen fachliche Dummheit, ein nahezu aussichtsloser Kampf sein kann, das haben wir jedenfalls in den Jahren, bevor der Verein "Natur und Medizin" gegründet wurde, oft erfahren.

Ich habe immer wieder versucht, etwas von dem weiterzugeben, was auch Frau Dr. Carstens mitgebracht hat aus ihrer Familie, in der es fünf Kinder gab, so wie bei uns. Es war eine tausendfache Fundgrube. Was es da alles gab, und was wir gelernt haben über die Wirkungen von Kräutern, von häuslicher, von mütterlicher Medizin! Davon wusste manches Fachbuch nichts. Bei diesem Thema waren Karl und Veronica Carstens von unbarmherziger Beharrlichkeit, und dafür möchte ich heute herzlich danken.

Übrigens: Der Bundespräsident Carstens hat auch noch eine andere Stiftung gegründet, von der heute hier nicht die Rede ist. Sie heißt "Bibel und Kultur", weil es ihn bedrängte, dass im christlichen Abendland die Bibel nicht mehr bekannt ist. Er wurde Gründer und erster Präsident der Stiftung, ich durfte Nachfolger in diesem Amt werden und habe das, als ich das Amt des Bundespräsidenten übernahm, fortzuführen versucht. Ich denke, vom Leben dieser Menschen, Karl und Veronica Carstens, ist auf vielfache Weise Segen ausgegangen. Das am Geburtstag zu sagen, das ist mir jede Redezeit wert.

Wer Karl Carstens gekannt hat, diesen Diplomaten, diesen Staatsrechtler, diesen Politiker, diesen Mann mit der geschliffenen, oft scharfzüngigen Rede, gleichzeitig diesen Wanderer und Segler und Sportfreund und Kameraden, der weiß auch, dass es im Leben von Veronica Carstens Zeiten gab, in denen Karl Carstens nicht in der Nähe war. Er war ein Jahr in Amerika, an der Yale University. Da hat sie die Handelsschule besucht und Stenografie gelernt und so dieses Jahr genutzt, und gelegentlich hat sie gesagt: "Ich fühlte mich wie die Petersilie auf der Aufschnittplatte". Damals wusste man noch nicht: Die Petersilie hat viel mehr Vitamine als die ganze Wurst.

Also, liebe Frau Carstens, die Formulierung, die wir alle nicht leiden können: ' Er hat es sich nicht nehmen lassen, hier her zu kommen ' - in diesem Falle stimmt sie. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, obwohl ich - Sie haben es auf dem Programm gesehen - früher gehen muss. Aber ich wollte Ihnen einfach danken und gratulieren: Für ein Leben, das andere reich gemacht hat, für ein Leben, bei dem nicht der Eindruck entstand, ich muss mich jetzt inszenieren, sondern für ein Leben, dass beharrlich einen Weg gesucht und Schneisen geschlagen hat. Darum nicht mehr über Naturheilkunde, sondern Gratulation zu dem zwanzigjährigen jungen Mann, den Sie heute feiern: Ihrem Verein "Natur und Medizin". Schon dass man diese Brücke braucht, Natur und Medizin, ist irgendwie hirnrissig, finde ich.

Wir feiern heute Veronica Carstens, der ich herzlich gratuliere, indem ich am Schluss doch noch meine Bonner Lieblingsanekdote erzähle. Sie handelt freilich von Konrad Adenauer. Als er neunzig wurde, gab ihm jemand die Hand und sagte: "Herr Bundeskanzler, ich wünsche Ihnen, dass Sie hundert Jahre alt werden." Da schaute Adenauer ihn grimmig an und sagte: "Warum wollen Sie der Barmherzigkeit Gottes so enge Grenzen setzen?"

Also sage ich nichts mehr über alles, was es in der Naturheilkunde gibt: Ich konsumiere es, wie 73 Prozent der Bürger der Bundesrepublik, und es werden immer mehr, sagt eine Allensbacher Studie.

Ich sage mit Konrad Adenauer: Liebe Frau Dr. Carstens, viele gute und gesunde Jahre und der Barmherzigkeit Gottes keine Grenzen!