Redner(in): Johannes Rau
Datum: 21. Juni 2003
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/06/20030621_Rede.html
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
das außerordentliche Treffen des Weltwirtschaftsforums kommt wahrlich zur rechten Zeit. Die Frage nach der Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens stellt sich nach den Ereignissen der vergangenen Monate dringender denn je. Es ist das Verdienst, Seiner Majestät des Königs, zusammen mit Professor Schwab die Initiative zu einer Konferenz ergriffen zu haben, die die Verantwortlichen aus westlichen und arabischen Ländern zusammenführt.
Der König hat in seiner Einladung treffend formuliert, was jetzt Not tut: Nämlich Vertrauen in unsere gemeinsame Zukunft wiederherzustellen, den Kampf gegen die Armut zu verstärken und den Mittleren und Nahen Osten zu stabilisieren. Es geht ganz konkret um die wirtschaft-lichen und sozialen Folgen des Irak-Kriegs, aber wir müssen noch weiter blicken: Es geht auch um die Lebensperspektiven der Menschen, vor allem der jungen Menschen, in der ganzen Region. Es geht um Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung und am politischen Prozess, es geht darum, die Würde jedes Einzelnen zu wahren, und es geht um das Verständnis, das die Menschen aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen füreinander entwickeln müssen.
Der Dialog der Kulturen sollte den politischen Prozess im Nahen Osten begleiten, und er würde ihn ohne Zweifel auch fördern. Er könnte dabei mithelfen, nach dem Ende des Irak-Kriegs die gesamte Region zu stabilisieren und den Frieden zu gewinnen. Auch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus würde der Dialog der Kulturen eine zentrale Rolle spielen. Die Botschaft aller Verantwortlichen sollte sein: Das Gespräch ist möglich und sinnvoll, es trägt zur Klärung unterschiedlicher Standpunkte bei; bei allen Unterschieden verbindet uns mehr als uns trennt; und schließlich: Die Angst ist unbegründet, dass der Dialog der Kulturen zum Verlust der eigenen Identität führt.
Ich glaube, dass es kaum einen Ort gibt, der besser geeignet wäre, über diese Fragen zu reden, als Jordanien. Dieses Land bildet den ruhenden Pol in der Mitte zwischen den entscheidenden Konfliktfeldern der Region.
Der Konflikt zwischen Israelis und der palästinensischen Bevölkerung bestimmt seit mehreren Generationen die politische Landkarte in der Region. Umso wichtiger ist es, bei allen Rück-schlägen den Blick nach vorn zu richten. Die "Road Map" ist ein vernünftiger Ansatzpunkt, und ich bin froh darüber, dass sie von allen Beteiligten akzeptiert wird. Es hat sich auch schon gezeigt, dass alle Beteiligten Ausdauer, politischen Mut und moralische Kraft brauchen, damit die "Road Map" zum Ziel führen kann. Darum darf nicht auf jeden Rückschlag mit einer Eskalation reagiert werden.
Die Umsetzung der Road Map, über die das Gespräch morgen weitergeht, ist zweifellos ein wichtiger Schritt. Mindestens genauso wichtig ist es aber, den vom Konflikt betroffenen Menschen für ihre eigene Zukunft, für das Leben ihrer Familien eine glaubwürdige Perspektive zu geben. Es gibt keine Rechtfertigung für Selbstmordattentate. Sie mögen ein Ausdruck religiöser Verblendung sein, häufig sind sie aber auch der letzte, verzweifelte Schritt von Menschen, die sich jeglicher Hoffnung für die Zukunft beraubt sehen. Wenn es nicht gelingt, gerade der heranwachsenden Generation Hoffnung zu vermitteln, dann wird auch die Gewalt nicht aufhören!
Im Irak ist ein Regime gestürzt worden, das über Jahrzehnte die eigene Bevölkerung brutal unterdrückt hat. Die Frage, wie es zu dem Krieg gekommen ist und ob dieser Krieg hätte verhindert werden können - diese Fragen können jetzt nicht mehr im Zentrum stehen. Heute ist es unsere Aufgabe, unseren Teil dazu beizutragen, das politische und wirtschaftliche Los des irakischen Volkes zu verbessern. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen hat im vergangenen Jahr erstmals einen Entwicklungsbericht für die arabischen Länder vorgelegt. Es gibt klare Empfehlungen dafür, was getan werden muss, um im Irak stabile, zukunftsorientierte und von der irakischen Bevölkerung in freier Selbstbestimmung getragene Verhältnisse zu schaffen. Wir alle müssen, soweit es in unserer Macht steht, zur Sicherheit und Stabilität in der Region beitragen. Das ist eine Aufgabe, die nicht Halt macht an der Grenze so genannter kultureller Unterschiede.
Freiheit und Gerechtigkeit - das sind die Werte, an denen wir uns orientieren müssen, wenn wir die Globalisierung wirtschaftlich und politisch auf einen guten Weg bringen wollen. Die Auswirkungen der Globalisierung spüren auch Sie im Nahen und Mittleren Osten. Vielleicht sogar stärker als in anderen Teilen der Welt verbinden die Menschen hier mit der Globalisierung auch die Angst, etwas zu verlieren - die Heimat, die eigene Identität, die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten. Für einige sind diese Befürchtungen schon bittere Realität geworden. Wir müssen Entfremdungsgefühle ernst nehmen und wir müssen ihren Ursachen nachgehen.
Wer sich heimatlos und entwurzelt fühlt, der wird aber leicht zum Opfer fundamentalistischer oder populistischer Parolen. Das sind Erfahrungen, die wir auch schon in Europa gemacht haben. Um so wichtiger ist es, Signale des Vertrauens zu setzen, Vertrauen darin, dass sich die Staatengemeinschaft, aber auch das eigene Gemeinwesen, darum bemühen, global und regional zu einer gerechten wirtschaftlichen und politischen Ordnung zu kommen.
Diese Themen werden Sie im Laufe der nächsten beiden Tage intensiv diskutieren. Ich will mich deshalb jetzt dem Umgang der westlichen mit der islamischen Welt zuwenden, oder, um den durchaus nicht unproblematischen Ausdruck zu gebrauchen, dem Dialog der Kulturen.
Wenn dieser Dialog Ergebnisse haben soll, dann sollte er sich, das ist meine feste Überzeugung, von folgenden Gedanken leiten lassen:
Die Vermittlung der eigenen Kultur ist ein hohes Gut. Wir dürfen es nicht dadurch gefährden, dass wir die Ausbildung unserer Kinder Personen überlassen, denen der Toleranzgedanke fremd ist. Das gilt auch für alle Formen religiöser Unterweisung. Wo Schulen oder Schulbücher Abgrenzung lehren oder gar Hass fördern, da machen sich auch die Regierungen schuldig. Ich begrüße die Bemühungen von israelischer und von palästinensischer Seite, dieser Problematik Rechnung zu tragen und neue Schulbücher entsprechend zu gestalten. Das verdient, vor allem angesichts der seit langem aufgeheizten politischen Atmosphäre, ein besonderes Lob.
Ich spreche bei diesem Thema aus eigener Erfahrung. Ein wichtiger Schritt der Aufarbeitung der deutschen und der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg hat darin bestanden, dass Deutschland zusammen mit einzelnen Nachbarstaaten Kommissionen eingerichtet hat, die sich speziell mit der Darstellung der gemeinsamen Vergangenheit in den Schulbüchern gekümmert haben. Wir haben mit diesem Verfahren, so schwierig und so langwierig es gewesen ist, gute Erfahrungen gemacht. Diese Arbeit war ein ganz wesentlicher Beitrag dazu, Feindschaft und Vorurteile abzubauen. Wir bieten an, unsere guten Erfahrungen auf diesem Gebiet mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens zu teilen.
Nur eine ausreichende Kenntnis der Gedankenwelt des Anderen erlaubt es, sich offen und vorurteilsfrei mit ihr auseinander zu setzen und nicht in erster Linie das scheinbar Trennende zu sehen.
Aber wie führen wir diesen Dialog am besten? Wenn wir einen gangbaren, gemeinsamen Weg suchen, dann müssen, so meine ich, zumindest drei Forderungen erfüllt sein.
Zur Achtung der Würde des Menschen gehört, dass sie spüren müssen, dass sie weder politisch, noch kulturell, weder wirtschaftlich, noch sozial ins Abseits gedrängt werden und dass sie eine Perspektive für eine lebenswerte Zukunft haben. Hier schließt sich der Kreis: Zuversicht für die persönliche Zukunft, die Überwindung der Marginalisierung zu vermitteln, das ist für mich nicht nur ein Gebot politischer und wirtschaftspolitischer Klugheit von Regierungen, sondern es ist auch ein moralischer Imperativ, der für alle gelten muss.
Wir müssen den Menschen in unseren Ländern nahe bringen, dass auch in einem festgefügten eigenen Weltbild Platz für die Existenz Anderer sein kann und muss. Lassen Sie mich aus dem Koran zitieren, wo es im letzten Vers der Sure 109 heißt: "Ihr habt Eure Religion und ich die meine".
Die Existenz und die Daseinsberechtigung anderer Religionen, anderer Wertvorstellungen und Weltbilder wird ausdrücklich bestätigt. Es ist durchaus möglich, seinen eigenen Überzeugungen, im religiösen oder im nichtreligiösen Bereich, ganz und gar ernst zu nehmen und ihnen treu zu sein, einen Standpunkt zu haben und klare Positionen zu beziehen und gleichzeitig offen zu sein für andere Überzeugungen und Standpunkte. Nach meinem Eindruck gibt es im intellektuellen Dialog ein grundlegendes Missverständnis: Manchmal herrscht der Eindruck vor, Toleranz und Respekt bedeuteten auch, andere Glaubensrichtungen und Überzeugungen nicht nur zu achten, sondern sie als genauso richtig wie die eigenen anerkennen zu müssen. Das ist ein Irrtum. Genauso falsch ist aber die Haltung, dass es den anderen und seine Auffassung, seine Glaubensüberzeugung eigentlich gar nicht geben dürfe. Wer so denkt, ist zum wirklichen Dialog unfähig.
Der Dialog, für den ich eintrete, erfordert nicht, die eigene Identität aufzugeben - im Gegenteil. Die eigene geistige und kulturelle Heimat ist eine Grundvoraussetzung für eine ehrliche, offene Auseinandersetzung mit dem Anderen.
Vor uns liegt ein weiter Weg. Ich will die Existenz tiefgreifender Differenzen in einer Reihe von Fragen nicht leugnen - es gibt auch Differenzen in Punkten, denen ich universelle Geltung beimesse. Wir müssen uns diesen Differenzen stellen und sie offen ansprechen. Wir sollten das aber so tun, dass Meinungsunterschiede, wie sie zwischen Menschen und zwischen Staaten immer wieder auftreten werden, nicht ausschließlich oder auch nur überwiegend durch die Brille angeblicher kultureller Differenzen gesehen oder gar als religiös motiviert verstanden werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns gelingen kann, alle diejenigen Lügen zu strafen, die einen Kampf der Kulturen für unvermeidlich halten. Das wäre ein großer zivilisatorischer Fortschritt und damit auch ein großer Schritt zum Frieden.