Redner(in): Johannes Rau
Datum: 24. Juni 2003

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/06/20030624_Rede.html


Die Vierzig meine Damen und Herren ist allen Kulturen und in allen Weltregionen eine ganz besonders symbolträchtige Zahl. Sie können das im Buddhismus, im Hinduismus, im Islam, im Judentum, im Christentum feststellen: Keine Zahl hat eine solche Strahlkraft wie die Vierzig. Man denke nur an Moses und die vierzig Jahre durch die Wüste oder an die Versuchungsgeschichte. Ein vierzigjähriges Jubiläum wie das des DED ist für mich Anlass, hierher zu kommen und mit Ihnen zu versuchen, dem Thema, das Sie beschäftigt und dem Sie sich verpflichtet fühlen, Resonanz zu verschaffen:

Ich will mithelfen, dass entwicklungspolitische Zusammenarbeit mehr Aufmerksamkeit findet als bisher,

ich will Menschen ehren, die ihren ganz persönlichen Beitrag in der Entwicklungshilfe leisten

und ich möchte mithelfen, das Bewusstsein für unsere globale Verantwortung zu schärfen.

Wenn man ein solches Jubiläum feiert, denkt man natürlich auch an Namen aus der Gründungszeit, an Walter Casper, an Winfried Böll, an Dieter Danckwortt, an Heinz Westphal, den ehemaligen Vizepräsidenten des Bundestages, an kirchliche Gruppen, an Jugendverbände, wie "Lernen und Helfen in Übersee", die schon in den fünfziger Jahren in der Entwicklungsarbeit engagiert waren. Sie haben maßgeblichen Anteil an der Gründung des DED, und wir haben allen Grund, ihnen dankbar zu sein. Sie haben sich seinerzeit gegen manche Widerstände in der damaligen Bundesregierung durchgesetzt. Es ist überliefert, dass Konrad Adenauer während der Gründungszeremonie des DED einem Nachbarn hörbar ins Ohr geflüstert hat: "Würden Sie Ihr Kind da hinschicken?" Ich erzähle das gern als Vater eines Kindes, das sich gerade darauf vorbereitet, in wenigen Wochen nach Lateinamerika zu gehen und dort Entwicklungshilfe zu leisten. Damals vor vierzig Jahren hat der Blick der Gruppen sich auch nach Amerika gerichtet. Sie haben "die freundschaftliche Zusammenarbeit der helfenden Nationen, nicht zuletzt des amerikanischen und des deutschen Volkes" gesucht. So hat es Walter Casper gesagt. Sie nahmen Kontakt auf zu Freunden der Familie Kennedy. Sie wollten, dass Präsident Kennedy den deutschen Bundeskanzler vom Nutzen eines Deutschen Entwicklungsdienstes überzeugt. John F. Kennedy hat daher zu dem Paten des Kindes gehört, dessen Geburtstag wir heute feiern. Heute kann der DED eine eindruckvolle Erfolgsbilanz vorweisen. Er hat ca. 13.000 Entwicklungshelfer aus über hundert Berufen in über fünfzig Länder entsandt. Diese Frauen und Männer haben dort hervorragende Arbeit geleistet:

Sie haben medizinisches Personal ausgebildet und haben selber als Ärzte gearbeitet, vor allem in ländlichen Regionen,

sie haben geholfen, die Trinkwasserversorgung zu verbessern, haben Schulen gebaut und Lehrer ausgebildet,

sie haben im Straßenbau mitgearbeitet.

Entwicklungshelfer, was sind das für seltsame Wesen, derentwegen sogar ein Gesetz erlassen wurde, das Entwicklungshelfergesetz? Da steht im Paragraphen 1: "Entwicklungshelfer... ist, wer in Entwicklungsländern ohne Erwerbsabsicht Dienst leistet, um in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zum Fortschritt dieser Länder beizutragen ( Entwicklungsdienst )".... . Besser als diese juristische Definition gefällt mir, was eine Afrikanerin gesagt hat: "Ein Entwicklungshelfer ist jemand, der ein Mensch ist." Und ich füge hinzu: Es sind Menschen, die neugierig sind, neugierig auf andere Menschen oder fremde Kulturen. Es sind auch Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, und seien die Schwierigkeiten noch so groß."Begnügt euch doch... ein Mensch zu sein", steht in Lessings Nathan. Das haben die Entwicklungshelfer getan. Sie haben erfahren, wie schwierig das oft ist und wie beglückend das oft sein kann. Sie haben mitgeholfen, Armut und Not zu lindern. Sie haben mitgeholfen, gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Sie haben das oft unter schwierigen und entbehrungsreichen und manchmal gefährlichen Bedingungen getan, wie z. B. gegenwärtig in Afghanistan. Entwicklungshelfer sind Opfer von Mord und Entführung geworden. Einige sind während ihrer Arbeit an heimtückischen Krankheiten gestorben. Ihrer allen wollen wir heute besonders gedenken. Trotz dieser Gefahren und Risiken finden sich immer wieder Menschen, die in der Entwicklungshilfe etwas ganz Praktisches tun wollen. Beim DED sind viele Frauen darunter, es sind über vierzig Prozent. Die Anforderungen, die der DED stellt, sind hoch, die Lebensbedingungen oft schwer. Trotzdem kann auch heute jede Stelle besetzt werden. Darüber freue ich mich. Wenn man eine knappe Bilanz der letzten Jahrzehnte entwicklungspolitischer Arbeit zu ziehen versucht, dann hat es unbestreitbare Erfolge gegeben:

Weltweit ist die Lebenserwartung gestiegen,

die Bildungschancen haben sich verbessert,

der Hunger ist zurückgegangen und

mehr Staaten als je zuvor bekennen sich zur Demokratie.

Wir müssen uns aber auch fragen, warum leiden immer noch mehr als 800 Millionen Menschen chronisch an Hunger? Warum sterben jeden Tag 24.000 Menschen, weil sie zu wenig zu essen haben? Warum hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft? Dass die Erfolge nicht so groß sind, wie wir uns das erhofft haben, dafür sind gewiss nicht die Entwicklungshelfer verantwortlich. Aber die Arbeit des DED und der anderen Organisationen könnte noch erfolgreicher sein, wenn die Rahmenbedingungen besser wären. Es ist heute notwendiger denn je, dass Entwicklungshilfepolitik gleichberechtigter Bestandteil im Geflecht deutscher und europäischer auswärtiger Beziehungen wird - zusammen mit Außen- , Sicherheits- und Außenwirtschaftspolitik, wie ich das auch bei anderer Gelegenheit schon gesagt habe. Mit den Instrumenten der Handelspolitik könnten die reichen Industrienationen den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas und ihren Menschen viel stärker und nachhaltiger helfen als mit denen der Entwicklungspolitik, so unverzichtbar sie auch bleibt. Die Märkte der G-8 und der Europäischen Union müssen für landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Entwicklungsländern und schrittweise für alle Produkte weiter geöffnet werden. Intensivere Entwicklungspolitik und verstärkte Zusammenarbeit kosten natürlich mehr Geld. Es ist über 33 Jahre her, daß die Industriestaaten beschlossen haben, 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungspolitik bereitzustellen. Es wäre schon viel erreicht, wenn wir uns endlich ernsthaft vornähmen, dieser Zahl wieder näher zukommen. Wir sind in Europa im Durchschnitt bei etwa der Hälfte dieser 0,7 Prozent, und nur ein Land in Europa hat diese Zahl erreicht. Meine Damen und Herren, Afrika ist der regionale Schwerpunkt der Arbeit des DED. Von den gegenwärtig tausend Helferinnen und Helfer in insgesamt 46 Ländern sind 462 in 24 afrikanischen Staaten tätig. Ich glaube, dass das eine vernünftige Entscheidung ist, denn Afrika steht immer noch vor gewaltigen Herausforderungen:

AIDS und andere Krankheiten, wie Malaria, Tuberkulose drohen, eine ganze Generation auszulöschen, und wir scheinen es nicht wahrzunehmen,

Millionen Menschen leben in Armut, Hungersnöte suchen immer wieder große Teile des Kontinents heim,

Millionen müssen ohne sauberes Trinkwasser auskommen.

Afrika braucht unsere Unterstützung, um den politischen und wirtschaftlichen Wandel bewältigen zu können, der diesem Kontinent abverlangt wird. Wir bekommen immer wieder furchtbare Nachrichten und Schreckensbilder von diesem Kontinent. In vielen Ländern fehlen die politischen Voraussetzungen für Frieden und für eine erfolgreiche Entwicklung. Staaten zerfallen, oder die Herrschenden üben ihre Macht ohne Transparenz und ohne demokratische Kontrolle aus. In Simbabwe versucht gegenwärtig ein autoritäres Regime, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben. Der Bürgerkrieg in der Elfenbeinküste hat nicht nur das Land selber an den Abgrund geführt, er bedroht die Stabilität der ganzen Region, und in Liberia sind wieder Kämpfe ausgebrochen. Das Land, das uns heute am meisten beunruhigt, das ist der Kongo, der immer wieder Schlagzeilen als Beispiel für eine verfehlte Entwicklung gemacht hat. Diese ehemalige Kolonie ist 1960 unvorbereitet in die Unabhängigkeit entlassen worden. Der Kongo war eines der ersten Länder außerhalb Europas, das durch den Ost-West-Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. In Zaire hat der Westen Jahrzehntelang um angeblicher Stabilität willen einen Diktator unterstützt, der eines der reichsten Länder Afrikas ausgeplündert hat. Es ist daher gut, dass Europa endlich, wenn auch spät reagiert, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen sterben, und wir hoffen, dass dadurch auch der Friedensprozess vorankommt. Dafür hat Südafrika in der Vergangenheit viel getan. Aber auch die Afrikanische Union ist gefordert. Sie muss mehr tun als bisher. Und ich freue mich darüber, dass die Europäische Union den Friedensprozess weiterhin großzügig unterstützen will. Mir erscheint europäische Hilfe unverzichtbar. Aber, meine Damen und Herren, Afrika ist nicht nur der Kontinent der Katastrophen und Missstände. Es gibt viele positive Entwicklungen, viele Veränderungen, die uns alle zuversichtlich stimmen. Leider erreichen uns solche Nachrichten zu selten. Südafrika ist bei allen inneren Problemen, mit denen das Land zu kämpfen hat, ein stabilisierender Faktor für den ganzen Kontinent. Das Engagement dieses Landes bei Friedensmissionen in ganz Afrika ist eindrucksvoll. Wir sehen auch ermutigende Beispiele in Angola. Im ersten Jahr nach dem Ende des langen Bürgerkrieges, der über ein Jahrzehnt lang auch ein sogenannter Stellvertreterkrieg war, werden jetzt die schlimmsten Kriegsfolgen schrittweise überwunden. Über drei Millionen Vertriebene und eine halbe Million Flüchtlinge haben wieder Hoffnung für die Zukunft. Der friedliche demokratische Regierungswechsel in Kenia gibt Hoffnung für den ganzen Kontinent und auch aus Mosambik kommen gute Nachrichten. Ich habe Mali besucht, und Sie, Herr Wilhelm, konnten dabei sein. Mali ist ein Land, das sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entschieden hat und das fest entschlossen ist, wirtschaftlich und sozial voranzukommen. Der Deutsche Entwicklungsdienst ist in Mali mit großem Erfolg tätig. Das habe ich selber gesehen. 28 Entwicklungshelfer des DED arbeiten in Mali, u. a. in der Landwirtschaft und in der Kommunalverwaltung. Mali ist ein Land, in dem ein Konflikt mit zivilen Mitteln überwunden werden konnte. Noch Anfang der neunziger Jahre haben die Kämpfe im Norden des Landes viele tausend Opfer gefordert, und viele Menschen mussten fliehen. Vor sieben Jahren sind in Timbuktu feierlich die Waffen verbrannt worden - mit dem Willen zur Vergebung und zur Versöhnung. Und seither werden die Lebensverhältnisse der Menschen neu geordnet und Grundlagen geschaffen, auch in den Köpfen und Herzen der Menschen, für ein gedeihliches Zusammenleben. Ich wünschte mir, dass sich Konfliktparteien in anderen Regionen der Welt daran ein Beispiel nähmen. Die positive Entwicklung in Mali, das ist im wesentlichen Ihr Verdienst, lieber Freund Konaré . Ich freue mich, dass Sie und Ihre Frau heute hier bei uns sind. Der demokratische und der soziale Fortschritt in Ihrem Land bestärken uns darin, eng mit unseren afrikanischen Freunden zusammenzuarbeiten. Denn es gibt in Afrika eine neue Generation von Politikern, die Demokratie und Menschenrechte in den Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union durchsetzen wollen. Und genau hier setzt die Initiative der G-8 -Staaten an, bei Rechtsstaatlichkeit und bei der Stärkung von Demokratie und Menschenrechten. Wir wollen aber auch die Fähigkeiten Afrikas fördern, Konflikte auf dem eigenen Kontinent zu lösen. In Evian haben die reichen Industriestaaten vor wenigen Wochen ihre Absicht bekräftigt, die Staaten bei den militärischen, polizeilichen und zivilen Kapazitäten für friedenserhaltende Einsätze zu unterstützen. Deutschland engagiert sich sehr dafür. Ein herausragendes Beispiel ist das inter-nationale "Kofi-Annan-Peaekeeping-Ausbildungszentum" in Accra. Dort werden Soldaten für Friedenseinsätze aus ganz Westafrika aus- und fortgebildet. Die Bundesregierung finanziert es mit. Deutsche Lehrkräfte bilden dort aus. Afrikanische Mitarbeiter werden in Deutschland geschult. Für den Einsatz von zivilen Kräften bei Friedensmissionen wird ein Modelllehrgang geplant. Damit bin ich bei einem Thema, das ich vor Ihnen gern ansprechen möchte, das mir besonders am Herzen liegt. Wir brauchen Mut zur Zivilität, wenn wir die Ursachen gewaltträchtiger Konflikte wirklich lösen wollen. Wir müssen viel früher viel mehr Energie und viel mehr finanzielle Mittel darauf verwenden, anderen zu helfen, um Konflikte mit zivilen Mitteln zu lösen oder wenigstens einzudämmen. Je länger wir damit warten, desto größer werden Probleme, desto schwieriger wird die friedliche Lösung. Der Kongo ist wieder einmal ein Beispiel für diese Erfahrung. Das Land Nordhrein-Westfalen hat darum schon 1986 den "Konkreten Friedensdienst" gegründet und fördert seit 1997 die Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung. Ich bitte dringend darum, das nicht einzustellen, nur weil Geld knapp geworden ist. Ich freue mich darüber, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diese Idee des zivilen Friedensdienstes aufgegriffen und neben anderen Organisationen auch dem DED übertragen hat. Ich möchte ein Beispiel herausgreifen. Ein Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin des DED unterstützen unter schwierigsten Bedingungen Nichtregierungsorganisationen in Simbabwe und helfen dadurch, die Zivilgesellschaft zu erhalten. Ich habe Ihren Bericht darüber in der letzten Ausgabe des DED-Briefes mit Interesse und Zustimmung gelesen. Beim zivilen Friedensdienst arbeitet der DED mit fünf anerkannten Entwicklungsdiensten zusammen. Das ist vernünftig. Die Erfahrungen dieser und anderer Gruppen müssen genutzt werden. Der langjährige Mitgeschäftsführer des DED, Willi Erl, hat sich um diesen zivilen Friedensdienst besonders verdient gemacht. Für die Arbeit des DED ist die Bereitschaft charakteristisch, von fremden Kulturen zu erlernen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum geschrieben, kaum ein Entwicklungshelfer kehre aus dem Ausland "ohne Erweiterung seines Horizontes, ohne eine Vertiefung seiner Einsicht, ohne ein empfangenes Geschenk menschlicher Wärme zurück". Eine Agraringenieurin, die in Brasilen war, hat es so gesagt: "Es ist die reichste Erfahrung, die ich in meinem Leben gemacht habe". Ich glaube, dass solche Erfahrungen weitergegeben werden müssen. Daher halte ich die Bildungsarbeit des DED in Deutschland für ganz wichtig. In Berlin betreiben DED und Senat seit achtzehn Jahren entwicklungspolitische und interkulturelle Veranstaltungen im Rahmen des Schulprogramms. Ich wünschte mir, dass sich auch andere Länder dieser Initiative anschlössen und mit dem DED Schulprogramme dieser Art beginnen würden. Ich habe am Anfang davon gesprochen, dass die Entwicklungspolitik in Deutschland zu wenig Resonanz findet. Damit sich das ändert, habe ich den "Schülerwettbewerb Entwicklungspolitik" ins Leben gerufen, und er wird im kommenden Schuljahr zum ersten Mal stattfinden. Bundespräsident Heinrich Lübke hat vor vierzig Jahren etwas skeptisch folgendes gesagt: "Dieser junge Täufling hat nun schon geradezu waggonweise oder schiffsweise Ladungen von Erwartungen und Mahnungen auf seinem Rücken, bevor er noch in der Lage ist, etwas tragen zu können. Ich hoffe, dass er solange Zeit hat, bis die Knie gestärkt sind, damit er nicht gleich unter der Last wieder zusammenbricht". Heute können wir sagen, der Täufling hat starke Knie bekommen. Der DED schultert die Lasten, die ihm aufgebürdet worden sind, und hat vier Jahrzehnte erfolgreicher Arbeit hinter sich. Wir brauchen ihn auch in Zukunft, weil der Bedarf an solchen Diensten alles andere als erschöpft ist. Der DED, so hat Heinz Westphal gesagt, hat Inseln der Zuversicht geschaffen, Inseln der Zuversicht für viele Menschen. Tun Sie das weiter.