Redner(in): Johannes Rau
Datum: 3. März 2003
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/03/20030303_Rede2.html
Ich freue mich darüber, dass ich heute vor den beiden wichtigsten indischen Wirtschaftsverbänden sprechen kann. Ihre Veranstaltungen sind ein bedeutendes Forum in einem großen Land, das eine immer aktivere Rolle in der Welt spielt. Daher spreche ich gerne zu Ihnen über Fragen der internationalen Politik, die uns alle bewegen.
I. Die Beziehungen zwischen Asien und Europa, zwischen zwei Kontinenten, die geografisch zusammengehören, sind geprägt von Konkurrenz, Konflikt, aber auch von Kooperation: Der Kampf zwischen Persern und Griechen, der Zug Alexanders bis zum Indus, die Reisen Marco Polos, all das sind historische Ereignisse, die vielen geläufig sind. Die wenigsten mögen wissen, dass unter der Asche von Pompeji auch die Statue einer indischen Göttin gefunden wurde.
Europa verdankt Indien viel, und das bis heute: Nicht nur in der Philosophie, auch in anderen Wissenschaften, vor allem in der Astronomie und in der Mathematik. Aus Indien kam die Null, eine Ziffer von geradezu unendlicher Bedeutung. Wie könnten viele Regierungen in allen Teilen der Welt ihre Haushaltsdefizite in Zahlen ausdrücken, wenn es die Null nicht gäbe?
Indische Absolventen, die die Elite-Universitäten Ihres Landes verlassen, sind weltweit gesuchte Kräfte in den Unternehmen der Hochtechnologie. Wir würden uns darüber freuen, wenn mehr Softwarespezialisten nach Deutschland kämen - leider scheinen für viele Experten die USA attraktiver zu sein. Bisher jedenfalls, so füge ich hoffnungsvoll hinzu.
II. Als der deutsche Indologe Max Müller seine Studenten in Cambridge fragte: "Was könnenwirvon Indien lernen?", war das eine Provokation, denn niemand in Europa zweifelte damals an der Überlegenheit europäischer Kultur, Zivilisation und Wirtschaft.
Diese Auffassung gehört der Vergangenheit an. Längst wissen wir, dass die bestehende Zusammenarbeit zwischen Europa und Asien, zwischen europäischen und asiatischen Staaten keine Einbahnstraße sein darf.
Ob in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder in der gesellschaftlichen Entwicklung: Wir sind immer stärker darauf angewiesen, zusammenzuarbeiten und voneinander zu lernen. Dann kann es uns gelingen, aus der Globalisierung auch eine Geschichte eindrucksvoller Erfolge zu machen.
Indien ist ein großartiges, eindrucksvolles Beispiel dafür, wie es gelingen kann, auf Verschiedenheit zu achten und dennoch gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Indien ist die Geburtsstätte zweier Weltreligionen und die Heimat einer Vielzahl von Glaubens- und von Sprachgemeinschaften. Jede hat ihre eigene kulturelle Entwicklung genommen. Zugleich ist es Indien gelungen, in mehr als fünfzig Jahren, unter schwierigen Rahmenbedingungen, einen demokratischen, föderal verfassten Staat zu schaffen, in dem mehr als ein Sechstel der Menschheit lebt.
III. Schwerer noch als den Frieden im eigenen Land zu wahren, ist es oftmals, dafür zu sorgen, dass die Staaten untereinander im Frieden leben. Wir alle hatten mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes gehofft, dass Gewalt und Krieg aus dem Arsenal der Politik verschwinden. Diese Hoffnung hat leider getrogen.
In diesen Tagen schauen wir mit besonderer Sorge auf den Irak. Indien und Deutschland sind gemeinsam der Auffassung: Es muss alles versucht werden, die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates auf friedlichem Weg vollständig politisch umzusetzen. Nur so kann es gelingen, die wirtschaftliche und politische Stabilität in der Region zu sichern. Lassen Sie mich hinzufügen: Über den Weg, wie Friede und Stabilität am besten zu sichern sind, gehen die Meinungen auseinander. Über das Ziel aber, das wir erreichen wollen, gibt es keinen Dissens. Das wird in der Hitze der Diskussion manchmal aus dem Auge verloren. Es geht uns allen darum, die Massenvernichtungswaffen des Irak zu beseitigen und den Irak dazu zu bringen, die Resolution 1441 strikt zu befolgen.
IV. Unsere Haltung in dieser Frage ist - wie die jedes Landes - natürlich auch von unserer besonderen historischen Erfahrung geprägt. Wir haben im 20. Jahrhundert bitter lernen müssen, dass nicht Krieg, Gewalt und Hegemoniestreben, sondern dass Kooperation, Dialog und Rüstungskontrolle zu Stabilität und Wohlstand führen.
Integration und Zusammenarbeit in Europa, die friedliche Überwindung der Teilung des Kontinents, das ist für uns die große politische Erfolgsgeschichte des letzten halben Jahrhunderts.
V. Unser Blick ist aber nicht europazentriert. Wir suchen auch nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Kontinenten. Schon heute sind die Formen der Kooperation zwischen Asien und Europa, zwischen europäischen und asiatischen Staaten umfangreich und vielfältig. Wir wollen sie ausbauen.
In Asien lebt heute nahezu die Hälfte aller Menschen der Welt. Ihr Kontinent gewinnt gerade auch als Wirtschaftsraum rapide an Bedeutung.
Dass Indien und andere asiatischen Staaten interessante und lukrative Wachstumsmärkte sind, das weiß niemand besser als Sie. Die wirtschaftliche Reformpolitik, die Ihr Land zu Beginn der 90er Jahre eingeleitet hat, hat auch zur Intensivierung und zum Ausbau der deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen beigetragen. Das Potential der Zusammenarbeit ist aber bei weitem noch nicht erschöpft. Die bisherigen Erfolge sollten uns ermutigen, neue und noch größere Anstrengungen zu unternehmen. Ich freue mich daher besonders darüber, dass Indien Schwerpunktland der Asien-Pazifik-Tage ist, die im Herbst dieses Jahres in Berlin stattfinden werden. Ihre beiden Verbände gehören zu den Organisatoren. Ich bin sicher, dass Sie ein attraktives Programm erstellen werden, das das Publikum anspricht und zusätzliches Interesse an Indien weckt.
VI. Eine der Grundlagen für wirtschaftlichen Erfolg ist die wissenschaftliche Forschung. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Indien ist beispielhaft. Es gibt - ich nenne nur einige Zahlen - mehr als 40 deutsch-indische Hochschulkooperationen und rund 1.500 deutsch-indische wissenschaftliche Veröffentlichungen. Während meines Besuches will ich daher auch die Universität Haiderabad besuchen, an der der wissenschaftliche Austausch zwischen unseren Ländern besonders ausgeprägt ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen versichern, dass Deutschland in Wirtschaft und Wissenschaft gerne mit Indien zusammenarbeitet, zum Wohle der Menschen in unseren Ländern, aber auch im Interesse - und zum Nutzen - aller, die am Wirtschafts- und Wissenschaftsaustausch teilhaben.