Redner(in): Johannes Rau
Datum: 4. März 2003
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2003/03/20030304_Rede2.html
Johannes Rau: Sehr geehrter Herr Professor Gangrade, ich danke Ihnen, dass Sie uns das Birla-Haus, diesen historisch so bedeutenden Ort, für die Diskussion zur Verfügung gestellt haben. Und ich danke den indischen und deutschen Teilnehmern hier auf dem Podium dafür, dass Sie sich zum Gespräch bereit erklärt haben.
Im 20. Jahrhundert haben demokratische offene pluralistisch verfasste Gesellschaften zwei große Herausforderungen durch totalitäre Ideologien erfolgreich bestanden. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit der Auflösung des Warschauer Paktes ging das Ende der kommunistischen Ideologie einher, wie sie in den Länder des real existierenden Sozialismus zum Ausdruck kam. Der Triumph der Demokratie und der offenen Gesellschaft schien vollkommen. Jetzt aber sehen sich die demokratischen Staaten und die offenen freiheitlichen Gesellschaften einer neuen Herausforderung gegenüber. Der 11. September 2001 hat das deutlich gemacht. Die Täter und ihre Hintermänner wollen eine Gesellschaft zerstören, die gegründet ist auf der Herrschaft des Rechtes, auf Meinungsfreiheit und auf Toleranz. Sie glauben sich im Besitz einer ewigen Wahrheit. Wie begegnen wir diesen Herausforderungen?
Indien und Deutschland verbinden gemeinsame Überzeugungen und Werte wie die Menschenrechte, die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Toleranz, der Föderalismus. Deshalb sind wir Partner in der weltweiten Allianz gegen den Terror.
Unbeschadet gemeinsamer Überzeugungen prägen uns auch andere Traditionen, unterschiedliche Kulturen. Mich würde interessieren, welche Gemeinsamkeiten, aber auch welche Unterschiede sich in den Antworten auf die Fragen zeigen, die vor uns liegen.
Ich glaube, dass wir diese Fragen nirgendwo besser als gerade an dieser Stätte diskutieren können, an der Mahatma Gandhi, den Sie "Bapu" nennen, ein zutiefst gläubiger Mensch, der für Toleranz und Verständigung eingetreten ist, das Opfer eines fanatisierten Attentäters geworden ist.
Wie können wir den Terrorismus bekämpfen? Besteht die Gefahr, dass dabei Freiheitsrechte im Übermaß eingeschränkt werden? Besteht zu befürchten, dass der Terrorismus die Konsolidierungserfolge der Demokratie im vergangenen Jahrhundert "korrodiert", so hat es Parlamentspräsident Joshi bei der Rede zum "Goldenen Jubiläum" des Indischen Parlaments formuliert?
Was sind die Wurzeln des Terrorismus, welches ist der Nährboden, auf dem Sympathisantentum gedeiht? Ansatzpunkt dafür, eine Welt ohne Hass, ohne Feindschaft und gewaltsame Auseinandersetzungen zu schaffen, ist es doch, dass überall auf der Welt grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt werden. Dazu gehören Identität und Anerkennung, das Streben nach Sicherheit und nach Entwicklung. Denn Armut und Ausbeutung, Elend und Rechtlosigkeit können Menschen verzweifeln lassen - und die Missachtung religiöser Gefühle und kultureller Traditionen nimmt den Menschen Hoffnung und Würde. Oft wird die Globalisierung für den Verlust von Werten und Kulturen verantwortlich gemacht, und damit indirekt auch verantwortlich für den Terrorismus.
Hat nicht auch der dominierende Einfluss des Westens dazu geführt, dass sich viele andere Kulturen als "nicht westlich" oder gar als "antiwestlich" definieren? Ich fürchte, dass die vielfach gegenwärtige Überflutung mit dem westlichen "way of life" bei vielen zu einem Gefühl der Ohnmacht und des Verlustes an Würde führt. Wenn das so ist, dann besteht die Gefahr, dass viele ihren Stolz nur noch in religiösen oder gar fundamentalistischen Kategorien ausdrücken können. Auf diesem Nährboden gedeiht aber der Fundamentalismus, der seine eigene Dynamik der Gewalt entwickelt.
Eine zweite Frage, hängt eng zusammen mit dem ersten Komplex: Stehen wir, wie von manchen befürchtet, vor einem "clash of civilisations" ?
Unterschiedliche Konfessionen haben Deutschland und Europa für viele Jahrhunderte gespalten. Religiöse Kriege haben viele Opfer gefordert. Auch für Indien und Pakistan war der Weg in die Unabhängigkeit verbunden mit religiös motivierter Gewalt. Wiederholt sich die Geschichte, aber jetzt im Weltmaßstab?
Dabei müssen wir uns vor Augen führen: Wir sind Zeugen einer politischen Auseinandersetzung im Nahen und Mittleren Osten, nicht einer zivilisatorischen. Aber es besteht die Gefahr, dass unbedachter oder absichtlicher Sprachgebrauch den Weg dazu bereiten. Die angebliche Tonbandaufzeichnung Bin Ladens vom 10. Februar spricht vom "Kampf gegen die Kreuzfahrer" und der Begriff des Kreuzzuges war nach dem 11. September sehr schnell auf der Tagesordnung. Wie können wir dem entgegenwirken? Wie können wir im Dialog dazu beitragen, Gemeinsamkeiten zu finden und die "offene Gesellschaft" als gemeinsames Prinzip zu verankern? Wie können wir die Menschen immunisieren gegen die Versuchungen des Totalitarismus, gegen einen Fundamentalismus, der nicht dialogbereit und nicht dialogfähig ist und der mit scheinbar einfachen Antworten auf äußerst komplexe Fragen lockt?
Ist der 11. September eine Reaktion gegen die Moderne, gegen die Schattenseite der Moderne oder gegen die Globalisierung insgesamt? Ist es ein Naturgesetz, dass wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Fortschritt einhergehen muss mit der Preisgabe kultureller Identität, mit dem Verlust historisch gewachsener Bindungen und religiöser Überzeugungen? Ich glaube nicht. Die Bewahrung der Tradition in der modernen Welt - wie weit ist sie möglich und nötig? Wie sind, meine Damen und Herren, Ihre Erfahrungen?
Wie können wir Freiheit, Gerechtigkeit, aber auch soziale und kulturelle Identität des Menschen sichern?
Oder im wirtschaftlichen Bereich: Kann sich der Nationalstaat gegen die globalen Kräfte weltweit operierender multinationaler Unternehmen behaupten?
Das alles sind Fragen, die ich mitgebracht habe aus Deutschland und die ich gerne mit Ihnen diskutiert wüsste, und ich danke Dr. Theo Sommer, dass er sich bereit erklärt hat, diese Diskussion zu moderieren.
Dr. Theo Sommer: Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, es ist mir eine große Ehre, hier mit dem Bilde Gandhis im Rücken die Moderation zu übernehmen. Ich glaube, das ist für unser Thema hier ganz besonders passend. Ich darf Ihnen erst einmal die Teilnehmer auf unserem Podium vorstellen.
Zunächst die indischen Teilnehmer:
Da ist ganz links Herr Rajdeep Sardesai,"Ressortchef Politik" beim indischen Fernsehsender New Delhi Star TV und einer der bekanntesten Anchormen des Landes; neben ihm Professor Sudhir Kakar, ein Psychologe, Psychiater von internationalem Renommee und dann unser Gastgeber Herr Professor Gangrade, de facto der Vorsitzende der Gandhi-Smriti-Stiftung - der Ex-officio-Vorsitzende ist immer der Premierminister. Wir danken ihm auch ganz besonders für die Gastfreundschaft an diesem heutigen Tage.
Auf der rechten Seite ist der Damenflügel:
Frau Sonal Mansingh, Choreographin, Tänzerin, ein Mitglied der deutsch-indischen Beratungsgruppe und
Frau Naina Lal Kidwai, Managing Director von HSBC Investmentbanking, die erste indische Alumna der Harvard-Business-School.
Auf der deutschen Seite haben wir zunächst Frau Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, dann Professor Frühwald, den Präsidenten der Humboldt-Stiftung, schließlich den SPD-Bundestagsabgeordneten Edathy.
Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat die Fragenkomplexe scharf herausgearbeitet, über die wir diskutieren wollen.
Das ist:
Der Terrorismus. Was sind seine Wurzeln? Was ist sein Nährboden? Was steckt dahinter? Zum Teil eine Verschleppung der Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes oder reine ideologische Verblendung. Wie können wir mit dem Terrorismus fertig werden?
Ist der Kampf der Al Qaida gegen den Westen der Vorbote jenes clash of civilisations, den Professor Sam Huntington uns vor zwölf oder dreizehn Jahren schon vorhergesagt hat - eines Kampfes der Kulturen also? Ist er ein Aufstand gegen die Moderne, gegen die Globalisierung, gegen den Westen, der ja für seine Wertmaßstäbe, seine Lebensart, seine demokratische Verfassung universelle Gültigkeit beansprucht? Stehen wir in der Tat vor einem neuen Zeitalter der Kreuzzüge oder können wir das verhindern?
Was kann demgegenüber der Dialog der Kulturen ausrichten? Der Bundespräsident hat zu diesem Dialog immer wieder an seinen Runden Tisch im Schloss Bellevue eingeladen. Das Thema liegt ihm sehr am Herzen, und ich hoffe, dass wir heute einige Antworten, auch gerade aus indischer Sicht, bekommen. Was sind die indischen Erfahrungen mit dem Dialog der Kulturen? Wird er oder wie wird er im säkularen Indien gepflegt? Besteht die Gefahr, dass zwischen Moslems und Hindus auf dem Subkontinent derzeit die Zugbrücken hochgezogen werden?
Ich würde gerne meine erste Frage an Professor Gangrade richten. Welchen Wurzeln entspringt der Terrorismus? Sind das vornehmlich politische Wurzeln, kulturelle Wurzeln oder religiöse Wurzeln?
Prof. Gangrade: Vielen Dank. Wenn man sich Gandhis Autobiographie anschaut, was er in "My life is my message" ( Mein Leben ist meine Botschaft ) gesagt hat, dann hat Gandhi nur zwei oder drei Worte gebraucht. Wenn wir Frieden in der Welt wollen, dann müssen wir Hass und Rache durch Liebe ersetzen. Wenn wir anfangen, einander zu lieben, dann wird es eines Tages vielleicht keine Gewalt dieser Art mehr geben. Aber diese Art von Hass und Rache sind so geschürt worden, dass die Menschen glauben, Frieden bekommt man nur um den Preis der Gewalt. Aber Gandhis Botschaft war, dass Frieden überall auf der Welt erreicht werden kann, wenn man einander liebt. Lassen Sie mich sagen, dass Indien und Deutschland einander kulturell vertraut sind und dass sie im politischen und wirtschaftlichen Bereich freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Ich meine: Zueinanderfinden ist der erste Schritt. Zusammenstehen bedeutet Fortschritt. Zusammenarbeiten bedeutet Erfolg. Wenn alle zusammenarbeiten, wird es Fortschritte geben.
Dr. Theo Sommer: Frau Staatsministerin, an Sie würde ich gern die Frage richten, was können, was müssen wir tun, um zu verhindern, dass den Terroristen aus den Elendsvierteln der Erde immer neue Rekruten zuwachsen?
Kerstin Müller: Vielen Dank, Herr Sommer. Zunächst einmal möchte ich sagen, dass auch ich mich sehr geehrt fühle, an der Stätte, an der Mahatma Gandhi gestorben ist und wo er sich auch oft aufgehalten hat, an dieser Diskussion teilzunehmen. Mahatma Gandhi war, wie der Bundespräsident gesagt hat, ein zutiefst gläubiger Mensch, der aber eben auch für Toleranz und Verständigung eingetreten ist. Wenn wir heute gemeinsam darüber diskutieren, was wir tun können, um den Terrorismus zu bekämpfen, um den clash of civilisations, von dem der Bundespräsident gesprochen hat, zu verhindern, dann müssen wir uns auch mit den Ursachen des Terrorismus beschäftigen. Wir können das heute nur kurz anreißen, aber ich denke, dass Armut und soziale Instabilität den Nährboden, auf dem Fundamentalismus und Terror gedeihen, bereiten. Terrorismus wird geboren aus einer Mischung aus Minderwertigkeitsgefühlen, Machtlosigkeit, Fanatismus und vielleicht auch religiös verbrämten Aggressionen.
Wenn wir die Ursachen von Terrorismus bekämpfen wollen, dann müssen wir uns auch daran machen, die Globalisierung zu gestalten, denn es sind oft die Menschen, die man zu den Verlierern der Globalisierung zählen muss. Ich hatte gestern eine Diskussion mit Vertretern und Vertreterinnen der indischen Zivilgesellschaften und NGOs; dort hat einer der Teilnehmer von "civilising globalisation", also der Zivilisierung der Globalisierung, gesprochen. Das fand ich sehr bemerkenswert und passend. Hier in Indien wurde ja zu Beginn der 90er Jahre die Globalisierung gerade als Chance gesehen, Armut zu bekämpfen und Wohlstand zu erreichen. Es gab zunächst einen regelrechten Boom, aber wir sehen möglicherweise gerade hier auch die Schattenseiten der Globalisierung, wenn Regierungen ihre Macht an Firmen verlieren und die Schutzfunktion des Staates untergraben wird. Spätestens nach dem 11. September mussten wir lernen, dass Globalisierung nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eben auch eine höchst komplexe gefährliche politische Dimension hat, im Sinne der Globalisierung von Gefahren, von Terrorismus und von Ungerechtigkeit. New York, Djerba, Bali sind plötzlich eben nicht mehr tausende von Kilometern entfernt, sondern sind Mosaiksteine ein und desselben schrecklichen Bildes. Ich glaube, die Antwort kann sein, dass wir uns gemeinsam daran machen, die Globalisierung zu gestalten. Sie sozial gerecht und ökologisch zu gestalten ist die große Herausforderung, vor der wir stehen und der wir uns gemeinsam, sozusagen mit einer Art Weltinnenpolitik, stellen müssen. Das bedeutet auf der internationalen Ebene zum Beispiel, dass wir einen Internationalen Strafgerichtshof brauchen. Ein anderes Beispiel ist das Kyoto-Protokoll, für dessen Inkrafttreten sich die Bundesregierung stark einsetzt. Weitere Beispiele sind gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit und Handelsgerechtigkeit, die, wie ich glaube, außerordentlich wichtig sind und an die wir uns machen müssen, wenn wir wirklich die tieferen Ursachen von Terrorismus bekämpfen wollen.
Dr. Theo Sommer: Ich darf den Kollegen Herrn Shekar Gupta, Chefredakteur des "Indian Express" begrüßen. Schön, dass Sie zu uns gestoßen sind. Und ich möchte gleich an Sie die Frage richten: Ist der Terrorismus, dem sich Indien seit einem Jahrdutzend gegenüber sieht, eine Unterabteilung des weltweiten Terrorismus oder ist er ein regionales und regional zu erklärendes Problem?
Shekar Gupta: Nun, Terrorismus in Indien, das ist eine komplexe Frage, denn der Terrorismus, den wir heute in Indien erleben, hat seine Wurzeln nicht in Indien. Ich spreche als ein Journalist, dessen Zeitung in vorderster Front darüber berichtet, was wirklich passiert; meine Zeitung ist die einzige, die von Kaschmir aus publiziert, und wir haben dort ein sehr stark besetztes Korrespondentenbüro. Ich kann Ihnen sagen, dass in den vergangenen drei Jahren mehr als 90 % der an terroristischen Anschlägen in Kaschmir beteiligten Personen nicht aus Indien stammen, sie kommen aus Pakistan herüber. Sie sind von den Pakistanern ausgebildet worden. Sie werden systematisch über die Grenze geschleust und haben einen bestimmten Auftrag zu erfüllen. Und obwohl es Gründe für unser eigenes Volk in Kaschmir gibt, wütend zu sein oder sich entfremdet oder ausgegrenzt zu fühlen und obwohl es gewaltsame Übergriffe der Sicherheitskräfte gab, insbesondere in der Vergangenheit, glaube ich, dass mit dem Neubeginn des politischen Prozesses dort und auch weil die Bevölkerung der Gewalt überdrüssig ist, der Ärger sich jetzt allmählich legt, denn ich glaube, das indische Beispiel hat gezeigt, dass die beste Art der Überwindung dieser Art von Ärger und Entfremdung tatsächlich ein demokratisches System ist. Irgendwann kommen die Menschen nämlich an einen Punkt, wo sie glauben, dass sie das, was sie wollen, durch die Macht der Demokratie erreichen können. Sie können sich dadurch sogar an Menschen rächen, von denen sie ihrer Meinung nach zu Opfern gemacht wurden. Aber was jetzt passiert, ist kein hausgemachter Terrorismus. Und man kann ihn auch nicht auf irgendetwas schieben, was zurzeit hier passiert. Es gibt viele andere Gründe, warum es in anderen Teilen Indiens zu terroristischen Anschlägen kommen könnte. Und tatsächlich gab es ja auch vor etwa 15 Jahren noch wesentlich mehr Terrorismus indischen Ursprungs. Wir hatten sehr starke terroristische Bewegungen in Punjab, in weiten Teilen Nordostindiens, in einigen Gegenden Zentralindiens sowie da, wo der Terrorismus eher kommunistisch oder extrem marxistisch orientiert war. Viele dieser Bewegungen sind vom politischen Prozess hier absorbiert worden. Ich glaube, dass da, wo die Gewalt terroristischer, separatistischer oder aufgebrachter Gruppen zunimmt, auch die Gegengewalt des Staates wächst. Und wenn die Gewaltspirale einen Punkt erreicht, an dem der Staat zu der Überzeugung kommt, dass die militärische Lösung allein nicht funktioniert, muss er verfassungsrechtliche Konzessionen machen und demokratische Lösungen anbieten. Und ähnlich ist es mit Leuten, die kämpfen - terroristische Aufständische oder wie immer man sie nennen mag: Auch sie sehen, dass man mit Gewalt die Macht eines so großen Staates nicht besiegen kann, der von einem völlig legitimen demokratischen System gestützt wird. In der Vergangenheit konnte vielen solchen Bewegungen im Rahmen der Verfassung Rechnung getragen werden. In einigen Fällen hat das Parlament neue Verfassungsartikel verabschiedet oder bestehende geändert, um auf örtliche Ängste und Sorgen zu reagieren. Um also auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen, glaube ich, dass es viele regionale Ursachen für den Terrorismus gibt. Aber was ist das für ein Terrorismus, dem wir uns heute gegenübersehen? Wissen Sie, ich würde hier gerne auf zwei Fakten verweisen. Erstens: Bitte schauen Sie sich einmal die Namen der Verdächtigen an, die im Camp X-Ray in Guantanamo Bay einsitzen. Schauen Sie sich bitte die Liste der Verdächtigen mit Al-Qaida-Beziehungen auf der FBI-Website an. Sie werden dort Muslime aus Amerika, Frankreich, vermutlich auch aus Deutschland, aus Indonesien, Bangladesch, Pakistan, natürlich aus Afghanistan, aus jedem Land der Welt finden. Aber nicht ein einziger indischer Muslim ist unter all den Al-Qaida-Verdächtigen aufgeführt. Es gibt nicht einen indischen Muslim im Camp X-Ray. Und schließlich sind wir ja keine kleine muslimische Bevölkerung. Wir sind 145 Millionen Muslime. Also muss es ja wohl einen Grund geben, und ich glaube, dieser Grund ist die Demokratie. Nun haben die Muslime in Indien keineswegs eine perfekte Demokratie. So etwas wie eine perfekte Demokratie gibt es nicht. Muslime in Indien, insbesondere unter dieser Regierung, haben durchaus Grund zur Klage. Muslime sind in diesem Kabinett nämlich erheblich unterrepräsentiert. Auch in unserer ganzen Bürokratie von heute sind Muslime nur sehr spärlich unterrepräsentiert. Die Muslime fühlen sich ein bisschen außen vor gelassen. Natürlich sind im Kricket-Team zurzeit sehr viele Muslime vertreten. Das ist vielleicht ein kleiner Trost. Aber wenn es keine indischen Verdächtigen auf dieser gesamten Liste gibt, dann muss es dafür einen Grund geben. Und mein zweiter Punkt ist folgender: Schauen Sie sich einmal den Terrorismus an, den wir in Kaschmir haben. Dort gibt es eine der gefährlichsten terroristischen Situationen auf der ganzen Welt. Nicht ein einziger indischer Muslim außerhalb der Region von Kaschmir ist an dieser terroristischer Bewegung beteiligt. Die Mehrzahl der indischen Muslime - 95 % , 97 % aller indischen Muslime - leben außerhalb Kaschmirs, haben nichts zu tun mit dem, was in Kaschmir passiert, mit dem, was Pakistan einen islamischen Dschihad nennt. Also glaube ich, dass selbst der Dschihad, selbst der einheimische Terrorismus seine Grenzen hat, wenn er auf eine echte politische Demokratie trifft. Und deshalb glaube ich, dass es nicht überraschend ist, dass die Mehrzahl der Leute, die diese Flugzeuge entführt und in das World Trade Center und das Pentagon geflogen haben, aus Saudi-Arabien stammten, das kein Opfer der Globalisierung, kein Opfer der Armut und nicht grundsätzlich antiwestlich eingestellt ist. Es ist einfach nur ein Land, in dem die Menschen wütend auf ihr eigenes Regime sind. Sie wissen nicht, wie sie dieses Regime loswerden können. Sie haben kein Wahlrecht. Deshalb glauben sie, dass "die da oben" an der Macht sind, weil irgendjemand anderer sie stützt, und dass dieser Jemand sehr korrupt und sehr dekadent ist. Also sehen sie die Amerikaner und die westliche Welt im Allgemeinen als die Schutzherren ihrer eigenen, sehr korrupten, sehr unmoralischen, sehr verweichlichten und sehr dekadenten Herrschenden und rächen sich an ihnen. Also lassen Sie uns nicht sentimental werden und sagen: Globalisierung, Ausgegrenzte, Menschen, die im Hinblick auf Chancengleichheit und Entwicklung benachteiligt sind - ich glaube, wir versuchen hier, Gründe zu finden, wo es keine gibt.
Dr. Theo Sommer: Ich glaube, Sie haben da gerade etwas wichtiges gesagt. Die Antwort auf den Terrorismus ist Demokratie, ist das demokratische System, der demokratische Prozess. Wir brauchen also nicht weniger Demokratie. Wir müssen uns davor hüten, die Demokratie, die Freiheiten einzuschränken, sondern wir brauchen mehr Demokratie. Ich würde gerne Frau Lal Kidwai fragen, ob denn die Demokratie vielleicht nur die eine Hälfte der Antwort ist. Ist die andere Hälfte der Antwort wirtschaftliche Entwicklung?
Lal Kidwai: Ich glaube, ich muss diese Gelegenheit nutzen, um klar hervorzuheben, wo ich die Vorteile der Globalisierung sehe und wie sie einem Land wie meinem wirtschaftlichen Nutzen bringen kann. Ich arbeite an den Kapitalmärkten, und Indien braucht ganz klar Kapital. Ohne Globalisierung haben wir keinen Zugang zu diesem Kapital. Also ist die Globalisierung für uns sehr wichtig. Sie ist eindeutig keine Entwicklung, die einen Zusammenprall der Kulturen auslöst. Ich glaube, Indien hat seinen Nationalismus. Ich habe nur in multinationalen Unternehmen gearbeitet. Ich gehe noch immer im Sari arbeiten, und ich kann Ihnen versichern, dass es damit nie ein Problem gab. Letzten Endes nehmen wir also vom Rest der Welt an, was uns am meisten nützt. Sie haben heute zwei wichtige Entwicklungen in Indien, die ich unheimlich spannend finde für die Zukunft. Die eine ist das globale "outsourcing". Heute gibt es in Indien zunehmend einen Prozess des Outsourcens von Geschäftstätigkeiten, das heißt, eine Reihe von Unternehmen lassen allmählich durch indische Dienstleister von Indien aus einen immer größeren Teil ihrer logistischen Unterstützung durchführen. Hier gibt es ein Potenzial für die Schaffung von vielen tausend Arbeitsplätzen. Dadurch ließe sich die Arbeitslosigkeit in den Städten, die die Demokratie in Indien gefährden könnte, drastisch reduzieren. Dieses Outsourcing ist also in hohem Maß ein Ergebnis der Globalisierung, und zwar ein sehr wichtiges.
Der zweite Weg - und ich arbeite ein wenig mit einer nichtstaatlichen Organisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die digitale Kluft zu verkleinern - ist der durch die Technologie. Sehr einfache Lösungen werden inzwischen in der Landwirtschaft angeboten, wo die Bauern jetzt Zugang zu Technologien haben, die es ihnen ermöglichen, die Mittelsmänner zwar nicht völlig auszuschalten, aber zumindest mehr für ihre Ernteerzeugnisse zu erlösen und Wetterinformationen zu bekommen. Auf einer anderen Ebene ermöglicht es die Technologie Frauen, auch wenn sie Analphabetinnen sind, Bankkonten mit so genannten "smart cards" zu nutzen. Sie können durch das Durchziehen dieser Karte Banktransaktionen durchführen und erhalten so gleichzeitig eine vollständige und korrekte Dokumentation dieser Transaktionen. Sehr einfache Lösungen, technologische Lösungen, die es Menschen im ländlichen und oft armen Indien ermöglichen, von wichtigen Informationen zu profitieren. Von der Globalisierung, wenn wir sie als wichtiges Instrument in diesem Land nutzen, kommt eine wirtschaftliche Antwort, eine Antwort, die sich nicht nur auf das urbane Indien der gehobenen Schichten beschränken wird, sondern die gesamte indische Gesellschaft durchdringen kann. Aus meiner Sicht ist die Globalisierung also etwas sehr, sehr Positives.
Dr. Theo Sommer: Ich darf mich jetzt an Professor Frühwald wenden. Herr Professor Frühwald, Sie stehen einer Organisation vor, die sich das Brückenbauen im akademischen Bereich zur Aufgabe gesetzt hat. Hilft der Dialog der Kulturen den Kampf der Kulturen verhindern? Was ist Ihre Erfahrung?
Professor Frühwald: Seit 50 Jahren versucht die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, wie der DAAD und andere Mittlerorganisationen auch, den Dialog der Kulturen zu organisieren. Wir organisieren ihn in der Wissenschaft und mit Mitteln der Wissenschaft. Wir führen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen, damit sie an gemeinsam zu bearbeitenden Problemen lernen, wie sie miteinander leben können, wie sie sich verstehen und verständigen können, wie sie gemeinsam - um es pathetisch zu sagen - zum Wohl der Menschheit arbeiten und forschen können. Dies ist die Ideologie der Mittlerorganisationen, mit der sie große Erfolge hatten und haben, mit der sie im von ihnen angestrebten Dialog der Kulturen dem sogenannten clash of civilisations widerstehen. Wir machen uns freilich keine Illusionen, denn das Ziel einer friedlich für die Menschen zusammenwirkenden Welt ist noch in weiter Ferne. Ich gebe zwei Beispiele für Misslingen und Gelingen: Einer der Attentäter des 11. September 2001, Mohammed Atta, hat in Deutschland studiert, wurde von einer deutschen Stiftung gefördert und hat sich trotzdem statt für den Dialog für den Terrorismus entschieden, ohne dass es diejenigen, die ihn in Deutschland betreut haben, bemerken konnten. Andererseits existieren in Israel sogenannte trilaterale Forschergruppen, die seit vielen Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert werden. Sie bestehen aus deutschen, israelischen und palästinensischen Forscherinnen und Forschern und kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung gegen den Hass. Diese Forschergruppen ( die alle politischen Umbrüche bisher überstanden haben ) bilden gleichsam Inseln des Friedens in einem Meer von Krieg und Rache. Die israelischen Kollegen in diesen Gruppen sagen: "Wenn alle Palästinenser wären, wie unsere Palästinenser, ja dann...". Die Palästinenser sagen: "Wenn alle Israelis wären, wie unsere Israelis, ja dann...". Das alles bedeutet: Es gelingt zwar, punktuell durch wissenschaftliche und kulturelle Kooperation die Fronten des Hasses aufzubrechen. Um diese Fronten aber auf breiter Linie aufzubrechen, darf die Demokratie nicht zurückgenommen werden, sondern muss an der Wurzel der Gesellschaft verankert werden. Wir müssen - gerade durch wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit - die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft säen und das zarte Pflänzchen der Hoffnung am Leben erhalten. Die Botschaft eines clash of civilisations ist die Botschaft des Hasses. Ihr das Gespräch und die gemeinsame Arbeit an den Problemen der Menschheit gegenüberzustellen, ist der Weg der Hoffnung. Die Probleme der Übervölkerung, des Wassermangels, der Versteppung, der fehlenden Energie, das Müllproblem, um nur einige Zentralprobleme zu nennen, wird die Menschheit nur in gemeinsamer harter Arbeit lösen können. Wir versuchen, dieses Bewusstsein zu verbreiten, es zum Leitziel unserer Arbeit zu machen.
Dr. Theo Sommer: Frau Mansingh, ich habe Sie letztes Jahr tanzen gesehen. Wir alle, die wir Sie sahen, standen im Banne Ihrer Kunst. Meine Frage an Sie ist: Wie kann die Kunst, wie können die Künstler dazu beitragen, dass Gräben zugeschüttet werden und nicht aufgerissen?
Sonal Mansingh: Vielen Dank, Dr. Sommer, für Ihre Frage. Es ist mir ein Vergnügen, in einen solchen Dialog einbezogen zu werden, denn in der Vergangenheit blieben Kunst und Kultur in der Regel außen vor. Statt dessen haben Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Vorrang vor diesem sehr wichtigen Aspekt des Lebens in der Gesellschaft erhalten. Deshalb bin ich sehr glücklich. Für mich ist es sehr wichtig, die Grundmuster zu erkennen, weil die Kunst mir die Geschichte, geschichtliche Prozesse in ihrem ganzen Reichtum erschließt, auf eine Art, die verständlich ist. Jemand hat die Regeln der Natur erwähnt, das Naturgesetz, wie Dinge geschehen und sich wiederholen und wie Gesellschaften reagieren, manchmal vorhersehbar auf eingefahrenen Gleisen und manchmal ganz anders. In Indien beispielsweise sind Tradition und Modernisierung keine Gegensätze, weil wir glauben, dass die Tradition mit Paramapara, einem Wort, das kontinuierliche Vorwärtsbewegung bedeutet, ein ständiger Prozess der Mobilität ist, der nahtlos in die Moderne überleitet. Das, was "war" wird dann zum "Jetzt". Und schließlich wird das "Jetzt" zur Zukunft. Künstler haben hierfür ein so feines Gespür, weil sie durch ihre Kunst, ob sie nun malen, tanzen, singen oder ein Instrument spielen, mit diesem kontinuierlichen Prozess spielen, der die Zeit widerspiegelt. Die Landfrauen, die in ihren Handarbeiten den Baum des Lebens darstellen, die Künstler auf dem Land und in der Stadt, die modernen Künstler, sie alle haben irgendwo die gleiche Vorstellung von den Werten, die man nicht auf dem Weltmarkt kaufen kann, Werte, die in den globalisierten Foren nicht diskutiert werden. Werte wie Schönheit, eine gewisse Nachdenklichkeit, der Moment, in dem man einen Schritt zurücktritt und den anderen mit neuen Augen sieht, woraus der Dialog der Kulturen entsteht, wie wir es nennen. Dies bedeutet die Fähigkeit zu verstehen, zu bewundern und zu begreifen, was nicht das Eigene ist. Auch wenn ich in einer bestimmten Tradition aufgewachsen bin, hindert mich das nicht an dem Versuch, zu verstehen, was mein Gegenüber über seine Bräuche und Traditionen, seine Sprache, Denkweise und Vorstellungen, seinen Glauben usw. sagt. Diese Art des Verständnisses führt dann zu einer Art von innerer Verbundenheit.
Wir reden über äußere Bindungen durch die Wirtschaft, durch wissenschaftliche und technische Entwicklungen. Aber die Künstler schaffen die inneren Bande, die den eigentlichen Kitt darstellen. Hier in Indien nennen wir das "Annam", ein Sanskrit-Wort, das Seelennahrung bedeutet. Ohne diese Seelennahrung können wir nicht lange überleben. Denn die äußere Nahrung ist im Nu verbraucht. Wir sind ständig auf der Suche nach neuen Wegen, uns materiell zu bereichern, aber das, was unsere Seele nährt, was uns nicht fortgenommen werden kann, was niemals zur Neige geht und unseren Geist und unser Herz erhebt, was uns mit großer Liebe, mit großem Respekt zur Natur, zu den Tieren, den Vögeln und Menschen hinzieht, das ist es, wonach der Künstler strebt.
Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich nur einen Vorschlag. Für diejenigen Kräfte, die für die Weltforen verantwortlich sind, spielen Künstler leider nur eine Nebenrolle. Es gab einmal eine Zeit, da Kunst und die Künstler im Mittelpunkt von Kulturen standen. In diesen Foren, seien es die Vereinten Nationen oder die UNESCO, ECOSOC, oder in Davos zum Beispiel, geht es immer nur um Politik und Wirtschaft. Denn Kunst und Kultur gelten als entbehrliche Luxusartikel. In Wahrheit ist die Kunst die eigentliche Existenzberechtigung menschlicher Gesellschaften. Und jedes Stück Globalisierung sollte getragen sein von diesem Verständnis, von diesem Wunsch, einander durch Kunst, durch Kultur, durch Liebe und durch gemeinsame und geteilte Werte zu verstehen. Vielen Dank.
Dr. Theo Sommer: Herzlichen Dank, Frau Mansingh, für Ihre sehr bewegende Stellungnahme. Frau Mansingh hat zum ersten Mal in dieser Debatte von Werten gesprochen, von Wertmaßstäben auch. Da möchte ich mich an Professor Kakar wenden. Schließen Globalisierung und Bewahrung der eigenen kulturellen Identität einander aus? Frau Mansingh hat auch über Tradition und Moderne gesprochen, wie das eine hinüberwächst ins andere. Sind Traditionen und Moderne unüberbrückbare Gegensätze? Und gibt es einen Kernbereich universeller Werte oder hat jede Kultur den Anspruch auf ihr eigenes Wertsystem?
Prof. Sudhir Kakar: Vielen Dank, Herr Sommer. Bevor ich beginne, möchte ich den Herrn Bundespräsidenten begrüßen und sagen, dass ich es als sehr ironisch empfinde, dass bereits vor genau zwölf Jahren, nach dem Ende des ersten Golfkriegs - und heute stehen wir möglicherweise vor dem Beginn eines zweiten solchen Krieges - Ihr Vorgänger, Herr von Weizsäcker, ebenfalls in Delhi war und wir ein Gespräch über ein sehr ähnliches Thema hatten, nämlich: Wird die Welt unipolar? Dies war kurz nach dem amerikanischen Sieg. Ich denke, heute geht es um etwas sehr Ähnliches. Gibt es eine westliche Hegemonie, die auf Widerstand stößt? Es gibt eine Menge Leute, die gegen die Globalisierung sind und sagen: Die Globalisierung ist keine Universalisierung, und es geht ihr auch nicht um das Wohl aller Menschen. So sind beispielsweise die Kapital- und Gütermärkte frei, aber es gibt keine weltweite Freizügigkeit. Wer profitiert von dieser Situation? Was ist mit den Zukunftsprognosen? Und vielleicht stehen wir ja jetzt auch am Beginn der zweiten Phase der Globalisierung, in der wir wirklich eine Globalisierung der Ethik, der Glaubens- und Wertvorstellungen brauchen."Kampf der Kulturen" ist deshalb ein schlimmes Wort, weil es an Krieg erinnert und weil es so klingt, als ob die Kulturen einander entgegengesetzt seien, wo es doch innerhalb jeder Gesellschaft große kulturelle Gräben gibt. Sei es in Deutschland mit seiner großen muslimischen Bevölkerung oder in allen anderen Ländern. Und um diese kulturellen Gräben geht es ja jetzt eigentlich in der nächsten Phase der Globalisierung. Wie gehen wir damit um? Das ist, glaube ich, eine sehr heikle Phase, denn es fragt sich, wer diese miteinander konkurrierenden Glaubens- und Wertvorstellungen bewertet. Diese Glaubens- und Wertvorstellungen sind sehr wichtig, weil sie nicht von unpersönlichen Wirtschaftsinstitutionen ausgehen, die wir alle tolerieren können. Sie berühren die Familie und das Leben in der Gesellschaft unmittelbar, und Toleranz wird dadurch sehr, sehr schwierig. Das Problem ist: Wer nimmt hier Wertungen vor? Ist es das Gegenteil von befreiend, ein Kopftuch zu tragen, aber sehr wohl befreiend, einen Minirock anzuziehen? Ist weibliche Genitalverstümmelung in Mali und anderen Teilen Afrikas ein Unrecht, aber männliche Verstümmelung oder Mann-Frau-Chirurgie, wie Juden und Muslime diese nennen, in Ordnung? Wer nimmt hier eine Wertung vor, wer entscheidet in all diesen Fragen? Ich glaube, wir stehen hier vor einem sehr großen Problem, das nicht gelöst ist, aber eine Menge Leute haben das Gefühl, dass sie von allgegenwärtigen westlichen Werten unter Druck gesetzt werden, in deren Mittelpunkt das Individuum und nicht die Gruppe steht. Und es gibt noch viele andere Dinge. Ich glaube, dies wird noch zu größeren Zusammenstößen führen, bevor eine Lösung vermittelt werden kann. Und eine große Aufgabe dieser Vermittlungsbemühungen besteht darin, gegenseitiges Verständnis zu erreichen, aber nicht Toleranz. Toleranz ist ein sehr negativer Begriff. Toleranz ist ein hierarchischer Begriff. Jemand bittet um Toleranz, und ein anderer gewährt sie. Respekt ist der richtige Ausdruck, nicht Toleranz. Und ich glaube, es gibt noch eine ganze Menge anderer ähnlicher Worte. Wir sollten aufhören von Toleranz, von Zusammenprall zu reden. Es ist viel besser von Respekt, Gräben usw. zu reden. Ich denke, dies ist ein Problem der Sprache, und auch hier müssen wir lernen, zu vermitteln.
Dr. Theo Sommer: Darf ich hier noch einmal nachhaken, Herr Professor Kakar? Wer soll vermitteln?
Prof. Sudhir Kakar: Ich denke, wir werden keine Weltethikorganisation bekommen, wie es eine Welthandelsorganisation gibt. Letzteres ist einfach. Aber eine Weltethikorganisation kann es nicht geben. Ich glaube, jede Gesellschaft muss bei sich selbst anfangen. Jede Gesellschaft muss mehr an sich selbst arbeiten. Ich glaube, es gibt keine allgemein gültige Antwort. Andererseits haben wir natürlich das Problem, dass es eine universale Dimension in jeder Gesellschaft gibt, dass es Minderheiten gibt. Es heißt, dass Frauen in der Gesellschaft unterdrückt werden. Diese hätten gerne allgemein gültige Menschenrechte. Diese Debatte, wer das machen soll, ist zurzeit die große Frage. Ich meine, ich wünschte, ich hätte eine Antwort darauf, wer es machen soll. Ich kann nur sagen, dass jeder seinen Beitrag leisten muss. Ich glaube nicht, dass irgendjemand die Initiative ergreifen kann, weil das nach Hegemonie und Bestimmenwollen aussieht. Und das ist das große Problem.
Dr. Theo Sommer: Herr Edathy, Sie sind Bundestagsabgeordneter der SPD und zugleich der Vorsitzende einer 1971 gegründeten deutsch-indischen Parlamentariergruppe / Freundschaftsgruppe. Wir alle, beide Länder, haben mit den Problemen des Terrors zu tun. Beide Länder versuchen im Wege der Gesetzgebung dagegen Schranken zu errichten. Die Inder haben ihre POTA, wir haben einige Antiterrorgesetze. Wo muss man die Linie ziehen zwischen Abwehr und unzulässigen, in einer Demokratie unzulässigen Eingriffen in die demokratischen Grundfreiheiten?
Herr Edathy: Ja Herr Dr. Sommer, meine Damen und Herren, ich habe sehr begrüßt, dass der Präsident des Deutschen Bundestages kurz nach dem 11. September des Jahres 2001 einen Satz formuliert hat, der die Aufgabe, die bei einer demokratischen Gesellschaft liegt, im Bereich der Terrorismusbekämpfung gut auf den Punkt gebracht hat. Wolfgang Thierse, unser Parlamentspräsident, hat gesagt: "Man muss alles tun, was die Freiheit schützt - aber man darf nichts tun, was die Freiheit opfert." Und genau diese Gratwanderung muss bei der Gesetzgebung gelten, und das heißt eben auch, dass die zentralen Bürgerrechte unangetastet bleiben müssen. Wir haben uns jedenfalls im Deutschen Bundestag sehr große Mühe gegeben, das zu beachten. Ich halte zudem einen Gesichtspunkt, der über die Frage, z. B. der Erhöhung von Kontrollmöglichkeiten, über die Ausweitung der Recherchemöglichkeiten von Nachrichtendiensten weit hinausgeht, für den fast noch wichtigeren Punkt. Und der hat etwas damit zu tun, sich nicht zu beschränken auf die Bekämpfung des Phänomens "Terrorismus", sondern tiefer zu gehen und sich mit der Bekämpfung der Entstehung von Terrorismus zu beschäftigen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass dies für Indien, aber eben auch für Deutschland eine zentrale Herausforderung darstellt. Ohne soziale Integration der gesamten Bevölkerung eines Landes wird es immer ein Potential geben von Menschen, die orientierungslos sind, die perspektivlos sind, die nicht hinreichend integriert sind, die dann anfällig werden können, zumindest anfälliger als besser integrierte Bevölkerungsgruppen für Extremisten. Und insofern führen wir gegenwärtig in Deutschland eine Debatte darüber, sich nicht nur zu beschäftigen mit der Zahl beispielsweise von Zuwanderern aus anderen Ländern auch aus anders kulturell geprägten Ländern, sondern wir führen insbesondere, und das halte ich für wichtig und auch für eine wesentliche Veränderung zu Debatten der Vergangenheit, eine Debatte über die Integration dieser Menschen, beispielsweise über Sprachkurse, dadurch, dass wir den Unterricht in islamischer Religion nicht in das Belieben zum Beispiel freier Träger stellen, sondern sagen, so wie kirchlicher Religionsunterricht an den Schulen in Deutschland, an den öffentlichen Schulen unterrichtet und gegeben wird, so muss das in der Regel auch der Fall sein für Kinder muslimischen Glaubens. Das alles sind Dinge, die - ich denke - einen guten Beitrag dafür leisten können, sicherzustellen, dass wir Extremisten den Nährboden entziehen. Das gilt übrigens nicht nur für den Bereich des Islamismus, das gilt auch u. a. für den Bereich des Rechtsextremismus. Auch dort können wir feststellen, dass die Anfälligkeit für entsprechende extremistische Parolen um so größer ist, je geringer die Bindung an die Gesellschaft ist, in der man lebt. Und ich glaube, das ist das Beste was wir tun können. Global ist sicherzustellen, dass Kinder, dass Jugendliche, dass Heranwachsende eine Begleitung finden, um sich entwickeln zu können zu starken demokratischen Persönlichkeiten, die nicht die Verletzung der Würde anderer nötig haben, um sich der eigenen Würde zu vergewissern. Ich denke, das ist eine ganz, ganz zentrale und auch in ihrer Bewältigung nur langfristig zu bewältigende Herausforderung und Aufgabe.
Dr. Theo Sommer: Herr Kollege Sardesai: In alledem haben die Medien eine ganz besonders wichtige Rolle zu spielen, vor allen Dingen das Fernsehen mit seinem direkten emotionalen Appell. Die Medien können aufputschen oder sie können besänftigen. Oder um es englisch zu sagen: "They can tame emotions or inflame emotions." Wie handhaben Sie das in diesem Lande, und was sind Ihre Rezepte?
Rajdeep Sardesai: Also, zuerst einmal möchte ich sagen, dass wir in den letzten Jahren erleben, dass Regierungen ihr Versagen immer auf die Medien schieben. Ob politische Gipfeltreffen fehlschlagen, ob es einen Terrorangriff gibt, in der Regel sind es die Medien, die auf irgendeine Weise für das verantwortlich gemacht werden, was schief geht. Ich denke, das ist ein Problem. Das zweite, ernstere Problem besteht darin, dass sich bei den Regierungen zunehmend eine Einstellung herausbildet, die sagt, dass die Medien die Steigbügelhalter der politischen Autorität sein sollten. Dass die Medien auf Kritik an der Regierungspolitik verzichten und die Dinge nicht hinterfragen sollten und auch keine Form der Kritik und keine abweichende Meinung gegenüber der staatlichen Politik äußern sollten. Ich glaube, dass das etwas mit der Mentalität zu tun hat, die sich insbesondere nach dem 11. September entwickelt hat und Regierungen überall auf der Welt zunehmend erfasst. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber wenn man sich anschaut, wie die amerikanischen oder die britischen Medien jetzt über die Irak-Krise berichten oder wie im letzten Jahr die Gewalt in Gujarat in diesem Land kommentiert wurde, dann wurde von den Medien im Wesentlichen erwartet, die Regierung nicht zu sehr zu kritisieren. Wenn sie es dennoch taten, wurden sie als antinational bezeichnet. Ich glaube, es ist dieses Problem einer neuen Form des fremdenfeindlichen Nationalismus, das sich immer mehr rund um den Globus zeigt und in dessen Rahmen der ganze Begriff Patriotismus und was er bedeutet, neu definiert wird. Journalisten befinden sich hier in einem besonderen Dilemma, weil man einerseits von uns erwartet, die Stimmung im Lande wiederzugeben. Die Stimmung im Land wird aber zunehmend von einer Form des Patriotismus bestimmt, der immer öfter an Hurra-Patriotismus und Kriegstreiberei grenzt. Und deshalb wird es immer schwieriger, wirklich Distanz zu wahren und zur ursprünglichen Rolle der Medien zurückzufinden, die darin bestehen sollte, Widerspruchsgeist zu zeigen und Fragen zu stellen. Ich glaube, das ist das Hauptproblem, dem sich die Medien heute gegenübersehen. Es geht nicht so sehr darum, dass die Medien Leidenschaften schüren, vielmehr lassen sich die Medien von Leidenschaften beherrschen. Worum es aber wirklich geht, denke ich, ist die Frage, wie können es die Medien heute schaffen, staatliches Handeln und staatliche Politik kritisch unter die Lupe zu nehmen, ohne den Eindruck zu erwecken, sie teilten die Stimmung im Lande nicht. Ich glaube, die Medien in diesem Land haben dafür bisher keine Lösung gefunden. Und auch die Art und Weise, wie die amerikanischen Medien auf die Irak-Krise reagiert haben, zeigt, dass es auch ihnen bisher nicht gelungen ist, zu ihrer traditionellen Rolle zurückzufinden. Das ist also aus meiner Sicht das Hauptproblem, dem sich die Medien heute gegenübersehen. Nämlich: Wie gewinnt man Distanz und tritt der Regierung konfrontativ und kämpferisch gegenüber, ohne sich den Vorwurf zuzuziehen, in irgendeiner Weise antinational eingestellt zu sein. Ich denke, das liegt daran, dass Terroristen heute so leicht als der äußere Angreifer definiert werden, dass es einfach ist für Regierungen, als das Heilmittel oder die Lösung für den Terrorismus diese Form von übersteigertem, fremdenfeindlichem Hypernationalismus anzubieten.
Dr. Theo Sommer: Danke. Ja, bitte, Professor Gangrade!
Prof. Gangrade: Entschuldigen Sie die nochmalige Wortmeldung. Aber nach dem 11. September habe ich viele Bücher über Geschichte gelesen. Nicht nur über indische Geschichte, sondern auch über die Geschichte anderer Länder. Der Nationalismus ist das größte Übel in der Welt. Wie Gandhi zu sagen pflegte: "Die ganze Welt ist eine einzige Familie". Wenn das stimmt, dann sollte dieser weltweit ausgetragene Konflikt nicht stattfinden. Das Grundproblem besteht darin, Methoden zu entwickeln, Techniken zu entwickeln, wie man die Menschen zusammenbringt. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie wir die Menschen zusammenbringen können. Ich habe bereits gesagt, dass Zueinanderfinden der erste Schritt ist, dass Zusammenstehen Fortschritt bedeutet, dass Zusammenarbeiten Erfolg bedeutet. Wir kommen wir zusammen? Die heutige Tagung ist ein Weg. Dies ist der schnelle Weg, wie wir alle zusammenkommen können.
Einige meiner Freunde haben über Wissenschaft und Technologie gesprochen, dass Wissenschaft und Technologie zwar eine gewisse Nähe, aber keine Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit herstellen. Die geographischen Entfernungen sind geschrumpft. Gewachsen ist dagegen die Entfernung zwischen Mensch und Mensch. Lassen Sie mich ein Interview zitieren, das Mahatma Gandhi am frühen Nachmittag des 30. Januar 1948 Margaret Bourke White gab. Sie führte es mit ihm für das Magazin LIFE. Dabei stellte sie folgende Frage: Würde er, Gandhi, im Fall eines nuklearen Angriffs auf eine Stadt seine These von der Gewaltlosigkeit aufrecht erhalten? Mahatmas Antwort lautete, dass das Opfer der schutzlosen Einwohner, wenn sie im Geiste der Gewaltlosigkeit stürben, nicht umsonst gewesen sein würde. Sie könnten alle für die Seele des Piloten beten, der in gedankenloser Weise Tod über die Stadt gebracht hätte. Dies war seine letzte Botschaft des Mitleids an die Menschheit. Er sagte, dass Gewaltlosigkeit die größte Macht sei, die der Menschheit zur Verfügung stehe, und dass sie mächtiger sei als die stärkste Zerstörungswaffe, die menschlicher Erfindungsgeist ersinnen könne. Weiter sagte er, dass er nichts von Leuten halte, die glauben, Gewalt führe schneller zum Ziel. Wie sehr er auch ehrenwerte Motive verstehe und bewundere, so sei er doch ein kompromissloser Gegner gewaltsamer Methoden, selbst wenn sie den hehrsten Zielen dienten. Es könne daher zwischen der Schule der Gewalt und ihm selbst keine Gemeinsamkeiten geben. Der Mann, dessen Herz beim Anblick des Elends anderer blutete, verblutete selbst am 30. Januar 1948, als sich drei todbringende Kugeln tief in seinen Körper bohrten. Mahatma Gandhi ist den Weg aller Heiligen gegangen. Indien verlor seine Seele, aber sein Geist lebt weiter, und dieser Geist wird auch weiterhin unter uns wohnen, solange es Indien gibt. Vielen Dank.
Dr. Theo Sommer: Also, ich möchte nur hinzufügen: Wir in Deutschland waren nicht einer direkten Bedrohung durch den Terror ausgesetzt. Bei uns gibt es diese patriotische Welle nicht, von der der Kollege Sardesai gesprochen hat. Und die Presse ist auch zu autonom, zu selbstbewusst, zu kraftvoll, um sich einschüchtern zu lassen, wenn die Regierung dies versuchen wollte, was sie aber nicht tut. Also, da sind wir in einer besseren Situation. Ich habe eine ganz andere Frage. Wir waren lange bis zum 1. Weltkrieg ein Auswandererland in Deutschland. Wir sind ein Einwanderungsland geworden. Zehn Prozent unserer Bevölkerung sind nicht in Deutschland geboren, und es leben bei uns heute drei Millionen Moslems. Ich glaube in der Europäischen Union, wenn ich mich richtig entsinne, fünfzehn Millionen Moslems, das ist ein ganz neues Problem für uns. Wir hatten eigentlich immer nach Indien geblickt, um zu sehen, wie Sie hier die Koexistenz der beiden großen religiösen Gemeinschaften organisieren. Und jetzt lesen wir manchmal mit Kümmernis, dass sich auch hier extreme Kräfte rühren. Wie müssen wir den Begriff der Hindutva verstehen? Das Indertum, ist das eine Abkehr von den Ideen der Gründerväter in diesem Lande? Wer möchte denn darauf antworten?
Shekar Gupta: Nun, wir haben heute einen Bericht in unserer Zeitung auf der Titelseite über das Match zwischen Indien und Pakistan, das bei den Kricket-Weltmeisterschaften in Südafrika gespielt wurde. Und der Bericht stammt aus einer E-Mail, die ich gestern von einem pensionierten indischen Armeegeneral bekommen habe, in der er sich fragte, ob jetzt nach der indischen Regierung auch die Medien safrangelb geworden seien. Wie könne es denn sein, dass niemandem in der indischen Presse aufgefallen sei, dass viele der Zuschauer beim Spiel safrangelbe Hindu-Flaggen schwenkten und religiöse Hindu-Slogans riefen? Ob man sich denn vorstellen könne, wie das auf die Muslime im Team wirke, die dort auf dem Kricketfeld für Indien gegen Pakistan kämpften? Wir gaben dies also an unseren Korrespondenten weiter und hatten unsere Story. Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert ist. Früher haben wir die Pakistaner ausgelacht, wenn sie bei einem Kricketmatch zu Gott gebetet haben, als ob Gott so unfair wäre, nur die eine Seite zu begünstigen, obwohl er manchmal weiß Gott gute Lust dazu gehabt haben mag. Irgendwie begünstigt Gott doch die andere Seite. Heute ist der Gruppendiskurs gesellschaftsfähig geworden. Dinge, die früher nie gesagt worden wären, werden heute in Indien offen ausgesprochen. Der Premierminister des Bundesstaates Gujarat, der gerade eine Wahl gewonnen hat, sagte im Wahlkampf, unser nationaler Slogan, der Familienplanungs-Slogan laute, lasst uns zwei Kinder haben. Aber man solle sich einmal diese Gemeinschaft anschauen! Ihr Slogan scheine zu sein: Wir sind fünf. Das bedeute, ein Muslim könne vier Frauen und folglich 25 Kinder haben. Und so etwas wird in einem Wahlkampf gesagt! Früher waren solche Aussagen im politischen Diskurs Indiens unmöglich. Das hat sich geändert. Für mich ist das sprachliche Aggression. Wir haben in einer weiteren Provinz in Nordindien, wo die PDP sehr stark ist, gesehen, dass dieses Experiment einfach nicht funktioniert. Und ich glaube auch, dass diese Art von Wahlkampf dort kontraproduktiv war. Wir sollten es mit dem indischen Beispiel nicht zu weit treiben. Wir erleben seit tausend Jahren oder noch länger diese Homogenisierung, die die Herausbildung einer religionsübergreifenden indischen Identität ermöglicht hat. Und das wollten wir ja. In Europa beispielsweise gehen Sie da zu wissenschaftlich und mit zu vielen Einschränkungen heran. Sie sagen den Leuten: Sie können kommen, Sie können Bürger zweiter Klasse oder auch dritter Klasse werden, Sie können einen Job haben, aber nicht wählen, Sie können einen Job und das Wahlrecht haben, aber Ihr Onkel kann nicht in mein Land kommen. Ich glaube, in Europa versuchen Sie das gleiche zu tun wie die Amerikaner, nur viel heuchlerischer. Und ich sage Ihnen auch, wie. Wissen Sie, es gibt da all diese Vorstellungen, dass wir mehr Islamunterricht haben sollten, dass wir eine multireligiöse Bildung, multireligiöse Kindertagesstätten und multireligiöse Politik haben sollten. Das ist alles Quatsch. Einige der reichsten Länder der Welt sind nun einmal islamisch. Was Ihnen immer wieder entgeht, ist die Tatsache, dass diese islamische Wut keine Wut auf die Globalisierung der Wirtschaft und des Marktes ist. Was am World Trade Center und anderswo zum Vorschein kam, war die Globalisierung der Rache. Wenn man also heute wütend ist auf seine Regierung, aber nichts tun kann, wenn man nicht demonstrieren kann, noch nicht einmal einen wütenden Leitartikel in Saudi-Arabien veröffentlichen kann, was soll man dann machen? Dann nehme ich Rache an denjenigen, von denen ich glaube, dass sie meine Regierung unterstützen, denn im Land des anderen kann ich etwas tun. Nun kann selbst ein Palästinenser einen Stein auf einen israelischen Panzer werfen. Aber kann ein wütender Iraker, der seit 15 Jahren unter der Herrschaft Saddams leidet, einen Stein auf einen Panzer Saddams werfen? Stellen Sie sich einmal vor: Angesichts der Unterstützung des Saddam-Regimes durch die USA während der letzten 15 Jahre wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn ein paar wütende Iraker ein Flugzeug entführt und es irgendwo in den USA oder in einem Ihrer Länder zum Absturz gebracht hätten. Diese Leute sind einfach wütend auf ihre eigene Regierung und sie nehmen Rache an euch, weil sie es dort können. Nun gilt das Gleiche beispielsweise in Pakistan. Heute ist Pakistan ein wunderbares Land und Herr Musharraf ein sehr netter Mensch. Er ist ein Mann, der dies und das und jenes zu tun versucht. Er hat die lächerlichste Demokratie der Welt geschaffen. Bei den Wahlen hat er 99 % bekommen, und er hat etwas kreiert, was ich nur "Bonsai-Demokratie" nennen kann. Wissen Sie, er sorgt dafür, dass sie nicht zu tiefe Wurzeln schlägt und ihre Zweige nicht zu ausladend wachsen. Er hält sich die Demokratie wie eine Topfpflanze und stellt sie aus, damit die Amerikaner und all diejenigen unter Ihnen, die Amerika und alles andere unterstützen - mit Ausnahme des Kriegs gegen Saddam - , ausrufen: "Großartig" ! Ein Bonsai ist eine hübsche Pflanze. Sie ist wunderschön. Man muss diese Dinge wachsen lassen. Demokratie kann für ihr Wachstum unter Umstände hunderte von Jahren brauchen. Aber wenn das noch fünf, sieben oder zehn Jahre weitergeht, wäre ich nicht überrascht, wenn es genug wütende Pakistaner gäbe, die nicht in Pakistan protestieren können, die nicht einen Leitartikel schreiben und Musharraf einen Dieb nennen können, die keinen Stein auf seine Panzer werfen können. Ich wäre nicht sehr überrascht, wenn einige von ihnen ein Flugzeug kapern und es irgendwo zum Absturz bringen. Und dann werden Sie wieder Konferenzen abhalten wie diese und die Schullehrpläne umschreiben. Das wird aber nichts nützen. Ich glaube, Sie müssen ihre grundsätzliche Politikausrichtung ändern. Sie können nicht Amerika unterstützen und all diese despotischen Regimes und ihre Spielchen und dann nicht gegen den Irak in den Krieg ziehen wollen. Ich finde, was Europa sagt, klingt sehr, sehr hohl. Ich bin der Meinung, dass diese Sicht des Zusammenpralls der Kulturen grundfalsch ist. Der wirkliche Zusammenprall der Kulturen findet zurzeit zwischen Amerika und Frankreich, vielleicht sogar zwischen Amerika und Europa statt.
Dr. Theo Sommer: Frau Staatsministerin, ich fürchte, dies erfordert eine diplomatische Antwort.
Kerstin Müller: Ja, Herr Sommer, Herr Gupta, ich sehe das etwas anders: Wenn wir uns die Tonbandaufzeichnungen von Al Qaida anschauen, die ja alle Welt auch gehört hat, dann glaube ich schon sagen zu können, dass beabsichtigt ist, einen Kampf der Kulturen loszutreten. Und die Frage, die große Frage, die sich doch nach dem 11. September für uns alle gestellt hat, ist: Was ist die richtige Antwort darauf?
Sie haben den Irakkrieg angesprochen, der uns große Sorgen bereitet:
Erstens hinsichtlich der Anti-Terrorkoalition, die ja nach dem 11. September weltweit entstanden ist. Ich gebe Ihnen recht, es gibt natürlich gewisse Widersprüche dabei, aber dennoch war es in gewisser Weise ein großer Fortschritt etwa dahingehend, dass die internationale Gemeinschaft jetzt dabei ist, Afghanistan wieder aufzubauen. Dabei sind viele Länder dieser Welt sehr engagiert: Indien ist engagiert, Deutschland ist engagiert beim zivilen Wiederaufbau zu helfen, aber auch bei der Herstellung von Sicherheit und Stabilität. Das war und ist ein Produkt der Anti-Terrorkoalition, die nach dem 11. September entstanden ist. Wir haben die große Sorge, dass diese durch einen Irakkrieg auseinander bricht, weil eben große Teile der muslimischen Bevölkerung in dieser Welt einen solchen Krieg als einen Angriff des Westens gegen die islamische Welt empfinden könnten.
Zweitens haben wir die große Sorge, dass die gesamte Region im Mittleren und Nahen Osten destabilisiert werden könnte - also, was kommt eigentlich danach? Was ist die Perspektive danach? Wird man in der Lage sein, die Integrität des Irak zu erhalten? Was bedeutet das für den Iran, was bedeutet das für die Türkei, was bedeutet das eben für diese Region? Das sind unsere Sorgen, weil wir eben andere Prioritäten haben. Die vorderste Priorität muss sein, zu versuchen, im Rahmen der Anti-Terrorkoalition Terrorismus zu bekämpfen. Und wir glauben, dass man den Irak eben über das Regime der Inspekteure zu einer friedlichen Abrüstung bringen kann. Insofern glaube ich schon, dass wir - vielleicht sehen die Europäer es etwas zu zugespitzt, aber wir haben schon den Eindruck - dass wir hier international an einem ganz entscheidenden Punkt stehen, der vieles verändern kann und eben leider auch zum Negativen verändern kann.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen, weil ich den Eindruck hatte, dass von Ihnen, Herr Gupta, das, was ich zu Anfang sagte, falsch verstanden wurde. Natürlich ist es nicht so, dass Armut eine Ursache des Terrorismus ist. Aber sie ist ein Nährboden des Terrorismus, den wir bekämpfen müssen. Natürlich ist es nicht so, dass die Drahtzieher von Al Qaida ein Teil der Armen dieser Welt sind, das ist natürlich richtig. Das kann man nicht sagen. Aber es geht auch darum - sie haben die Palästinenser, den israelisch-palästinensischen Konflikt gerade erwähnt - es geht sozusagen darum, den sozialen Zusammenhang zu sehen, also dass Menschen in einer bestimmten sozialen Situation anfällig sein können, nichts anderes mehr zu sehen, als eben zum Mittel des Terrorismus zu greifen, um aus ihrer Not herauszukommen. Das ist das, was wir, glaube ich, schon im israelisch-palästinensischen Konflikt teilweise erleben. Und das ist unsere Aufgabe: International hier - wie Kofi Annan es auch gesagt hat - durch eine Kultur der Prävention, durch eine Gestaltung der Globalisierung, eine Zivilisierung der Globalisierung zu versuchen, dem Terrorismus diesen sozialen Nährboden zu entziehen. Ich glaube, das ist das, was ansteht.
Dr. Theo Sommer: Frau Mansingh hatte sich vorher gemeldet, als das Stichwort Hindutva fiel.
Sonal Mansingh: Es geht mir nicht so sehr um Hindutva, aber ich würde Ihre Aufmerksamkeit gerne auf ein Thema lenken, das gewöhnlich mit Achselzucken abgetan wird. Wenn ich vorhin über Kunst und Kultur gesprochen habe, so geht es jetzt um Frauen. Wenn die Frau in keiner dieser Diskussionen vorkommt, wenn der weibliche Standpunkt als zu unwichtig gilt, um einbezogen zu werden, dann gibt es Missverständnisse zwischen den Kulturen. Ich nenne das nicht einen Zusammenprall, ich möchte es eher ein Missverständnis zwischen den Kulturen nennen. In Indien beispielsweise, insbesondere in der Hindu-Gesellschaft, stehen Frauen seit jeher im Mittelpunkt der religiösen, sozialen und kulturellen Praktiken. Die Göttin Devi, die noch unter unzähligen anderen Namen bekannt ist, ist die weibliche Identität und das weibliche Prinzip, das bei zahllosen Festen und auch durch künstlerische und soziale Traditionen verehrt, gepflegt, wertgeschätzt und gefeiert wird. Aber ich glaube nicht, dass das im Westen und in der semitischen religiösen Tradition und in vielen anderen Kulturen der Fall ist. Die Frau nimmt dort, wenn ich es richtig verstanden habe, keinen wichtigen Platz ein. Ich kann mich aber täuschen und bitte, mich zu korrigieren, wenn dies der Fall ist. Aber wenn es um Globalisierung und das Übel des Terrorismus geht, bin ich anderer Meinung. Jemand hat vorhin Miniröcke erwähnt, ich glaube, es war Sudhir. Meine Frage ist: Ist ein Minirock ein Kennzeichen der Globalisierung und Modernität und ist die Burkha oder der Sari daher ein Zeichen uralter Traditionen, die auf rückwärts gewandte, primitive Praktiken schließen lassen? Nach welchen Maßstäben wird das entschieden? Was ich sagen möchte ist, dass die Frauen Berücksichtigung finden müssen. Ihre Bedürfnisse, Wünsche und Standpunkte müssen verstanden werden. Das weibliche Prinzip muss geachtet werden. Frauen haben eine ganz andere Art zu denken. Ich habe mich köstlich amüsiert über einen Artikel über die beiden Premierministerinnen der beiden wichtigsten indischen Bundesstaaten Uttar Pradesh und Tamil Nadu, Frau Mayawatti und Frau Jayalalitha. In dem Artikel geht es darum, wie diese beiden Frauen ihre politischen Rivalen geschlagen haben. Der Verfasser des Artikels schreibt dies ihrer "intuitiven" politischen Weisheit zu. Ich mag das Wort "intuitiv". Frauen haben eine starke Intuition. Und Intuition richtet sich nicht gegen die Logik, wie dies in vielen Kulturen behauptet wird. Intuition und logisches Denken gehen Hand in Hand. Und ich glaube, dass Frauen die Antwort auf viele der Probleme haben, die wir heute hier erörtern. Ich glaube, es ist Zeit, dass wir zum Ursprung der Schöpfung zurückkehren und den weiblichen Standpunkt zu berücksichtigen beginnen. Wir kämpfen hier immer noch um einen Frauenanteil von 33 % in allen politischen Gremien. Soviel ich weiß, hatte Deutschland noch nie eine Bundespräsidentin oder eine Bundeskanzlerin. Meines Wissens hatten auch die USA noch nie einen weiblichen Präsidenten oder Vizepräsidenten. Ich denke, es ist Zeit, Frauen nicht etwa nur Chancen zu eröffnen, sondern dass Frauen die ihnen zukommende Rolle in den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozessen beanspruchen und eine Politik mitgestalten, die die Werte unserer globalisierten Welt bestimmt.
Dr. Theo Sommer: Ich glaube das war gut, dass wir das gehört haben. Obwohl mir scheint, dass Sie die Situation, die Entwicklung bei uns doch etwas negativer darstellen, als sie ist. Wir haben, wenn ich richtig informiert bin, 35 oder 36 Prozent weibliche Abgeordnete. Wir haben Staatsministerinnen.
Kerstin Müller: Wenn ich einwerfen darf, das hat natürlich schon auch etwas damit zu tun, dass insbesondere die grüne Fraktion mehr als die Hälfte weibliche Abgeordnete hat. Also, von 55 sind 32 Abgeordnete weiblich. Das bringt den Bundestag natürlich enorm nach vorne, was die Frauenquote betrifft.
Dr. Theo Sommer: Und wir hatten ja auch 1500 Jahre lang den Marienkult. Und die Oppositionsführerin, wurde eben eingeworfen, ist eine Dame, eine Frau. Möchten Sie dazu etwas sagen?
Naina Lal Kidway: Ich betrachte mich ganz bestimmt nicht als weibliche Führungspersönlichkeit, nur weil ich eine Frau bin. Aber ich glaube - dies zur Erläuterung für Sie, die Sie zu Besuch sind - dass Indien zwei Gesichter hat. Da gibt es zunächst einmal das ländliche Indien, wo die Stellung der Frauen noch so ist, dass sie Hilfe brauchen. Sie brauchen eine Stimme, und wir stellen, auch durch die Arbeit der nichtstaatlichen Organisationen vor Ort, fest, dass Frauen in vielerlei Hinsicht eine Schlüsselrolle spielen. Daher gibt man das Geld den Frauen. Einige der Banken für Frauen werden sogar von Frauen betrieben. Webereien in Hindustan übergeben Frauen Säcke mit Verkaufsartikeln - Seife, Shampoo, was auch immer - , damit sie diese von Tür zu Tür verkaufen und Geld verdienen können, das sie dann wiederum auf die Bank bringen. Von daher denke ich, dass Sonal ein Stück weit Recht hat. Und ich glaube, dass Indien wieder im Kommen ist durch die Frauen und dass sich dies besonders wie ich hoffe - im ländlichen Indien bemerkbar macht, wo wir es am meisten brauchen. Aber es gibt auch ein zweites Gesicht Indiens, mit dem ich vertrauter bin. Es ist ein bemerkenswertes Indien, wenn man sich die Frauen der Mittelschicht heute anschaut, berufstätige Frauen, was immer mehr zur Regel wird. Noch vor zwanzig Jahren, als ich mich um eine Arbeitsstelle bewarb, bat man sich Bedenkzeit aus, denn es gebe keine einzige andere Frau in der Organisation. Heute sagt diese gleiche Organisation - Price Waterhouse - , sie könne nicht noch mehr Frauen einstellen, da sie das Gleichgewicht von 50 zu 50 aufrecht erhalten wolle. Was für ein gewaltiger Wandel. Und ich glaube, dass das interessanterweise durch die Globalisierung kommt, deren große Befürworterin ich bin, wie Sie sicher schon gemerkt haben; wir finden unsere Vorbilder im Westen, weil es so etwas hier am Arbeitsplatz früher nicht gab. Westliche Einflüsse haben zu einer größeren Vielfalt am Arbeitsplatz geführt. Glücklicherweise setzt sich in Betrieben wie dem, in dem ich arbeite, zunehmend die Einsicht durch, dass wir Vielfalt am Arbeitsplatz brauchen. Und Vielfalt bedeutet ja nicht nur die Beschäftigung von Frauen, Vielfalt ist etwas Kulturüberschreitendes. Was wir nicht mehr brauchen ist das, was wir in der Vergangenheit hatten, nämlich eine angelsächsische Kultur. Wir brauchen eine Organisation, die verschiedene Denkströmungen repräsentiert, die dem kreativen Denken freien Raum lässt, denn es gibt Menschen mit unterschiedlichen Standpunkten. Männer, Frauen, Muslime, Hindus, Südinder, Nordinder, welche Kategorien man immer herausgreifen will. Ich glaube wirklich, diese von wirtschaftlichen Beweggründen und von den Erfordernissen bewirkte Einsicht wird uns ein wesentlich einigeres Indien bescheren.
Dr. Theo Sommer: Herr Professor Kakar, was sagt der Psychologe, Psychiater zu diesem Kampf der Geschlechter?
Prof. Sudhir Kakar: Der Psychoanalytiker ist stets vorsichtig und hält sich heraus aus diesem Kampf der Geschlechter. Eines möchte ich aber doch sagen, dass wir nämlich im Moment meiner Meinung nach zu viel Gewicht auf Al Qaida und den Terrorismus legen. Das hat aber nichts mit dem menschlichen Bedürfnis nach Feindbildern zu tun. Nachdem das Sowjetreich untergegangen ist, ist China in den Gesichtskreis der Welt getreten. Jetzt haben wir endlich einen wirklichen Feind, an dem wir alle unsere Energien abarbeiten können. Und da gibt es die Gefahr, dass wir nicht genug Ressourcen an die Überwindung der kulturellen Gräben wenden. Sie hat uns einen guten Dienst geleistet, indem sie uns bewusst gemacht hat: Es gibt noch andere Kulturen, die bringen auch Terroristen hervor. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie vielleicht zu viele geistige Ressourcen auf den Kampf gegen den Terror von außen verwenden, statt sie für die Überwindung der kulturellen Gräben im Inneren einzusetzen. Und das kann zu einer Gefahr werden. Natürlich ist Al Qaida ein Übel. Aber manchmal frage ich mich, ob hier nicht übertrieben wird, weil wir Feindbilder brauchen. Wo bekämen wir sonst die Feindbilder her?
Dr. Theo Sommer: Meine Damen und Herren, wenn der Bundespräsident anwesend ist, dann ist es für Moderatoren ganz einfach, die brauchen nämlich dann kein Schlusswort zu sprechen. Deswegen möchte ich jetzt nur allen Teilnehmern an der Podiumsdiskussion sehr herzlich für Ihre Beiträge danken und unmittelbar an den Herrn Bundespräsidenten zu seinem Schlusswort übergeben.
Johannes Rau: Meine Damen und Herren, wenn man aufmerksam zugehört hat und diesen Spannungsbogen von den ersten Zitaten Gandhis durch Professor Gangrade bis zum Schluss der Diskussion zusammenfasst und dann sieht, was wir in der Zwischenzeit alles besprochen haben, soziale Ursachen des Terrorismus, Fragen der Beteiligung von Frauen am gesellschaftlichen und politischen Leben, Fragen nach Ursachen, Fragen nach Wirkungen, dann kann man das nicht in einem Schlusswort zusammenfassen
Mir sind während dieser Diskussion ein paar Gedanken zusätzlich durch den Kopf gegangen, die ich Ihnen doch sagen möchte. Es gibt ein kleines Büchlein eines polnischen Satirikers, das heißt " Hochverrat ist eine Frage des Datums. Er will damit sagen, es gibt Menschen, von denen sprechen wir als Terroristen, aber die, die sie entsenden, nennen sie Freiheitskämpfer. Und die gibt es überall auf der Welt. Und ich kenne Freiheitskämpfer, die Terroristen waren und in Staatsämter gelangt sind. Und ich kenne die Diskussion darüber, ob man mit denen an einem Tisch sitzen darf. Das alles ist die Wirklichkeit von heute.
Mahatma Gandhi, der durch Gewalt zu Tode gekommen ist, ist der geistige Vater eines Landes, das gegenwärtig seinen Verteidigungshaushalt Jahr für Jahr zweistellig erhöht und dafür gute Gründe angibt.
Wir haben keine einfachen Antworten, aber wir haben ein paar Erkenntnisse, die wir nicht vergessen dürfen, wenn wir das Thema weiter erörtern und vertiefen wollen. Eine ist: Die Terroristen kommen nicht aus der Armut, aber sie nutzen Armut, Elend und Hunger als ihren Resonanzboden, und das gibt ihnen publizistisch und politisch große Macht. Die zweite ist, nach meiner Überzeugung finden wir Neigungen zum Terrorismus in allen Kulturen und in allen Weltregionen. Niemand glaube der Fundamentalismus sei ein Problem des Islam. Es gibt Fundamentalismus - jüdische, islamische, christliche Fundamentalisten - und alle diese Fundamentalisten verkennen, dass der Fundamentalismus der Feind des Glaubens ist und nicht sein Urgrund. Ich halte das für ganz besonders wichtig, weil auch in der gegenwärtigen Diskussion über militärische oder nichtmilitärische Auseinandersetzungen immer wieder fundamentalistische Argumente genannt werden.
Und da füge ich eine persönliche Beobachtung hinzu, lieber Theo Sommer: Wo immer ich bin bei Staatsbesuchen oder Auslandsreisen, versuche ich Menschen der Weltregionen an einem Tisch zu bekommen. Das gelingt auch immer, es hat nur einen Nachteil, die Fundamentalisten kommen nie. Und zwar kein Fundamentalist, kein christlicher, kein jüdischer, kein muslimischer, kein buddhistischer.
Es gibt eine Neigung zum Fundamentalismus, die halte ich für eine Folge von Unsicherheit gegenüber dem eigenen Bild des Glaubens. Und deshalb wünsche ich mir, dass wir eine Diskussion darüber führen, wie Toleranz und Beliebigkeit sich zueinander verhalten. Hermann Hesse, den ich gestern Abend zitiert habe mit seinem Wort über Indien als ein Heimwehland, hat auch einmal gesagt: "Gestaltlose Nebel begegnen sich nie". Das heißt, man muss schon eigenes Profil haben, wenn man den Dialog der Kulturen führen will, und ich kann nur raten, das eigene Profil - weltanschaulich, religiös, ideologisch - nicht absolut zu setzen. Sondern die Du-Beziehung, wie Martin Buber sie beschrieben hat, immer mitzudenken und mit auszusprechen.
Für mich war dies ein wichtiger Vormittag. Ich danke Ihnen allen und ich bin froh darüber, dass wir auf diese Weise gleichzeitig einen Mann haben, der nicht nur Indien in die staatliche Gestalt gebracht hat und in die Unabhängigkeit, sondern der der Vater der meisten NGOs ist, die es auf der Welt gibt. Ich wüsste wenige Menschen des vergangenen Jahrhunderts mit einer solch weltweiten Wirkung wie Mahatma Gandhi.