Redner(in): Johannes Rau
Datum: 29. Januar 2004

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/01/20040129_Rede.html


I. Kinder komponieren Musikstücke mit Namen wie "Brrr!" oder "Buchstabensuppe in der Schreibmaschine." Jugendliche drehen Video- und Kurzfilme, sie erstellen ein virtuelles Programmheft für eine Oper. Kinder mit Behinderungen illustrieren Geschichten wie "Die Katze und das Lied vom Mond." Es gibt Konzerte speziell für Kinder, es gibt ein Mathe-Mitmach-Museum - ich habe es eröffnen dürfen - in das auch Schüler gehen, die sonst vor jeder Mathearbeit Halsschmerzen bekommen.

Ist das Wunschtraum? Gewiss auch, aber das ist ein Wunschtraum, der Wirklichkeit werden kann. Genau das erfahren nun junge Menschen in sechs Projekten, denen ich gerade den "Zukunftspreis Jugendkultur" verliehen habe. Und es gibt noch mehr solcher Projekte in dem Kompendium "Kinder zum Olymp!", das die Kulturstiftung der Länder in den vergangenen beiden Jahren erarbeitet hat.

Sie alle zeigen: Wenn wir Kinder auf den Weg zum "Olymp", wenn wir sie auf den Weg zu Kunst und Kultur führen, dann öffnen wir ihnen den Zugang zu einer Welt, in der sie zu ganzen Menschen werden können: In Tanz und Rhythmus, in Ton und Klang, in Malerei und Farbe, in Sprache und Dichtung kommen Gefühl und Geist, Seele und Körper zur Einheit.

In Kunst und Kultur finden Menschen ihre Identität als einzelne und als Gesellschaft - nicht ein- für allemal, aber immer wieder und immer wieder neu. In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen steht deshalb: "Kinder haben ein Recht auf Kunst und Spiel."

Von dieser Überzeugung hat sich offensichtlich die Kulturstiftung der Länder leiten lassen, als sie diese Initiative begonnen hat, und der heutige Kongress soll die Ziele einer breiten Öffentlichkeit vorstellen.

Ich begrüße das, und ich möchte allen, die daran mitgewirkt haben und weiter daran mitwirken, danken. Stellvertretend, liebe Frau Professor von Welck, möchte ich Ihnen sagen, wie wichtig und wie richtig ich es finde, dass sich gerade die Kulturstiftung der Länder zu dieser Initiative entschlossen hat.

Sie haben Recht: Der frühe Zugang zu Kunst und Kultur ist unverzichtbar dafür, dass Kinder und Jugendliche selbständige Persönlichkeiten werden. Er ist auch wichtig, damit unser kulturelles Erbe Zukunft hat. Wenn wir dies Erbe bewahren wollen, dann müssen wir bei denen Verständnis und Begeisterung zu wecken versuchen, die auch über die Zukunft dieses Erbes entscheiden werden: Nämlich bei den Kindern und Jugendlichen von heute.

Wenn ich die PwC Stiftung neben der Kulturstiftung der Länder nenne, dann hat das den Grund, dass für sie mehr als ein "Event" zur Debatte steht: Sie vergibt nicht nur den "Jugendpreis Zukunftskultur", sondern sie fördert regelmäßig Projekte. Wir brauchen das besonders dringend.

Ich finde es bemerkenswert, dass die Stiftung eines großen Unternehmens einen Preis vergibt, in dessen Titel der Name des Unternehmens nicht vorkommt. Das zeugt von Selbstbewusstsein und davon, dass sie weiß, dass man mit Kindern und Jugendlichen besonders sensibel umgehen muss. Dafür bin ich dankbar.

II. Schulen und Hochschulen haben die Aufgabe, das Wissen und die Fähigkeiten zu vermitteln, die in Zukunft die Lebenschancen des Einzelnen mehren und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt möglich machen sollen. Das ist eines der großen Themen, die gegenwärtig diskutiert werden, und ich halte jede dieser Diskussionen für richtig und angemessen.

Wir brauchen eine grundlegende Reform der Inhalte und der Strukturen unseres Bildungswesens, weil sich unsere Gesellschaft in vielen Bereichen grundlegend geändert hat und sich immer weiter verändert. Ich nenne als Stichpunkte nur die neue Medienrevolution und die fortschreitende Globalisierung, die vielfach rein ökonomisch wahrgenommen wird. Dabei prägt sie auch Kunst und Kultur. Ich erinnere aber auch an die Anforderungen, die sich daraus ergeben, dass wir ein Einwanderungsland geworden sind.

Über eines sind sich darum derzeit alle in Deutschland einig: Wir können die Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, nur dann erfolgreich bewältigen, wenn wir mehr in unser Bildungssystem investieren, mehr Geld und mehr Ideen. Ich sage immer wieder: Wir geben für Bildung weniger aus, als wir uns leisten können.

Über die Ziele von Bildung und darüber, wie wir diese Ziele erreichen, wird mir aber noch viel zu wenig diskutiert.

Wenn ich manche Debatten über Bildungsfragen verfolge, dann habe ich den Eindruck, dass der berühmte Satz, den ich noch im Lateinbuch stehen hatte: "Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir!", inzwischen anders formuliert wird: "Nicht für die Schule und nicht fürs Leben, sondern für den Arbeitsmarkt lernen wir."

Wissen wird häufig nur noch als Instrument dargestellt, als ein Mittel, das man braucht, um erfolgreich zu sein. Bildung erscheint dann als bloße Technik, solches Wissen zu vermitteln, so effizient wie möglich und am besten mit Hilfe von Computern.

Von kultureller Bildung oder gar von ästhetischer Erziehung ist in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion kaum die Rede. Das gilt vielen als verzichtbar, als Ballast aus vergangenen Zeiten, in denen man sich den Luxus praxisferner Bildung noch leisten konnte - jedenfalls für Kinder aus den sogenannten besseren Kreisen.

Was aber bedeutet die immer wieder geforderte Praxisnähe denn heute? Sie kann doch nicht allein bedeuten, junge Menschen durch die Vermittlung von Spezialwissen und durch das Lehren ganz bestimmter Methoden des Wissenserwerbs auf einen Arbeitsmarkt vorzubereiten, von dem wir in vielem gar nicht wissen, wie er eines Tages aussehen wird.

Praxisnähe ist ja nicht allein die Fähigkeit, sich Wissen anzueignen, sondern auch die Fähigkeit, dieses Wissen sinnvoll einzusetzen.

Junge Menschen brauchen Orientierungssinn und Urteilsfähigkeit, um entscheiden zu können, welches Wissen sie brauchen und erwerben wollen und wie sie es einsetzen können. Sie brauchen aber auch Urteilsvermögen und Orientierungssinn, damit sie die gesellschaftlichen Folgen neuer ökonomischer und technischer Entwicklungen abschätzen können.

Und sie brauchen immer stärker die Fähigkeit, in der Schule, beim Studium, am Arbeitsplatz und in der Freizeit mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenzuarbeiten und zusammenzuleben.

Für all das brauchen Kinder und Jugendliche mehr als Fachwissen. Sie brauchen Eigenverantwortung, Urteilsvermögen, Kreativität. Sie müssen bereit und imstande sein, Verantwortung zu übernehmen. Sie müssen Unterschiede aushalten und Konflikte lösen können, auch durch Kompromisse, die keine faulen Kompromisse sind.

Gerade darum müssen wir nach meiner festen Überzeugung Bildung viel stärker ganzheitlich verstehen, als das vielfach heute geschieht.

III. Aus dieser Einsicht heraus ist in letzter Zeit der Ruf nach einer fundierten musischen Erziehung wieder lauter geworden, wenn auch noch lange nicht laut genug. Das hat gewiss damit zu tun, dass sich inzwischen herumgesprochen hat, dass die Probleme in unseren Schulen keineswegs bloß mit besserem Unterricht in den Wissensfächern behoben werden können. Es hat sich auch herumgesprochen, dass musische Bildung Intelligenz, Selbstdisziplin und soziale Kompetenz fördert.

Und weil das so ist, darum kann man auch die Zukunftsfähigkeit unserer Schulen nicht allein und auch nicht in erster Linie daran messen, mit wie vielen Computern sie ausgestattet sind, so hilfreich diese Computer sein können.

Wenn wir unsere Schulen zukunftsfähig machen wollen, dann brauchen sie mehr: Sie müssen zu Orten werden, an denen unsere Kinder all ihre Möglichkeiten entfalten können: Ihre intellektuellen, ihre kreativen, ihre musischen und ihre sozialen.

Wir erleben seit einigen Jahren das genaue Gegenteil: Fast überall in den Schulen wird gerade bei den musischen Fächern gekürzt und gespart zugunsten der vermeintlich wichtigeren mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und zugunsten der Schulung am PC.

Darum heißt es ja auch: "Schulen ans Netz!" Das ist ja nicht falsch. Aber mir ist das zu wenig. Die Erkenntnis muss sich weiter verbreiten, dass musische Bildung die Intelligenz fördert, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen musischer Bildung und der Fähigkeit zu abstraktem Denken; und das die Frage des Netzes wichtig ist, viel wichtiger aber, was denn im Netz ist. Musische Bildung ist eben kein schmückendes Beiwerk, auf das wir verzichten können.

Wir müssen uns in der Gesellschaft neu darüber verständigen, dass Kunst und Kultur kein Luxus sind, sondern ein Grundnahrungsmittel für jede und jeden und für alle in einer zivilisierten Gesellschaft.

Dazu kommt, dass Kunst und Kultur inzwischen wichtige Standortfaktoren in unseren Städten und Regionen sind. Theater und Museen, um nur zwei Beispiele zu nennen, schaffen auch Arbeitsplätze, ziehen Touristen an, machen Städte und Regionen für neue Einwohner und auch für Unternehmen attraktiv.

IV. So nützlich Kunst und kulturelle Bildung ohne jeden Zweifel auch sein können, so wenig dürfen wir sie auf ihre Nützlichkeit reduzieren. Wir brauchen sie jenseits von Nützlichkeit und Verwertbarkeit, weil sie eine der Formen sind, in denen wir Menschen uns die Welt aneignen und damit auch unsere Möglichkeiten, die Welt zu gestalten.

Ich weise immer wieder darauf hin: Kultur und kulturelle Bildung sind keine Luxusgüter, die wir uns leisten können, wenn es uns finanziell gut geht und auf die wir verzichten müssen, wenn die Verhältnisse finanziell enger werden. Kultur und kulturelle Bildung sind ein Grundrecht, auf das alle Anspruch haben.

Was es bedeutete, wenn wir den Menschen nur noch als homo oeconomicus betrachteten, das hat ein Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen, so auf den Punkt gebracht: "Wenn der Mensch nur noch als homo oeconomicus daherkommt und nur noch Nutzen und Präferenzen im Kopf hat, dann wird er zum rationalen Trottel." Das sagt ein Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften. Darum darf das ein Bundespräsident, wenn er ' s nicht sagen darf, doch vorlesen.

Also bleibe ich auch dabei: Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es die Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe auf allen staatlichen Ebenen. Ich weiß, dass das der Kultur noch keinen Euro mehr bringt. Aber nur wenn die Kultur und die für sie Verantwortlichen auf einer, auf der gleichen Stufe mit anderen wichtigen Aufgaben stehen, rücken sie dahin, wo sie hingehören, in die erste Reihe.

Musische Bildung ist nicht allein Privatsache und schon gar nicht Nebensache. Zu unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis sollte gehören, dass Kultur eines der Güter ist, auf die Kinder genauso Anspruch haben wie darauf, Schreiben, Lesen und Rechnen zu lernen. Nur eine Schule, die Verstand undSinne gleichermaßen anspricht, kann jungen Menschen Orientierung geben.

V. Weil mir Kunst und Kultur besonders wichtig sind, darum habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, auf ihre Bedeutung für unsere Gesellschaft hinzuweisen.

Am Beginn meiner Amtszeit habe ich im Bundespräsidialamt ein eigenes Referat eingerichtet für Kirchen und Kultur. Das gab es damals nicht.

Vor drei Jahren habe ich ein "Bündnis für Theater" angeregt, im vergangenen Jahr das Projekt "Musik für Kinder".

Theater und Oper sind ja in den letzten Jahren besonders in die Kritik geraten. Viele halten sie für eine hochsubventionierte Unterhaltungsform für eine kleine bildungsbürgerliche Schicht. Manche haben sogar den Eindruck, dass Theater überhaupt nicht mehr fürs Publikum gespielt wird, sondern nur noch für das Feuilleton. Das gibt es auch.

Theater und Oper sind Orte, an denen zunächst einmal und in erster Linie Kunst gemacht wird. Sie können und sie sollen aber auch Orte der gesellschaftlichen Selbstverständigung sein. So können sie gesellschaftliche Bindekräfte entwickeln, die wir heute dringender brauchen denn je. Darum finde ich es wichtig, in der Öffentlichkeit wieder mehr Verständnis für das Potential von Theater und Oper zu wecken.

Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass ich im Kompendium der Kulturstiftung zusätzliche Verbündete für meine Bemühungen entdeckt habe: In all den Projekten, die Kinder an Theater und Musiktheater heranführen.

Mir macht große Sorgen das, was manche die "musikalische Versteppung" Deutschlands nennen: Immer weniger Menschen spielen bei uns selber ein Instrument, immer weniger Menschen singen. Immer mehr Menschen lassen sich musikalisch bedienen vom Schlafzimmer bis in den Lift.

Wie wichtig gerade Musikalität für die menschliche Entwicklung ist, das wissen wir aus vielen Untersuchungen. Um darauf aufmerksam zu machen, habe ich zum Projekttag "Musik für Kinder" eingeladen, mit fast tausend Kindern im Schloss Bellevue.

Ich freue mich darüber, dass dieser Anstoß so viel Wirkung gezeigt hat und dass so viele sich ermutigt fühlen, mehr dafür zu tun, dass Musik in unserer Gesellschaft nicht überwiegend in kommerziellen Fernsehsendern stattfindet, die einen Clip nach dem anderen senden.

Lassen Sie mich darum aus dem Kompendium der Kulturstiftung einen Beitrag besonders erwähnen, auch wenn ich selten einen Band gesehen habe, in dem fast jeder Beitrag besondere Hervorhebung verdiente. Ich meine den Aufsatz von Donata Elschenbroichs: "Vom Recht des Kindes, seine eigene Singstimme zu finden."

Ich glaube, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der Kodály-Tradition in Ungarn für den Musikunterricht in unseren Schulen - aber auch in unseren Kindergärten - besonders wichtig und besonders fruchtbringend sein könnte.

Wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig sein will, dann müssen möglichst viele Menschen die Chance haben, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben. Darum müssen alle Kinder Zugang zur Bildung, Zugang zu Kunst und Kultur haben.

Wir dürfen kein Mädchen und keinen Jungen von vornherein ausschließen - etwa aufgrund mangelnder sprachlicher Kompetenz - oder dadurch, dass wir zu früh selektieren. Wir dürfen auch kein Kind ausschließen, weil die Eltern die Ballettschule oder privaten Musikunterricht nicht bezahlen können.

Ich war heute morgen in Berlin in einer Jugendmusikschule im Bezirk Pankow. Die haben viertausend Kinder, die sie gegenwärtig unterrichten. Sie haben eine Warteliste mit eintausendneunhundert Kindern allein im Bezirk Pankow-Weißensee.

Eine gute Schule, das zeigen uns die PISA-Resultate im internationalen Vergleich, lässt Verschiedenheit möglichst lange bestehen und grenzt die Schwächeren nicht aus.

Wir brauchen Schulen, die Raum bieten für die Förderung aller Schüler. Dafür ist die Einrichtung von Ganztagsschulen gewiss eine gute und hilfreiche Voraussetzung. Aber ich warne davor, Ganztagsschulen nur zur Verdoppelung der Vormittagsschule zu machen. Das wäre eine schlimme Fehlentwicklung.

VII. Damit Ganztagsschulen ihren neuen Aufgaben gerecht werden können, brauchen sie die tatkräftige Unterstützung der Gesellschaft haben. wie die aussehen kann, das zeigen die vielen Projekte in den Bereichen Musik, Theater, Tanz, Literatur, Medien, Kunst und Kulturgeschichte, die es in unserem Land schon gibt und die uns das Kompendium der Kulturstiftung zur Anregung und zur Nachahmung mitgibt.

Ich bin davon beeindruckt, wie viele Einzelne sich in solchen Projekten engagieren, und mich beeindruckt, wie viele Orchester, wie viele Theater, wie viele Literaturhäuser Kinder und Jugendliche an Kunst und Kultur heranführen gemeinsam mit Kindergärten und Grundschulen, mit Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen.

Mich macht nachdenklich, wie viele solcher Projekte es in den neuen Ländern gibt, obwohl dort häufig das Geld spärlicher fließt als in den sogenannten alten Ländern. Das zeigt, es muss kein Vermögen kosten, Kinder an Kunst und Kultur heranzuführen.

Und darum halte ich es für eine besonders gute Entscheidung, bei der Auswahl der Projekte nicht auf das Singuläre, nicht auf das Spektakuläre zu setzen, sondern auf das Machbare und das Nachmachbare. Da stimme ich Wolfgang Edelstein zu: Wir brauchen in der kulturellen Bildung von Kindern keine "Leuchttürme". Zum Olymp müssen Kinder auf vielen Wegen kommen können, und sie brauchen dabei so viel Unterstützung wie möglich.

Ich hoffe, dass dieser Kongress dazu beiträgt, dass er hilft. Ich wünsche Ihnen spannende und ertragreiche Diskussionen.