Redner(in): Horst Köhler
Datum: 25. Juni 2006

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/06/20060625_Rede.html


I. Was ist von einem Autor zu halten, bei dem es Sätze gibt wie: "Im Sommerwind rauschten die Pappeln" ? Oder: "Ich setzte mich unter eine kahle Ulme am Feldweg und begann zu essen" ? Oder bei dem es heißt: "Dann lief ich durch stille menschenleere Gassen zur Unterstadt am See und sah die alten Häuser und die Burg mit ihren Türmen" ? Ist das ein Schriftsteller des neuen, des 21. Jahrhunderts? Oder erklingt hier nicht ein ganz anderer Ton? Sollte eine solche Prosa nicht eher mit einem Eichendorff-Preis ausgezeichnet werden oder, nehmen wir einen Autor berühmter Reisen durch Deutschland, mit einem Heine-Preis?

Nun, es ist Wolfgang Büscher, von dem die zitierten Sätze stammen. Ich denke: Er ist ein Romantiker, da gibt es gar keinen Zweifel. Er schreibt so, dass man in seine Prosa mühelos Sätze von Eichendorff montieren könnte. Und doch ist er ein Schriftsteller ganz von heute, ganz aus dieser, unserer Welt.

In seine scheinbaren Idyllen mischt sich immer etwas anderes, etwas Bedrohliches oder Zerstörtes. Nehmen wir den Satz, den ich ganz zu Anfang zitiert habe und stellen ihn in seinen Zusammenhang. Dann heißt er: "Ich verließ Adams Hof [...] Im Sommerwind rauschten die Pappeln, viele Felder waren schon abgeerntet, es war die Zeit der Ostfeldzüge...".

Die Zeit der Ostfeldzüge... : In die scheinbare Idylle schlägt wie ein Blitz eine Erinnerung an Krieg und Zerstörung ein. Wolfgang Büschers Welt ist keine heile Welt, trotz aller Pappeln und Ulmen, trotz aller Bäche, singenden Vögel und aller Vollmondnächte. Wolfgang Büschers Welt, die Welt, die er sieht und beschreibt, ist eine versehrte Welt, eine Welt, die schwer an historischen Erfahrungen trägt und die davon gezeichnet ist. Es ist unsere Welt - aber Wolfgang Büscher schärft uns den Blick für ihre Narben, ihre dunklen Seiten, für die Leidensgeschichten, die in unsere Welt eingeschrieben sind. Wie er das beschreibt, das macht ihn einzigartig.

II. Aber gehen wir der Reihe nach: Das Werk Wolfgang Büschers, für das ihm heute auf meine Anregung hin der Ludwig-Börne-Preis verliehen wird, liegt in drei Büchern vor: "Drei Stunden Null","Berlin - Moskau","Deutschland - eine Reise". Büscher erklärt, er habe keinen Plan für diese Bücher im Kopf gehabt. Und doch erscheint es mir und vielleicht auch anderen Lesern so, dass hier ein verborgener Plan, ein roter Faden zu finden sei. Es gibt einige Konstanten, die immer wieder auftauchen, und es ist von Buch zu Buch eine bemerkenswert konsequente Entwicklung zu beobachten.

In alle seine Geschichten wirken immer wieder der Krieg und seine Spuren und Folgen hinein. Die "Stunde Null", jener seltsame Ausdruck für das Kriegsende und den Neuanfang 1945, ist der Ausgangspunkt für das Schreiben und für die Erkundungen Wolfgang Büschers. Wobei gerade bei Büscher rasch deutlich wird, dass es diese "Stunde Null" im Wortsinne nicht gegeben hat, nicht geben konnte. Alles, was davor lag, war und ist wirkmächtig bis heute.

Was ist das für ein Deutschland - das Deutschland heute, das für Wolfgang Büscher immer wieder auch ein Deutschland nach dem Krieg ist? Die beiden anderen Daten, die er ebenfalls als eine Stunde Null bezeichnet, sind 1968, das Jahr der Unruhen und Umbrüche, und 1989, als, wie er schreibt, der "Spuk" der deutschen Teilung endete, der "unter den Menschenversuchen des Jahrhunderts zwar nicht als blutigster, aber doch als der absonderlichste" dastehe. Das sind die Grunddaten in Büschers Werk. Um sie kreist sein Schreiben, um sie kreist der Autor.

Er umkreist sie buchstäblich. Denn das ist der andere wichtige Charakterzug seiner Arbeit: Was er uns mitzuteilen hat, das hat er sich erlaufen. Es gibt im Deutschen dieses wohl unübersetzbare Attribut für einen klugen Menschen: Wir sagen, er sei "bewandert". Für Wolfgang Büscher trifft das in buchstäblicher Weise zu. Er ist bewandert und seine Wanderbücher sind voll von den erstaunlichsten Erfahrungen, Entdeckungen und Erkenntnissen. Drei Stunden Null " : So fängt es also an. Und schon in diesem ersten Buch wird klar, dass die eigentliche Stunde Null die von 1945 ist: der Krieg, sein Ende, seine Folgen. Von hier aus ist alles zu verstehen, ohne das ist gar nichts zu verstehen.

Eine - typisch Büscher - fast beiläufig erzählte Episode verknüpft zum Beispiel die Geschichte eines amerikanischen Piloten, der seine Bombenlast über dem kleinen brandenburgischen Ort Luckenwalde abwirft, als seine Maschine schon brennt, mit der Geschichte eines Jungen namens Rudi, der diese Explosionen erlebt. Dieser Rudi ist 5 Jahre alt, fast so alt wie der Krieg."Sein Vater" - so heißt es bei Büscher - "war Berufssoldat, also fort, seit Rudi da war. Soldaten, Soldaten. Die Dunkelkammer seiner frühen Erinnerungen hing voller Uniformen". Später nehmen ihm russische Soldaten das Fahrrad ab. Rudi wird Pazifist und fordert seine Klassenkameraden auf, nicht freiwillig in den Dienst der Nationalen Volksarmee zu treten. Und jetzt zitiere ich das Ende der Geschichte im Original: "Kurz vor dem Mauerbau geht Rudi nach Westberlin, und kurz vor Ostern 1968 fragt ihn auf dem Kurfürstendamm ein Mann, ob er Rudi Dutschke sei. Er bejaht und der Mann schießt ihn nieder. Bevor er das Bewußtsein verliert, ruft er: ' Vater. Mutter. Soldaten. '"

Das ist Büschers Stärke: Verdichtung, Verknüpfung, Verknappung. Nichts wird ausgewalzt. Natürlich muss er voraussetzen, dass der Leser weiß, wer Rudi Dutschke war. Aber mit diesem Wissen des Lesers spielt er und schafft hier eine überraschende und wie ich meine, auch sehr berührende Pointe. Es ist typisch für Büschers Schreiben, dass er hier nicht lang und breit die Geschichte von 1968 erzählt und dass er nicht dessen Ursachen, Gründe und Konsequenzen erörtert. Er ist kein Grübler und kein Soziologe und kein Politikwissenschaftler. Er beobachtet und erzählt Geschichten. Das ist weder naiv noch zufällig, im Gegenteil: Das ist sehr bewusst konstruiert, wie man an allen seinen Texten erkennen kann. Aber immer lässt Büscher Raum für die Phantasie, das Nachdenken des Lesers. Er lässt ihn seine eigenen Schlüsse ziehen.

Büscher ist kein Ideologe und kein Theoretiker. Wenn er eine Weltanschauung hat, dann kommt sie aus der tatsächlichen Anschauung der Welt. Er umkreist seine Gegenstände - wie gesagt - buchstäblich.

So steht im Mittelpunkt seines ersten Buches die Umrundung Berlins - zu Fuß selbstverständlich, wie immer. Schon bei diesem ersten großen Fußweg zeigt sich Büschers Besonderheit: Hinsehen. Genau Hinsehen. Erspüren, Erfühlen. Im Gehen wird das Nachdenken genauer, das Urteilen langsamer. Im Zufußgehen vergeht die rasende Geschwindigkeit der Eindrücke, die uns die Medienwelt sekündlich präsentiert. Ein privates Projekt der Entschleunigung, das die Wahrnehmung intensiviert. So fängt er wie ein Seismograph Stimmen und Eindrücke der seltsamsten Stadt Europas auf, des geteilten Berlin, die sich damals, 1989, plötzlich als vereinigt wiederfand. Er betritt im Osten die Stadtteile Marzahn und Hellersdorf, die "in Schöneberg und Wilmersdorf unbekannter waren und ferner lagen als Montevideo". Diese Umkreisung Berlins kommt einem vor, als wollte sich der Autor versichern, an welchem Ort er denn nun lebt, nach diesem Wendepunkt 1989. Und diese Selbstversicherung, so scheint mir, ist die Voraussetzung für das große Abenteuer, für das zweite Buch, für "Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß".

III. Das Schreiben Büschers hat etwas Versöhnendes. Im Erzählen von Geschichten versöhnt er uns mit der Geschichte. Dabei wird nichts Dunkles verschwiegen. Es wird vielmehr als bekannt vorausgesetzt. Und es wird zum Ausgangspunkt für neue Erfahrungen.

Auch der Weg von Berlin nach Moskau ist eine Versöhnungsgeschichte. Warum Wolfgang Büscher ihn gegangen ist, erklärt er mit keinem Wort. Ist es ein Bußgang, wie es ein Gesprächspartner unterwegs vermutet? Ist es ein Gedenkweg für seinen Großvater, der mit Hitlers Truppen nach Moskau gezogen war und irgendwo verschollen ist? Es ist auf jeden Fall ein Abenteuer, eine wirkliche âventiure, wie es im Mittelalter hieß, eine Bewährungsprobe, ein Weg der Selbsterfahrung in der Fremde. Und dann dieses Ziel: Nach Moskau! Das ist nicht der klassische Bildungsweg deutscher Dichter, die nach Süden gezogen sind, auf ihren italienischen Reisen oder nach Syrakus oder das Land der Griechen mit der Seele suchend. Wer sich als Deutscher nach Moskau aufmacht, der geht einen ganz anderen Weg - einen Weg, der mit Eroberung, mit Krieg und Schrecken verbunden ist, er geht den Weg wie Napoleons Große Armee, in der viele Deutsche waren, und eben wie die Millionen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges."Diesen Weg gehen die Deutschen immer" bemerkt trocken einer der Russen, den Büscher unterwegs trifft. Ihm selbst scheinen der Weg und das Ziel nicht immer ganz geheuer zu sein. Sehr oft sucht er so etwas wie einen Segen, ganz zu Beginn von einem alten Wehrmachtssoldaten, und dann immer wieder auf seinem Weg.

Große Wege, Aufbrüche, in die Fremde gehen: Das hat seit alters her oft einen spirituellen Charakter. Neben dem Ritter, dem Soldaten, dem Abenteurer ist der Pilger die große Figur des Unterwegsseins. Für den Pilger ist der Weg so wichtig wie das Ziel, es ist ein Weg der Selbsterkenntnis, der Selbstreinigung, der Weg einer Identitätsfindung. Pilgerfahrt ist auch oft ein Weg, um eine Schuld abzutragen.

Mir scheint, bei Büscher ist es eine Mischung aus all dem. Der Wanderer geht mit leichtem Gepäck. Ein kleiner Rucksack, ein paar Karten, Notizbücher, einmal Wäsche zum Wechseln - das ist alles. Und doch geht er auch mit schwerem Gepäck. Er geht mit der Last der Geschichte. Aber wie Büscher damit umgeht - wie er damit geht, um im Bild zu bleiben - , das macht seine besondere Stellung in der gegenwärtigen Literatur aus. Er weiß um die Geschichte, um die Schuld, um die Verbrechen. Aber er trägt sie nicht vor sich her. Er trägt sie sozusagen auf dem Rücken, als selbstverständliches, altbekanntes, nicht zu bezweifelndes Gewicht. So geht er seinen Weg.

Gerade weil er die Geschichte selbstverständlich bei sich hat, kann er Menschen unterwegs unbefangen begegnen, Geschichten erzählen und sich anhören, sich dunklen und hellen Episoden der Vergangenheit widmen. Das alles gibt auch eine neue Freiheit in der Begegnung mit der Gegenwart - in Polen, Weißrussland und Russland, und schließlich auch eine neue Freiheit zur Zukunft. Wolfgang Büscher zeigt: Gerade wer zu seiner Geschichte steht, gerade der kann in neue, in freundliche, ja freundschaftliche Begegnungen kommen. Auch in diesem Sinne ist dieses Buch ein Buch der Versöhnung.

Ich will nicht verheimlichen, dass mir allein die physische Leistung - 1800 Kilometer zu Fuß, bei jedem Wetter, oft mit bescheidener oder gar keiner Unterkunft, mit Hunger und Hitze, mit Nässe und Kälte, mit Einsamkeit an unheimlichen Orten - größten Respekt abnötigt. Aber noch viel mehr bewundere ich die Beobachtungsgabe, die Aufmerksamkeit auf kleinste Begebenheiten und Geschichten und die wunderbar knappe, poetische Sprache, in der uns dieses abenteuerliche Vierteljahr erzählt wird. Ich möchte ein Beispiel geben: Büscher kommt ganz zu Anfang über die Seelower Höhen, den Ort der letzten Offensive der Roten Armee Richtung Berlin, wo zehntausende Soldaten starben. Er versucht die Namen auf dem deutschen Soldatenfriedhof zu entziffern: Die Steine von Seelow lagen gut lesbar im Vollmond, sie lasen sich wie die mürbe gegriffenen Kärtchen in den langen Schubkästen der Bibliothek einer geisteswissenschaftlichen Fakultät, sagen wir, in Marburg an der Lahn. Der Mayer. Der Conrad. Valentin. Schiller. Deutsch. Süß. Jung. Sie fehlten alle. Ich versuchte mir vorzustellen, was für ein Land es geworden wäre, bei dem sie alle dabei wären, und nicht Namen im Stein. [...] Der deutsche Pop war auch da, der ältere, abgebrochene. Der Schmeling. Der Albers. [...] Die Steine summten sich ein und schunkelten schon, der ganze Friedhof pfiff jetzt die bekannte Melodie: Where have all the Mayers gone? The Deutsch. The Süß. The Jungs. Die Jungs von 1945 waren nicht einmal 20 gewesen, es war eine Schlacht der 18jährigen, von der Schulbank weg. [...] Am häufigsten fand sich auf den Steinen von Seelow der Name Unbekannt."

Das ist Wolfgang Büschers ganz persönliche Art, kritisch zu schreiben: echte Trauer, echte Melancholie, echte Wut über den Krieg - ab und zu mit bitterem Witz vermischt. Es ist ein sehr menschlicher Blick, dem wir in Büschers Büchern immer wieder begegnen, und ein, wie mir scheint, sehr gerechter Blick. Wahrscheinlich haben das auch die Menschen gespürt, denen er auf seinem langen Weg begegnet ist, und die sich ihm geöffnet und ihm ihre Geschichten erzählt haben.

Büscher hat einen Blick für die Würde des einzelnen, für seine Größe, sein Schicksal, sein Glück und sein Scheitern. Er hat aber auch einen Blick des Erbarmens und des Mitleids. Angesichts verlassener Fabrikhallen und verfallener Monumente in Weißrussland empfindet er sogar "plötzlich etwas wie Mitleid mit dem Kommunismus". Büscher ist kein unpolitischer Schriftsteller. Er kennt die Geschichte und die Schrecken genau. Aber er repetiert uns nicht sein Wissen oder gar seine bloße Meinung, sondern erzählt uns, was er gesehen und erfahren hat.

In einem abseits gelegenen orthodoxen Kloster kurz vor Moskau sieht Büscher eine ungewöhnliche Ikone: Christus als Autor der Welt, mit einer Feder in der Hand,"die zierlich und gefährlich zugleich" wirkt. Christus berührt die Feder nur leicht,"aber sie schwebte aus eigener Kraft und stand auf der Welt und die Weltkugel war leer. Ein unbeschriebenes Blatt, wie am ersten Tag oder am letzten." Ob das auch als ein Symbol für sein eigenes Schreiben zu lesen ist? Jeder Schriftsteller träumt ja davon, die Welt neu zu beschreiben...

Als Büscher nach seinem langen Weg endlich in Moskau ankommt, umarmt er das Ortsschild. Jeder Leser wird diese Geste des Ankommens, der Erleichterung, vielleicht auch des stillen, erschöpften Triumphes nachvollziehen können. Aber hier ist die Geschichte nicht einfach zu Ende. Der letzte Satz im Buch ist eine Frage: Natalja, eine junge Russin, die er nach seiner langen Wanderung an seinem Ziel in Moskau trifft, fragt ihn: "Was machen wir jetzt?"

Diese Frage geht auch an uns Leser, an deutsche und hoffentlich auch an polnische und russische Leser: Nachdem diese ganze Geschichte hinter dem Autor und uns liegt, nachdem der Autor und wir einen weiten Weg gegangen sind und die Geschichte selbstverständlich zu unserem Gepäck gehört, kann es weitergehen, in eine gemeinsame Zukunft."Was machen wir jetzt?" ist genau die richtige Frage, die nach vorn weist, ohne Geschichte zu verleugnen.

IV. Es scheint fast, als habe Büscher diesen langen Weg in die Fremde gebraucht, um für sein drittes Unterwegs-Projekt bereit zu werden. Er wandert einmal um Deutschland herum, an seinen Grenzen, und erkundet sein eigenes Land, sein Vaterland, wie eine andere Fremde. Wolfgang Büscher ist, wenn Sie mir dieses Wortspiel gestatten, um Deutschland gegangen, weil es ihm um Deutschland geht. Und vielen Lesern wird es ähnlich ergangen sein wie mir: "Deutschland - eine Reise" hat mir ein Deutschland gezeigt, das mich in seiner Buntheit, seiner Vielgestaltigkeit, seiner Fremdheit auch, in seiner Skurrilität und Liebenswürdigkeit erstaunt und verwundert hat. Was ist das für ein Land, das uns Wolfgang Büscher zeigt? Ist es überhaupteinLand? Manchmal können einem Zweifel kommen: So unterschiedlich sind die Menschen, so verschieden die Landschaften, so disparat die Erfahrungen, so verwickelt die historischen Bezüge.

Das alles erfahren und lesen wir bei Büscher: wie die Limes-Grenze immer noch viel wirkmächtiger ist als der so genannte Ost-West-Gegensatz, wie der Krieg manche Landschaften und Städte völlig verschont und anderswo Geschichte fast vernichtet hat, wie an Wirtshaustischen in Lindau ein nachaufgeklärter, esoterischer Zeitgeist weht, woanders aber noch archaische Winterbräuche ihren selbstverständlichen Platz haben. All das solleinLand, soll unser gemeinsames Deutschland sein? Ein Land aus sechzehn Ländern, von denen die meisten wiederum Außengrenzen haben, ein Land, von dem Büscher einerseits sagen kann: "Es war auf dem Dorf immer noch so wie in meiner Kindheit" - und gleichzeitig ein Land, in dem andere Orte so verheerende Wunden davongetragen haben, dass ihre alte Gestalt verloren ging: "Wo ist Emmerich? Hat jemand Emmerich gesehen?"

Dem Leser wird es nicht anders gehen als dem Autor selber, der angesichts all seiner disparaten Erfahrungen eingesteht,"wie schlecht ich mein Land gekannt hatte...". Er staunt und lässt uns an seinem Staunen teilhaben. Er schildert Begegnungen, oft mit sanfter Ironie, die auch Selbstironie einschließt, und oft mit Faszination und Rührung.

Täusche ich mich oder habe ich in diesem Buch auch etwas gefunden, das man Vaterlandsliebe nennen kann? Eine wie selbstverständliche Liebe zu diesem Land, eine leise Liebe, auch eine Liebe mit gelegentlichem Spott: Über ein Dorf in Bayern heißt es: "Eine altmodische Freundlichkeit lag über allem, sie ruhte in der Gewissheit, dass die Welt wohleingerichtet und gutartig sei [...] und wer nicht schweren Unfug trieb, der durfte hoffen, dass es ihm gut gehen werde im Leben, dass nichts Böses ihm ernstlich etwas anhaben könnte".

So auf dem Land. Und im Rückblick auf eine Großstadt heißt es: "Dieses Einkaufen und Herumlaufen mit immer mehr Tragetaschen, dieses In-der-Mittagspause-eine-Kleinigkeit-Essen, dieses Sich-nach-der-Schule-in-lärmenden-Gruppen-in-Eisdielen-Niederlassen, der lange epische Zug ganzer Generationen durch solche Städte mit ihren besetzten und zäh verteidigten Altbauvierteln, ihren Kinos, Märkten und verworrenen Beziehungen - ich schwamm darin wie in einem Thermalbecken. Schiere, warme Gegenwart. Beruhigt, dass es das gab, verließ ich Bremen."

Und dazu dann noch die Gassen von Görlitz, der Schwarzwald, die Ostseeküste und der Bodensee: Ist Deutschland bei aller Vielgestaltigkeit eine einzige schöne Idylle? Es mag so scheinen. Aber immer wieder wird deutlich, auf welchen Untergrund diese Idylle gebaut ist. Auch hier ist die Erfahrung des Krieges gegenwärtig. Zum Beispiel, wenn Büscher feststellt, dass die zerbombten und wiederaufgebauten Städte kaum älter sind als er selber, wenn er sich an den Mann in seiner Kleinstadt erinnert, der als besonderen Beitrag zur "Reichskristallnacht" sämtliche Schuhe einer jüdischen Frau aus der Wohnung raubte und auf einem Holzklotz zerhackte, und wenn er ein peinigendes Porträt eines fürchterlichen KZ-Aufsehers liefert. So zeigt er an vielen Stellen den dunklen Hintergrund des heutigen Friedens, und wie kostbar er uns Deutschen ist, auch wenn wir es manchmal gar nicht so im Bewusstsein haben.

An einer Stelle wird es ganz deutlich: Eine alte Frau, die als eine von ganz wenigen den Bombenangriff auf Swinemünde überlebt hatte, sagt: "Nie wieder Krieg! [...] Es war ihr Leben in einem Satz, es war keine Propaganda, nichts Nachgeredetes [...] Mir schien, dass ich in diesem Moment die neue deutsche Seele verstand. Die danach. Nach dem Meteoriteneinschlag." Und ob es "das eherne Idyll der Wohnzimmer" der einen oder "die Peace-Runen und die Erich-Fromm-Schmöker" der anderen sind: "Alle meinten dasselbe. Alles, alles, nur kein Krieg. Das Deutschland meines Lebens hatte sich stark verändert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, aber diese Sache war immer gleich geblieben. Alles empfand, alles dachte von dieser meteoritischen Zeitenwende her."

Das Deutschland-Bild, das uns Wolfgang Büscher liefert, wird viele überrascht haben. Ein vielgestaltiges, buntes Land, ein Land mit verrückten Geschichten und phantastischen Biographien, aufgeklärt und skurril, archaisch und modern, voller Traditionen, voller kultureller und historischer Schätze, aber auch ein Land furchtbarer Kahlschläge und fruchtbarer Neuanfänge.

Was hält dieses Land zusammen? Wenn wir Wolfgang Büscher glauben, dann ganz offenbar vor allem der Wille, es besser zu machen. Der Wille, ein liebenswertes und weltoffenes, ein friedfertiges und verantwortungsbewusstes Land zu sein. Ein Land, von dem vielleicht auch Ludwig Börne einst geträumt hat. Wir haben allen Grund, Wolfgang Büscher zu danken: für seine Reisen und für die Bücher, die er uns darüber geschrieben hat. Wir feiern in unserer Mitte einen großen deutschen Autor. Herzlichen Glückwunsch zum Ludwig-Börne-Preis, Wolfgang Büscher!