Redner(in): Roman Herzog
Datum: 11. Dezember 1996
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/12/19961211_Rede.html
Die Führungsakademie ist die zentrale und höchste Ausbildungsstätte für alle Offiziere der Bundeswehr - ihre zukünftige Leistungselite sitzt hier. Die Akademie ist zugleich eine internationale Begegnungsstätte von Rang; rund achtzig Länder sind hier vertreten. Die Akademie agiert an den Schnittstellen von Politik und Streitkräften, Wissenschaft und Praxis, Bildung und Qualifikation, zwischen nationalen und internationalen Aufgaben. Als Redner ist man daher gut beraten, - das Ganze und nicht seine Einzelteile zu erschließen, - Fragen zu stellen und nicht Gewißheiten zu vermitteln zu wollen.
Für die Rolle moderner Streitkräfte in Politik und Gesellschaft muß man weniger nach dem Wesen des Krieges als nach der Natur von Politik fragen. Clausewitz hat gesagt, daß Krieg kein Selbstzweck, sondern die Fortsetzung der Politik unter Beimischung anderer Mittel sei. Dieser Lehrsatz ist oft falsch verkündet und grundlegend mißverstanden worden. Clausewitz ging es nämlich um die Bändigung und Domestizierung von Krieg und Gewalt. Sein Thema war immer der Primat der Politik und deshalb galt seine Lehre gerade auch im Zeitalter der Abschreckung. Das liegt in der Natur seines Denkansatzes. Er wollte Imanuel Kant, der ja als Philosoph des Friedens durch Demokratie gilt, auf das Kriegswesen übertragen und deshalb eine Theorie der Bändigung des Krieges entwerfen. Diese ist im Kern von historischen Veränderungen unabhängig. Für uns heißt das also: Wir müssen Clausewitz in unsere Zeit übersetzen.
Die entscheidenden Merkmale unserer Zeit lassen sich so beschreiben: Die umfassende militärische Bedrohung ist verschwunden. Die alte Gegnerschaft wurde durch neue, breite Kooperation abgelöst. Der Weg, den NATO und Europäische Union gegangen sind und noch vor sich haben, ist dafür ein signifikantes Beispiel. Wir sind Zeugen einer eigentümlichen Ambivalenz in den politischen und strategischen Entwicklungen. Einerseits wächst die Welt zusammen; für Wirtschaft, Technik und Kommunikation heißt das entscheidende Schlüsselwort Globalisierung. Andererseits gibt es eine Fülle von Risiken und Gefahren, die grenzüberschreitende Wirkung haben und uns alle bedrohen können. Es verschärfen sich ethnische und religiöse Gegensätze, die zusammen mit Fanatismus, Terror und Verfügungsgewalt über moderne Waffen entsetzliche Gewalt freisetzen können. Die Lage auf dem Balkan führt uns diese Ambivalenz wie im Brennglas vor Augen - Risiken wie auch Chancen.
Der Primat der Politik ist ein neuer Imperativ geworden. Mehr denn je brauchen wir einen umfassenden politischen Ansatz, der für wirtschaftliche, politische und militärische Stabilität sorgt - vor allem durch Kooperation und Krisenvorsorge.
Das geht heute nicht mehr durch den einzelnen Staat allein. Die Staatengemeinschaft muß ihre Kräfte bündeln, muß koordiniert vorgehen. Der Einsatz von Streitkräften spielt im Gefüge des außen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums zwar eine Rolle, aber eine spezifische und unvermeidbare Rolle. Er ist immer - nach Qualität, Quantität und Ziel - danach zu bemessen, wie er im Gesamtzusammenhang am ehesten, wirkungsvollsten und schonendsten zum Frieden, zur Beendigung von Gewalt und zu dauerhafter Stabilität beiträgt.
Ich habe in diesem Zusammenhang immer gesagt und wiederhole es hier bewußt: Risikoscheues Nichthandeln ist auf Dauer risikoreicher, gefährlicher und auch unmoralischer als umsichtiges und entschlossenes, wenn auch möglichweise unvollkommenes Handeln zum richtigen Zeitpunkt - im Bewußtsein dessen, daß es Risiken, Chancen, vor allem aber auch Verantwortung und Pflichten gibt. In unsere Zeit würde ich Clausewitz demnach so übersetzen: "Der Einsatz von Streitkräften gehört zu einer Politik, die auf Krisenvorsorge, Konfliktbewältigung und dauerhafte Stabilität zielt".
Das Schlüsselkonzept für Europa heute heißt Stabilität - eine Stabilität, die den Geboten von Moral und Vernunft folgt. Es geht nicht mehr um die Stabilität der Vergangenheit, die aus dem prekären Gefüge rivalisierender Mächte - der "Balance of Power" - oder dem brisanten Gleichgewicht gegeneinander gerichteter Militärpotentiale erwächst. Moderne Stabilität entsteht, - wenn feste demokratische Strukturen existieren, - Menschenrechte gelten, - die Marktwirtschaft floriert - und halbwegs soziale Gerechtigkeit herrscht. Das ist letztlich nichts anderes als die Theorie des demokratischen Friedens von Kant. Im Äußeren gewinnen wir Stabilität aus guter Nachbarschaft, aus enger Kooperation und aus der Integration kleinerer und größerer Nationen als gleichberechtigte Partner. Das ist für uns Deutsche die Lehre der Geschichte; für alle aber ist es ein Gewinn.
Stabilität in Europa hat zwei Namen: Europäische Union und Nordatlantische Allianz. Beide haben im Westen Europas einen Raum wirtschaftlicher und politischer Stabilität geschaffen, dessen friedensstiftende Wirkung in der Geschichte ohne Beispiel ist. Wer dazu gehört, - bei dem festigt sich Demokratie, - gedeiht wirtschaftliche Wohlfahrt, - der genießt Schutz und Sicherheit auf Dauer - und gibt dafür Solidarität und Mitverantwortung. Aber in unserer grundlegend veränderten Welt können weder NATO noch Europäische Union so bleiben wie sie sind. Wir müssen jetzt entscheiden, wie wir die Europäische Union so fortentwickeln, daß sie den Namen Union wirklich verdient. Dazu gehört die Herausforderung der Wirtschafts- und Währungsunion genauso wie die entschiedene Stärkung der gemeinsamen Handlungsfähigkeit. Zugleich muß sich die Europäische Union darauf vorbereiten, neue Mitglieder aufzunehmen.
Auch die Atlantische Allianz wird grundlegend verändert. Es entsteht eine neue NATO, die sich den Aufgaben unserer Zeit stellt - kein Bündnis gegen Bedrohung, sondern eine Allianz gegen Gefahren. Und die eigentliche Gefahr unserer Zeit heißt Instabilität. Das Bündnis braucht dazu flexible und schlanke Strukturen. - Es öffnet sich für neue Mitglieder. - Und es will eine strategische Partnerschaft mit Rußland eingehen, aber auch die Kooperation mit der Ukraine vertiefen.
Wenn wir das schaffen, sind wir auf gutem Wege. In den nächsten Monaten werden wichtige Entscheidungen fallen, die das Gesicht Europas für das nächste Jahrhundert prägen werden. Dabei ist entscheidend, daß wir die vor uns liegenden Aufgaben in ihrem unauflöslichen Zusammenhang sehen, handhaben und vorantreiben - mit klarem Ziel vor Augen, aber umsichtig und besonnen.
Das wird weiterhin Souveränitätsverzichte kosten. Aber von Souveränität ist heute in wichtigen Aufgabenbereichen ohnehin keine Rede mehr. Kein Staat kann heute seine Wirtschaft mehr allein schützen, fördern oder gar lenken. - Die "Nationalökonomien" werden immer mehr in einer Weltwirtschaft aufgehen. - Kein Staat kann heute mehr seine Bürger allein vor Verbrechen schützen, denn auch das Verbrechen hat sich internationalisiert. - Kein Staat kann mehr seine Umwelt allein schützen; denn Wolken sauren Regens machen an seinen Grenzen nicht halt. - Und im Zeitalter der Supermächte sind die meisten Nationalstaaten nicht einmal mehr imstande, ihr Territorium und ihre Bürger allein gegen Angriffe und Bedrohungen von außen zu schützen.
Deshalb sind auch Nationalstaaten heute kein Allheilmittel mehr und deshalb sind selbstverständlich bei fortbestehenden Nationen und Nationalstaaten größere Gemeinschaften nötig, die sie zwar nicht ablösen, wohl aber überwölben werden: an ihrer Spitze eben die atlantische Gemeinschaft und die Europäische Union.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schien ein militärischer Konflikt in Europa nicht mehr vorstellbar. Die Logik der nuklearen Abschreckung verdrängte die Möglichkeit des Einsatzes von Streitkräften in Europa aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein.
Aber diese Zeiten sind heute leider vorbei. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt: Wenn diplomatische, politische und wirtschaftliche Mittel nicht ausreichen, ist der entschlossene Einsatz von Streitkräften auch heute noch ein Mittel der Politik, um Aggression eindämmen und Wege für politische Lösungen zu öffnen. Unser Land hat daraus die Konsequenzen gezogen. Deutschland wird heute seiner Mitverantwortung bei vorbeugender Risikobewältigung der Völkerrechtsgemeinschaft gerecht. Dazu gibt es in Bundestag und Öffentlichkeit einen neuen sicherheitspolitischen Konsens.
Seit ihrer Aufstellung ist die Bundeswehr eine offene Armee, integriert in die Gesellschaft. Sie hat ein vorbildliches Bildungssystem, eine konkurrenzfähige Unternehmenskultur und eine moderne Führungsphilosophie. - Die Wehrpflicht hält sie jung und am Puls der Zeit. - Die Konzeption der Inneren Führung bringt konkurrierende Ziele und Prinzipien in Einklang.
Sie fordert die Abwägung zwischen der funktionalen Effektivität - und den individuellen Rechten des Soldaten, - zwischen hierarchischer Ordnung und Beteiligung, - zwischen Disziplin und Mündigkeit, - zwischen Führungsverantwortung und Delegation.
Mit dem gewachsenen Konsens über Rolle und Auftrag der Bundeswehr sind wir der sicherheitspolitischen Normalität, wie sie bei unseren Nachbarn üblich ist, sehr nahe gekommen. Das heißt aber nicht, daß die Bundeswehr in ihren Anstrengungen um Integration, moderne Führung und politische Bildung nachlassen darf - sie sind zukünftig noch notwendiger als zuvor. Ich rede von einem unverkrampfteren Verhältnis zwischen Streitkräften und Gesellschaft.
Landes- und Bündnisverteidigung bleiben die Kernaufgabe der Bundeswehr. - Der Schutz der Freiheit der Bürger vor äußerer Bedrohung ist eine Grundaufgabe des Staates, unabhängig von den Wechselfällen der Geschichte. - Die begrenzte Fähigkeit der Nationalstaaten mündet heute aber in eine politische Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und in letzter Konsequenz mit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik.
Die Bundeswehr trägt zur europäischen Einigung durch Bereitschaft zur Multinationalität bei. Multinationalität hat ihren Preis - als ehemaliger Verfassungsrichter weiß ich wovon ich rede. Die unterschiedlichen nationalen Hoheitsrechte, Wehrrechtsordnungen, Dienstvorschriften und Führungskulturen sind nicht ohne weiteres zu harmonisieren. Um es mit Schillers Wallenstein zu sagen: "Eng beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen". Die Vertiefung der europäischen Integration ist ein schrittweiser Prozeß mit Kompromissen, wo möglich, und der Respektierung nationaler Unterschiede, wo nötig. Nur so wächst ein gemeinsames Verständnis von europäischer Sicherheit und Zusammenarbeit.
Ebenso bedeutsam für die Stabilität in Europa sind die Kooperationen mit den mittelosteuropäischen Staaten. Diese jungen Demokratien wetteifern um Reformen und um Mitgliedschaft in NATO und Europäischer Union. Dazu müssen sie zentrale ordnungspolitische Probleme lösen: - Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, - Primat der Politik, - Kontrolle des Militärs, - Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft. Deutschland kann hier im Rahmen militärischer Kooperationen helfende Politikangebote machen und den Weg in die westlichen Sicherheitsstrukturen ebnen. Die Armee in der Demokratie ist ein solches Politikangebot. Das ist zwar kein Exportartikel, wie gelegentlich gesagt wird, wohl aber Vorbild und Hilfe für unsere östliche Nachbarn bei der Reform ihrer Streitkräfte. Die Öffnung des Bündnisses und der Europäischen Union ist also mehr als ein strategischer und wirtschaftlicher Transfer von Sicherheit. Es ist vorbeugende Sicherheitspolitik im wahrsten Sinne des Wortes. Die militärische Krisenbewältigung ist eine besondere Herausforderung für Deutschland - politisch, militärisch und gesellschaftlich. Die Streitkräfte werden dadurch mit ungewohnten Anforderungen konfrontiert und die Soldaten werden einer unvergleichlichen Belastung von Körper, Geist und Psyche unterworfen.
Die persönliche Verantwortung, insbesondere des militärischen Führers für Leib und Leben seiner Kameraden, wird greifbar. Fehlverhalten und Fehlentscheidungen wirken sich in solcher Lage ganz konkret aus. Mit dieser enormen Verantwortung müssen Soldaten umgehen und trotzdem professionell handeln können. Sie müssen sich mit Problemen auseinandersetzen, die bislang nur hypothetische Bedeutung hatten: Tod, Verwundung, Gefangennahme, Geiselhaft, psychische und moralische Festigkeit in extremen Situationen.
Die allgemeinen ethischen Fragen des Soldatenberufs erhalten damit konkrete Dimensionen. Es ist aber auch die Gesellschaft gefordert, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Die Soldaten handeln im Vollzug eines politischen Willens und sie brauchen dazu eine breite Unterstützung von Politik und Bevölkerung. Aufgabe der Politik ist es, zu entscheiden, die Mittel bereitzustellen und Einsatzbefehle zu vermitteln. Die Politik ist hier mehr denn je gefordert, die Sinnhaftigkeit ihres Handelns vor dem Hintergrund der Interessen und Werte Deutschlands zu erklären und zu rechtfertigen.
Die Führungsakademie kann dabei einen wichtigen Beitrag leisten; sie ist schließlich wesentlicher Bestandteil der Verteidigungs- und Bildungskultur unseres Landes. Sie ist aber auch Instanz für Ausbildung, Auswahl und Förderung zukünftiger Spitzenkräfte in den Streitkräften. Sie hat deshalb einen herausragenden Stellenwert für Politik und Gesellschaft. Der auch in den vergangenen Jahren hohe Anteil von Vertretern aus Verbündeten- und Partnerländern erhöht ihre Bedeutung - die Internationalisierung von Streitkräften und Politik scheint an dieser Akademie schon längst vorweggenommen zu sein.
Die Führungsakademie ist, wie wir alle wissen, auf gutem Wege. Ich habe mir eingehend berichten lassen, wie erfolgreich sie darin vorangeschritten ist, die Konzeption der Ausbildung und die Inhalte der Lehre auf das auszurichten, was die veränderte politische und strategische Lage verlangt: - einen ganzheitlichen Ansatz, - streitkräftegemeinsames Denken, Planen und Handeln im nationalen und internationalen Rahmen.
Auf letzteres, auf Internationalität, kommt es heute besonders an. In der Konzeption und Struktur der Führungsakademie muß sich widerspiegeln, was für die Zukunft Europas auf der Tagesordnung steht: die Gemeinschaft von Europa und Nordamerika über die heutige NATO hinaus. Wenn wir künftige Mitglieder der Europäischen Union und der Westeuropäischen Union auch in der NATO sehen wollen, wenn wir Deutsche künftig eine politische Union in Europa haben wollen und wenn wir schließlich eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Europa und Nordamerika anstreben, dann muß das seinen Ausdruck auch in der Lehre der Führungsakademie der Bundeswehr finden.
Dazu und zu einem erfolgreichen Abschluß Ihrer Ausbildung, meine Herren Lehrgangsteilnehmer, wünsche ich Ihnen viel Erfolg und alles Gute.