Redner(in): Roman Herzog
Datum: 12. Dezember 1996

Anrede: Herr Murmann, Herr Hundt, meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/12/19961212_Rede.html


I. Wettbewerb bedeutet Wandel. Das galt bereits in den fünfziger und sechziger Jahren, als der Wettbewerb vorwiegend auf den nationalen und europäischen Rahmen beschränkte. Es gilt um so mehr heute, im Zeitalter der Globalisierung.

Ich komme gerade von einer Auslandsreise, die mich u. a. in die Volksrepublik China geführt hat. Wer wissen will, was wirtschaftlicher, aber auch politischer Wandel bedeutet, der muß China besuchen. Überall habe ich dort tiefgreifende, z. T. weltweit wirksame Veränderungen verspürt. Zweistellige Wachstumsraten sind dort keine Seltenheit. Aber wichtiger ist: Mit großer Hingabe sind die Menschen dabei: Im Wettbewerb zwischen Tradition und Moderne, zwischen Handy und Konfuzius, zwischen Stadt und Land, zwischen den Metropolen des Südens und dem Hinterland des Nordens ihre gesellschaftliche Zukunft in die Hand zu nehmen.

Überall habe ich unbekümmerte Bereitschaft, ja geradezu Freude erkannt, sich mit den bestehenden Herausforderungen auseinanderzusetzen. Davon nicht von allen übrigen Elementen der chinesischen Politik könnten wir lernen. Daran können wir aber auch mitwirken. Die Verkehrs- und Infrastrukturprobleme einer Megastadt wie Shanghai mit einer Einwohnerzahl wie Nordrhein-Westfalen zu lösen: Dazu können auch wir Deutschen erfolgreich unseren Beitrag leisten. Voraussetzung: Wir müssen nicht nur zur wirtschaftlichen, sondern auch zur interkulturellen Zusammenarbeit und zum gegenseitigen Verständnis bereit sein.

Dabei geht es nicht um Aufgabe der nationalen Identitäten in einer globalen Einheitswirtschaft. Es geht auch nicht um den Kampf der Zivilisationen, wie ihn Samuel Huntington immer wieder beschwört - neuerdings sogar in Buchform und sogar ohne Fragezeichen. Es geht vielmehr um einen Prozeß, der allen Beteiligten die ökonomischen Vorteile einer interdependenten Weltwirtschaft bringt, der zugleich aber auch die geistigen Vorteile eines kulturübergreifenden Dialogs und Austauschs gewährleistet: zur Bewahrung, aber auch zur Erweiterung des jeweils eigenen geistigen wie kulturellen Spektrums.

Alle diese Herausforderungen anzunehmen ist für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ohne jede Alternative. Wie wir den Wandel gestalten und bestehen, ist uns allerdings auch durch die Globalisierung nicht vorgegeben. Wir können selber mitgestalten. Es ist im Augenblick Gegenstand heftiger Diskussionen.

Die Wirtschaft muß an diesem Meinungsbildungsprozeß mitwirken. In streitiger Auseinandersetzung unterschiedliche Interessen zu bündeln, sie aber eben immer auch am Gemeinwohl zu orientieren, wäre Ausdruck wirtschaftlicher Vernunft und nebenbei auch demokratischer Gesinnung. Dazu bedarf es starker Verbände wie der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Sie sind zentraler Partner des politischen wie wirtschaftlichen Diskurses in Deutschland. Ich freue mich deshalb, heute bei Ihnen zu sein und zu Ihnen zu sprechen.

Allerdings bin ich nicht gekommen, um Ihnen nur Freundlichkeiten und Poussierlichkeiten zu sagen und Kritik auf Abwesende zu konzentrieren. Das mag bei manchen zum politischen Komment gehören. Ich habe mir jedoch angewöhnt, wenn auch in den Abstraktionen Klartext zu reden.

II. Das schließt Anerkennung natürlich nicht aus. Im Gegenteil: Wer Kritisches anmerken will, darf auch die großen positiven Seiten nicht unerwähnt lassen. Ich wiederhole es deshalb immer wieder: Die Sozialpartner, Arbeitgeber wie Gewerkschaften, sind ein zentraler, pfleglich zu behandelnder, aber auch fortzuentwickelnder Standortfaktor für Deutschland. Arbeitgeberverbände sind insofern nicht nur für ihre Mitglieder wichtig. Sie haben gleichermaßen eine Funktion für die Wirtschaft insgesamt, für Staat und Gesellschaft, oder für das Gemeinwohl. Soziale Marktwirtschaft ist ohne funktionsfähige Sozialpartner, auch ohne starke Arbeitgeberverbände, nicht denkbar. Umgekehrt konnten nach meinem Eindruck Arbeitgeberverbände in der Vergangenheit die Ziele ihrer Mitglieder am besten in unserer sozial ausgerichteten Marktwirtschaft durchsetzen.

Es war eine kluge Entscheidung unserer Verfassung, die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen vor allem den Tarifparteien zu überlassen. Es entspricht nicht nur einem demokratischen Ansatz, sondern ist schlicht grundvernünftig, daß die Betroffenen ihre Angelegenheiten zunächst einmal selbst regeln sollen, bevor der Staat reguliert und ordnet. Da kommt nie etwas vernünftiges rum.

Tarifautonomie ist aber auch wegen ihrer friedensstiftenden Wirkung vernünftig. Bei aller Kritik an Verhandlungsritualen und auch an manchen konkreten Verhandlungsergebnissen: ich kenne keine andere Form des Interessensausgleichs, die ähnlich kluge Mechanismen enthält. Wer bei Tarifverhandlungen überzieht, wird meistens selbst sein erstes Opfer; denn die Einigung ist nur als Kompromiß möglich, der dann gegenüber den eigenen Mitgliedern mit den Argumenten des Tarifgegners verteidigt werden muß. Wer anfangs zuviel fordert oder verspricht, kann also später oft nicht auf Zustimmung zu einem - daran gemessen - mageren Ergebnis rechnen. In der Tarifpolitik muß man sich also auch den Kopf der anderen Seite zerbrechen, eine überaus segenreiche Pflicht!

III. Aber so erfolgreich das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg funktioniert hat: Die Sozialpartner, die Arbeitgeberverbände müssen jetzt auch seine Anpassung an neue globale Herausforderungen mitgestalten; sie dürfen sich im wirtschafts- und verbandsinternen Streit nicht aufgeben oder gar auflösen - im Interesse ihrer Mitglieder, aber auch im Interesse des Gemeinwohls.

Ich muß Ihnen nicht erklären, daß wir in einer sich immer rascher und gründlicher verändernden Welt leben. Ob Sie nun aus kleinen, mittleren oder großen Unternehmen kommen: Sie alle mußten sich mit dem Phänomen des weltweiten Wettbewerbs schon auseinandersetzen, als der Begriff der Globalisierung noch gar nicht erfunden war, noch in kaum einem Politikerkopf, geschweige denn in aller Munde war.

Unsere Unternehmen kommen mit den Herausforderungen der umfassenden Globalisierung überwiegend gut zurecht, manche die ganz schlauen sagen sogar zu gut. Denn sie können sehr viel schneller und flexibler als Regierungen und Arbeitnehmer reagieren. Auf die Frage, wie die deutschen Unternehmen die neuen Herausforderungen wirtschaftlich meistern sollen, will ich deshalb hier nicht eingehen. Die für mich entscheidende Frage lautet vielmehr: Welche weiterreichende Verantwortung - damit meine ich auch soziale, aber nicht nur soziale Verantwortung - wollen und können deutsche Unternehmen im globalen Wettbewerb überhaupt noch übernehmen, wenn nationale Loyalitäten für weltweit operierende Firmen immer weniger Bedeutung bekommen und der Begriff des "deutschen" Unternehmens zunehmend seinen Sinn verliert? In Deutschland bauen sie die Arbeitsplätze ab, und hier zahlen sie keine Steuern und dann soll ich sie mitnehmen auf meine Auslandsreise?

Diese Frage rührt generell an das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland: Eine Gesellschaft, die einerseits für die Arbeitslosen und Frührentner bezahlen muß, die bei der sicher notwendigen Verschlankung und Rationalisierung "freigesetzt werden". Die eine teuere, leistungsfähige Infrastruktur im Verkehr, in der Forschung, im Gesundheitswesen und in der Telekommunikation, um nur einige Bespiele zu nennen, auch dann vorhalten und finanzieren muß, wenn Unternehmen ihren Produktions- und Steuerstandort ins Ausland verlagern. Die andererseits aber auch - und das füge ich mit gleicher Deutlichkeit hinzu - für ihren Bestand und ihre Entwicklung auf eine rentable, prosperierende, international wettbewerbsfähige Wirtschaft angewiesen ist wie kaum jemals zuvor in unserer Geschichte.

Soziale Verantwortung und Einbindung in das Gemeinwesen waren für die Unternehmen zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders kaum ein Problem. Schon das Eigeninteresse gebot es, durch Vergünstigungen jenseits von Angebot und Nachfrage für eine loyale Belegschaft und für ein gewogenes und ausgewogenes Gemeinwesen zu sorgen. Heute sieht die Welt ganz anders aus. Nicht Arbeitskräfte sind rar, sondern Arbeitsplätze. Entlassungen gelten heute nicht mehr als Beweis für wirtschaftlichen Mißerfolg. Im Gegenteil: Zumindest für die Finanzmärkte sind sie heute eher Erfolgsausweis eines Unternehmens geworden. Nicht Sozialpflichtigkeit, sondern Gewinnmaximierung und Kapitalvermehrung gelten vielfach allein als der beste Weg in der Unternehmenspolitik.

Gewiß: Jedes Unternehmen muß zunächst einmal am Markt erfolgreich, innovativ, profitabel und effizient sein. Sonst kann es keine gesellschafts- oder sozialpolitische Funktion übernehmen. Ein Unternehmen, das sich im Wettbewerb nicht behaupten kann oder nur noch dank öffentlicher, von den Steuerzahlern getragener Subventionen überlebt, nützt letztlich niemanden.

Ich bin mir also wohl bewußt, daß kein Unternehmen ökonomischen Gesichtspunkten zuwiderhandeln kann. Aber bedeutet das, den Blickwinkel allein auf betriebswirtschaftliche Bilanzwerte zu verengen? Ist es für Unternehmen wirklich egal, in welchem Zustand sich die Gesellschaft befindet, in der sie produzieren und agieren? Bin ich hoffnungslos altmodisch, wenn ich von Unternehmern erwarte, nicht nur über shareholder value nachzusinnen, sondern auch darüber, wie Standorte erhalten werden können? Natürlich sind Standortverlegungen im Zeitalter der Globalisierung oft unvermeidlich, ja systemimmanent. Aber sind sie oft nicht lediglich auch nur der Weg des geringsten Widerstandes? Und gehört es wirklich zum Selbstverständnis des modernen Unternehmers diesen Weg zu gehen? Oder - zumindest - in öffentlichen Erklärungen so zu reden?

Natürlich ist eine Neuausrichtung unserer Unternehmen an globalen Finanzmärkten richtig und natürlich haben viele Unternehmen gute Gründe für ihr Auslandsengagement, das - ich sagte es schon - dem System entspricht und das ich voll bejahe. Aber schon im eigenen Interesse muß jedes langfristig planende Unternehmen auch andere Belange berücksichtigen. Denn auch die Globalisierung hat nichts an der Tatsache geändert: Die verantwortungsbewußte soziale Einbindung der Unternehmen in Deutschland zahlt sich ebenfalls aus. Loyale, zufriedene Mitarbeiter, ein Reservoir an qualifizierten Arbeitnehmern, ein gutes Betriebsklima, relativ wenige Streiks, eine leistungsfähige Infrastruktur machen eine langfristige, auch weltweit ausgerichtete Unternehmenspolitik vielfach erst möglich. Und manches nur auf Augenblicksvorteile gestütztes Engagement jenseits der Grenzen hat sich schon als teures Abenteuer erwiesen. Unsere Standortnachteile sind - mit Schwierigkeiten - korrigierbar - und manches ist hier schon geschehen - , aber unsere Standortvorteile sind bisher nirgendwo wirklich ersetzbar.

Lassen Sie mich noch einen Pluspunkt unseres Standorts nennen, dessen Erhaltung allerdings unserer gemeinsamen Anstrengung bedarf: Wir alle in Deutschland - Staat, Gesellschaft und Wirtschaft - profitieren immer noch von unserem weltweit vorbildlichen System der dualen beruflichen Bildung. Es liefert unseren Unternehmen einen ständigen Strom gutausgebildeter Fachkräfte. Hier haben wir alle eine große Verantwortung. Wenn die deutsche Wirtschaft, namentlich die Industrie, ihre Ausbildungsverpflichtung nicht mehr im bisherigen Umfang wahrnähme, zunehmend nach kurzfristigen Kostenüberlegungen entschiede und Ausbildungsplätze abbaute: Dann würde sie damit nicht nur unsere ausbildungswillige Jugend schädigen, sondern insgesamt die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und letztlich auch ihre eigenen Interessen.

Allerdings sind nicht nur die Industrie, sondern auch die Sozialpartner insgesamt und der Staat gefordert, das System der beruflichen Bildung in Deutschland zukunftsfähig zu erhalten. Es kommt darauf an, Ausbildungsordnungen flexibel und schnell an neue Herausforderungen anzupassen. Vor allem müssen für innovative Berufsbilder kurzfristig neue Ausbildungsordnungen geschaffen werden. Denn gerade dort entstehen - wenn überhaupt - die neuen Arbeitsplätze, die wir zur Überwindung unserer alarmierend hohen Arbeitslosigkeit brauchen.

IV. Der deutsche Verbändestaat ist immer noch relativ stabil, manche sagen sogar, er sei starr. Aber seit einigen Jahren "knirscht es sozusagen im Gebälk". Früher wurden als Begründung für die Mitgliedschaft Moral und Interesse gleichermaßen herangezogen: Orientierung am Gemeinwohl verbunden mit der Solidarität der Unternehmen zum Standort Deutschland: So lautete die ethische Begründung.

Solche Gründe reichen vielen Unternehmern heute nicht mehr aus. Die Interessen lassen sich - Sie selbst erleben es täglich - immer schwerer harmonisieren. Das wird von den Anhängern stabiler Verbände als wachsender Egoismus und Individualismus beklagt. Skeptiker des Verbändestaates begrüßen allerdings den Zugewinn an Freiheit und Unabhängigkeit. Ich gehöre nicht dazu.

Stimmen also die gesellschaftspolitischen Prozesse in unserem "Verbändestaat" noch? Sind die Verbände selbst Mitverursacher der wirtschaftlichen Probleme, die sie so vehement beklagen und deren Opfer sie nun auch selbst zu werden drohen? Kann der Individual- und Verbandsegoismus nicht auch ein Standorthindernis werden? Sind die Bürger, die Verbands- und Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland nicht oft reform- , innovations- , aber auch opferbereiter als ihre Vertreter, als Politiker, Verbandspräsidenten und Gewerkschaftsführer? Sind die Menschen in Deutschland nicht viel weiter, als ihren Verbandsführern von den Zentralen aufgeschrieben wird? Ich rede mit vielen Menschen in diesem Lande und habe gelegentlich diesen Eindruck.

Ich muß Ihnen die Symptome der heraufziehenden Verbandskrise nicht alle auflisten; Sie kennen sie selber aus eigener Erfahrung. Aber soviel ist richtig: Auch die Arbeitgeberorganisationen werden ihre Existenzberechtigung langfristig verlieren, wenn sie sich nicht den veränderten Gegebenheiten anpassen. Nicht nur die Gewerkschaften, gerade auch die Arbeitgeberorganisationen haben nach meinem Eindruck der zunehmenden Globalisierung und dem härter gewordenen Wettbewerb noch nicht ausreichend Rechnung getragen. Das Beharrungsvermögen der Verbände spiegelt sich vor allem in ihrer Ohnmacht gegenüber der wachsenden Zahl der Arbeitslosen wider. Und es reicht keineswegs aus, hierfür allein die Regierung und die jeweils andere Seite der Sozialpartnerschaft verantwortlich zu machen.

Ich möchte hier nicht mißverstanden werden: Ich bin keineswegs ein Gegner organisierter Verbandsinteressen. Im Gegenteil! Ich beobachte deshalb auch mit großer Sorge den Mitgliederverlust der Arbeitgeberverbände. Sie sind - ich habe es schon gesagt - ein wesentlicher Bestandteil des politischen Meinungsbildungsprozesses und sie haben in über 40-jähriger Tradition zur Konsensbildung beigetragen.

Sie behalten ihre Rechtfertigung aber nur, wenn sie den notwendigen Wandel erfolgreich mitgestalten und dabei auch die Interessen des Gesamten im Auge behalten. Hier haben wir, wenn ich recht sehe, - zumindest in den Reden - heute bereits fühlbaren Nachholbedarf.

V. Wir brauchen also gutfunktionierende, flexible, gemeinwohlorientierte Verbände, die ihren Beitrag zur Beantwortung der zentralen Fragen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels leisten können.

Hier drängt sich eine ganze Reihe von Fragen auf, beispielsweise: Welcher Mentalitätswandel ist in Wirtschaft und Gesellschaft erforderlich, damit wir die Zukunft nicht vorrangig als Gefahr, sondern zunächst einmal als Chance sehen? Wie können wir den Sozialstaat erfolgreich umbauen? Wo liegt die richtige Balance zwischen der ausgewogenen Verteilung von Anpassungslasten und den notwendigen positiven Wachstums- und Beschäftigungseffekten, die wir mit den Umbau- und Sparmaßnahmen erreichen wollen? Wie kann vor allem der mittel- und langfristig positive Effekt von Veränderungen gegenüber kurzfristig belastenden Wirkungen stärker in das öffentliche Bewußtsein gerückt werden? Wie können überhaupt die Belange der künftigen Generationen im kurzfristig und wahlterminorientierten Prozeß der Gegenwart ausreichend zur Geltung kommen - z. B. in der Rentenpolitik, in der Umweltpolitik oder bei der Staatsverschuldung? Was sind schließlich die wesentlichen Merkmale und Voraussetzungen einer zukunfts- und gemeinwohlorientierten Praxis der Tarifautonomie?

Zu allen diesen Fragen sind die Verbände der Wirtschaft gefordert. Ihre Hauptverantwortlichkeit als Arbeitgeber betrifft vor allem die Fortentwicklung der Tarifautonomie in Deutschland. Oberstes Ziel muß hier neben der Stärrkung der wirtschaftlichen Fähigkeit ein spürbarer Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland sein. Bei aller Bedeutung der staatlich gesetzten Rahmenbedingungen: Wenn die Tarifparteien diese Aufgabe nicht ebenfalls leisten, gerät die Tarifautonomie und damit unser gesamtes Gesellschaftssystem in eine schwere Legitimationskrise. Arbeitsbeschaffung muß deshalb auch für die Sozialpartner für die nächsten Jahre zu einem wirklichen Imperativ werden.

Wenn alles gut läuft, ist die aktuelle Schwäche der Tarifparteien für den Standort Deutschland keine Bedrohung, sondern vielmehr eine Chance. Der Außenwettbewerb der Unternehmen zwingt die Arbeitgeberverbände dazu, sich auf die ureigenen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu besinnen. Der Druck der Arbeitnehmer in den Betrieben und der Arbeitslosen legt auch den Gewerkschaften neue Prioritäten nahe. So kann, wenn wir nur wollen, die Krise zur Chance für die Zukunft werden.

Ich bin zuversichtlich, daß die Tarifparteien diese Aufgabe letztlich schaffen werden. Ich registriere für wirkliche Veränderungen erfreulicherweise auf beiden Seiten - bei den Arbeitgeberverbänden wie bei den Gewerkschaften - zunehmende Offenheit und Bereitschaft. Sie werden sie allerdings nicht meistern, wenn sie - wie es oft geschieht - sich auf plakative Formulierungen und Forderungen beschränken, die für die jeweilige Gegenseite unakzeptabel sind und damit letztlich nur den Status quo stabilisieren. Wer wirklich an Veränderungen interessiert ist, gerade der muß die ungeschriebenen Regeln unserer gewachsenen Konsens- und Abstimmungskultur beachten, im eigenen und im Gesamtinteresse.

Vielen Dank!