Redner(in): Horst Köhler
Datum: 25. Oktober 2006
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/10/20061025_Rede2.html
Ich freue mich darüber, dass es zu diesem Abend gekommen ist, dass meine Frau und ich Sie einladen dürfen zu einem Essen - um Sie zu ehren und gemeinsam zu feiern.
Ihr Geburtstag, Herr Lenz, der ursprüngliche Anlass für diese Einladung, liegt nun schon ein paar Monate zurück. Ich wollte es mir aber nicht nehmen lassen, einen der ganz Großen der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte hier in Schloss Bellevue persönlich zu ehren. Persönlich meint aber in diesem Fall auch ganz bewusst "amtlich". Als Bundespräsident habe ich Sie eingeladen - und ich will dadurch zum Ausdruck bringen, dass Sie, dass Ihr Werk und Ihre Lebensleistung, für unseren Staat und seine Entwicklung bedeutsam waren und sind.
Unter den Schriftstellern, die sich immer wieder auch in öffentliche Dinge und Diskussionen eingemischt haben, sind Sie, wenn ich es richtig sehe, eine ganz besondere Erscheinung, ein Typus ganz eigener Art, wenn ich so sagen darf.
Weder sind Sie, nach der Unterscheidung, die Thomas Mann einmal getroffen hat, ein Märtyrer, noch ein Repräsentant. Sie haben sich auch nicht als eine moralische Großinstanz verstanden oder gar als ein "praeceptor germaniae" aufgeführt. Und auch die kokette Selbstbeschreibung als "Störenfried", die mancher Kollege gern auf sich bezieht, ist Ihnen fremd.
Vor mehr als dreißig Jahren haben Sie, verehrter Herr Lenz, meinen Vorgänger Gustav Heinemann in einer Rede einmal einen "Bürger als Präsident" genannt. Vielleicht darf ich das heute, einige Präsidentengenerationen später, einmal zurückgeben und Sie als einen, vielleicht sogar als den "Bürger als Schriftsteller" bezeichnen.
Bürger als Schriftsteller - das bedeutet, dass Sie sich verstanden haben als einer, der mitverantwortlich ist für die demokratische Gesellschaft und ihre Lebendigkeit. Wolf Lepenies hat vor gut zwei Wochen in seiner Friedenspreisrede gesagt: "Ansteckend kann die Demokratie nur wirken, wenn Sie nicht routiniert betrieben [...] , sondern wenn sie von uns mit Enthusiasmus gelebt wird."
Das trifft auf ihre Art des Engagements auch zu. Ihr Enthusiasmus - Ihr nüchterner Enthusiasmus - gilt der Demokratie, der Tag für Tag verbesserungsfähigen Gesellschaft - und keinen Wunschträumen nach Vorgestern oder Übermorgen.
Bei Ihren politischen Reden und Aufsätzen hat man immer den Eindruck, dass Sie mit großer Nüchternheit und - ja - mit gesundem Menschenverstand an die Dinge herangehen. Da wird klug argumentiert - aber nie geklügelt. Da wird sehr entschieden plädiert - aber nie lautstark gepoltert. Sie streben nicht Brillanz an, sondern Genauigkeit. Das gefällt mir sehr. Man hat nie den Eindruck, hier wolle jemand fehlenden Sachverstand durch Meinungsstärke und Gesinnungstreue ausgleichen. Das soll es ja auch gelegentlich geben...
Ihr im besten Sinne bürgerliches Engagement hat Sie gelegentlich in die Nähe der Politik und in die Nähe der Macht geführt. Ihre Freundschaft mit Helmut Schmidt hat bis heute Bestand. Aber das hat Sie nie dazu geführt, die Bereiche zu verwechseln. Kunst und Politik sind aufeinander bezogen, aber nicht miteinander zu verwechseln. Einen entscheidenden Unterschied haben Sie selber einmal klar formuliert: "Unbedingte Kompromisslosigkeit: das ist ein Prinzip der Kunst. Es ist klar, dass dieses Prinzip nicht auf die Politik übertragen werden kann, in der Kompromissbereitschaft viel bedeutet. Was aber die Kunst vermag, das ist: an Maßstäbe zu erinnern, die auch in der Politik gelten sollen."
Die schriftstellerische Kunst, so schreiben Sie, hat die Aufgabe, zu kritisieren, indem sie darstellt, und sie kann auf das Mögliche verweisen, indem sie das Wirkliche beschreibt. Und - so schreiben sie auch - "es war immer eine Aufgabe der Literatur, sich des leidenden und ratlosen Menschen anzunehmen, darzustellen, was ihn machtlos, verzweifelt und unversöhnt sein lässt in der Welt."
Das haben Sie getan - und dann doch auch noch unendlich viel mehr. Kunst vermag ja auch, ganze Welten zu erfinden - oder verlorene Welten wieder auferstehen zu lassen. Auch dafür - und dafür ganz besonders - stehen Sie in den Augen Ihrer vielen Leser in der ganzen Welt.
Wie Millionen anderer haben Sie nach dem Kriege Ihre Heimat verloren: Ostpreußen, Masuren. Sie haben dieser Ihrer Heimat in Ihrer Literatur unzerstörbare Denkmäler gesetzt. Kritische, liebenswürdige, melancholische und heitere Denkmäler. Eine Welt, die in der Literatur geborgen ist, geht nicht ganz verloren. Am Ende Ihres großen Romans "Heimatmuseum" steht der wunderbare Satz, der so etwas wie die Ermöglichung aller Literatur beschreibt: "Schon aber regt sich das Gedächtnis, schon sucht und sammelt Erinnerung in der unsicheren Stille des Niemandslands."
Ganz zu Beginn habe ich den diesjährigen Friedenspreisträger zitiert. Sie selber, verehrter Herr Lenz, sind bereits 1988 mit dem Friedenspreis ausgezeichnet worden - und zweimal haben Sie in der Paulskirche eine Laudatio gehalten: auf die Preisträger Manès Sperber und Amos Oz.
Eine Passage aus Ihrer Ansprache von 1988, der Sie die Überschrift "Am Rande des Friedens" gegeben hatten, und in der Sie vom äußeren, aber auch vom inneren Frieden des Menschen sprachen, möchte ich zum Schluss zitieren: Der Friede bestimmt sich auch als einen Zustand, in dem es
ebenso ein Recht auf Hoffnung für alle gibt wie die Pflicht zur Verantwortung für das, was ist, und für das, was war. Verantwortung sagt [...] , dass uns etwas anvertraut ist. Es kann der Nächste sein, der Schwächere, der Verirrte; es kann aber auch eine Erkenntnis sein oder das Wasser, von dem wir leben, oder die eigene Geschichte. Für das Anvertraute müssen wir einstehen, auf welche Probe es uns auch stellt."
Verehrter Herr Lenz, noch einmal: Meine Frau und ich freuen uns, dass Sie uns heute Abend die Ehre geben. Einige Ihrer Freunde, Kollegen und Weggefährten sind dabei und ich hoffe, wir werden einen schönen, herzlichen und bereichernden Abend erleben.
Erheben wir unser Glas auf Siegfried Lenz, der sich um die deutsche Literatur und um unser Land verdient gemacht hat.