Redner(in): Horst Köhler
Datum: 29. Oktober 2006

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/10/20061029_Rede.html


1836 kaufte die preußische Regierung für stattliche 10.000 Mark den Drachenfels bei Königswinter am Rhein. Damit ersparte sie dem Berg samt seiner malerischen Burgruine das Schicksal als Steinbruch für den Weiterbau des Kölner Doms. Das war - vor 170 Jahren - nicht etwa ein vorweggenommenes Stück Kulturkampf, sondern die erste staatliche Naturschutzmaßnahme in Deutschland.

Zugegeben: Dem preußischen Staat ging es damals nicht um den Lebensraum von Kreuzkröte, Uhu oder Knabenkraut. Es ging vielmehr um den Erhalt einer reizvollen und märchenhaften Landschaft - es war die große Zeit der Rheinromantik. Und dennoch markiert das Jahr 1836 eine bedeutende Erkenntnis: Dass nämlich natürliche Landschaften als Lebensräume für seltene Pflanzen und Tiere ebenso schützenswert sein können wie Kulturdenkmäler. 70 Jahre später machte der Staat den Naturschutz und die Landschaftspflege zu seiner eigenen Verwaltungsaufgabe: Als der Botaniker Hugo Conwentz damals in Danzig die "Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege" einrichtete - mit immerhin schon drei Planstellen - , da war das - auch weit über Deutschland hinaus - etwas wirklich Neues.

Was seitdem getan und erreicht worden ist, lässt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Jubiläen ablesen, die wir allein in diesem Jahr feiern konnten: 100 Jahre staatlicher Naturschutz in Deutschland, 50 Jahre Naturparkprogramm, 30 Jahre Bundesnaturschutzgesetz, 20 Jahre Bundesumweltministerium, und nicht zu vergessen: 15 Jahre Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Eine stattliche Reihe von Festtagen, die zeigt: Der Umweltschutz, die Pflege und Bewahrung der Schöpfung und unserer natürlichen Lebensgrundlagen haben in Deutschland gute Tradition. Eine Tradition, auf der wir aufbauen können.

Tausende Naturschutzgebiete sind heute in Deutschland ausgewiesen, außerdem 14 Nationalparke, ebenso viele Biosphärenreservate und über 90 Naturparke. Zusammen machen sie über ein Viertel der Fläche unseres Landes aus. Was für eine Schatzkammer wir damit haben, davon konnte ich mir in diesem Jahr bei meinen Besuchen in den Naturparken Feldberger Seenlandschaft, Uckermärkische Seen und Hohes Venn - Eifel selbst ein Bild machen. Es gehört für mich zu den zentralen Aufgaben einer zukunftsorientierten Politik, diese Schatzkammer, das reiche Naturerbe unseres Landes für unsere Kinder und Enkel zu bewahren.

Und darum begrüße ich es, dass die Bundesregierung zur Sicherung des nationalen Naturerbes 125.000 Hektar Naturschutzflächen unentgeltlich in eine Bundesstiftung einbringen oder an die Länder übertragen will. Ich wünsche mir sehr, dass die künftigen Träger des nationalen Naturerbes - darunter auch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt - aus diesem Geschenk etwas machen.

Besonders freut es mich, dass mit diesem Angebot nun endlich auch die Idee des "Grünen Bandes" verwirklicht werden kann. Gut vierzig Jahre lang teilte eine breite Wunde Ost- und Westdeutschland: die tödlichen Sperr- und Grenzanlagen der DDR. Es gab brutale Eingriffe in die Natur - freies Schussfeld, Minengürtel, Todesstreifen und Sperrzäune. Aber es gab auch menschenleeres Niemandsland, in dem sich die Natur ungestört entfalten konnte. Inzwischen hat sie sich längst zurückgenommen, was früher zubetoniert, umgepflügt oder vermint war. Die Wunde der Teilung hat sich geschlossen, und Deutschland ist verbunden durch ein Grünes Band von der Ostsee bis zum Bayerischen Wald. Es ist gut, dass dieses natürliche Band nun dauerhaft erhalten werden kann.

Freilich will ich über all dem Positiven nicht verhehlen: Natürlich gibt es auch Interessengegensätze und Konflikte. Zuletzt hat die Auswahl der Schutzgebiete für den europäischen Biotopverbund "Natura 2000" an vielen Orten für Verunsicherung gesorgt. Allein das Wort "FFH-Gebiet" - so der wenig verheißungsvolle Fachausdruck für die "Flora-Fauna-Habitat" -Schutzgebiete - war schon geeignet, heftige Abwehrreaktionen hervorzurufen. Die Meldung der erforderlichen Gebiete erwies sich denn auch für die Bundesländer als ein wahrer Kraftakt, der erst im Februar dieses Jahres abgeschlossen werden konnte. Ich habe mir sagen lassen, dass bei diesem Ergebnis am Ende Bund und Länder konstruktiv zusammengewirkt haben. Das freut mich und ich danke allen, die dazu beigetragen haben.

Das Beispiel "Natura 2000" zeigt: Naturschutz ohne jeden Widerstand wird es wahrscheinlich nur selten geben. Umso wichtiger ist es, mit den Betroffenen frühzeitig ins Gespräch zu kommen, sie umfassend zu informieren und - wo immer möglich - kooperative Lösungen anzustreben. Naturschutz bedeutet eben nicht immer Auflagen und Ordnungsrecht. Freiwillige Maßnahmen wie Agrarumweltprogramme oder Vertragsnaturschutz sind oft sehr effizient. Auf jedem dritten Hektar wirtschaften die deutschen Landwirte heute bereits freiwillig unter speziellen Umweltschutzauflagen. Naturschutz braucht Verbündete. Und am besten ist es, wenn anfängliche Gegner zu überzeugten Verbündeten werden.

Dabei zählt auch, dass Naturschutz zunehmend ein Wirtschaftsfaktor ist. Studien belegen, dass Naturschutz gerade auch in strukturschwachen Regionen Einkommen und Arbeitsplätze schafft. Biosphärenreservate und Naturparke ziehen Millionen Touristen an, die auch Geld mitbringen. An der Müritz zum Beispiel ließen 2004 die Besucher des Nationalparks über 13 Millionen Euro in der Region und halfen damit, rund 630 Arbeitsplätze zu sichern. Als Geheimtipp für viele Naturfreunde gelten inzwischen übrigens die Seenlandschaften in den früheren Braunkohletagebauen, etwa in der Lausitz oder in Bitterfeld.

Ich finde es daher gut, dass sich unsere Großschutzgebiete unter der Dachmarke "Nationale Naturlandschaften" zusammengeschlossen haben und kräftig für sich werben. Ich würde mich freuen, wenn diese Aktion dazu beiträgt, dass noch mehr Menschen Lust darauf bekommen, die Naturschönheiten Deutschlands in ihrem Urlaub oder bei Tagesausflügen zu erkunden: Denn Natur, die wir Menschen wirklich erleben, lernen wir besonders schätzen und schützen.

Besonders freut mich übrigens, dass bei der Gestaltung von Naturparks immer mehr auch an Menschen mit Behinderungen gedacht wird. So bietet zum Beispiel der Naturpark Hohes Venn - Eifel viele barrierefreie Wander- und Erholungsmöglichkeiten. Meine Frau und ich sind dort in der vergangenen Woche zusammen mit Rollstuhlfahrern gewandert. Das war ein schönes Erlebnis, bei dem wir gespürt haben, wie wichtig es ist, dass auch Menschen mit Behinderungen am Naturerlebnis teilhaben können.

Seit 100 Jahren ist der Naturschutz Aufgabe des Staates. Das muss er auch weiterhin bleiben. Und zwar nicht als lästiges Anhängsel, um das man sich - je nach Kassenlage - mal mehr, mal weniger kümmert. Naturschutz ist kein Luxus, Naturschutz ist eine Zukunftsaufgabe!

Eine Zukunftsaufgabe, für die es seit der Föderalismusreform neue verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen gibt. Endlich ist der Weg frei für ein bundesweites Umweltgesetzbuch. Auch die Länder erhalten neue Gestaltungsspielräume. Künftig werden sie im Naturschutz- , Wasser- und Verfahrensrecht vom Bundesrecht abweichen können. Ich vertraue darauf, dass die Länder diese neu gewonnene Kompetenz verantwortungsvoll nutzen. Mit einem Wettbewerb um die niedrigsten Umweltstandards ist der Zukunftsfähigkeit unseres Landes ebenso wenig gedient wie mit einem investionsfeindlichen Flickenteppich unterschiedlichster Regelungen.

Naturschutz ist Aufgabe des Staates, aber sie ist nicht allein eine Staatsaufgabe. Naturschutz lebt in ganz besonderer Weise vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Organisiert in Initiativen, Projekten oder Verbänden tragen sie alle maßgeblich zum Erfolg der Umweltpolitik in Deutschland bei. Auf bis zu 180.000 wird die Zahl der ehrenamtlich aktiven Naturschützer geschätzt. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank: Unser Land braucht Menschen wie Sie!

Von zwei großen Naturschützern mussten wir in diesem Jahr Abschied nehmen. Professor Wolfgang Engelhardt und Heinz Sielmann haben beide, jeder auf seine Weise, den Naturschutz in Deutschland maßgeblich geprägt und sich damit um unser Land verdient gemacht. Wir werden sie nicht vergessen. Sie werden uns Vorbild bleiben.

Zum dritten Male nun bin ich als Bundespräsident bei der Preisverleihung der Bundesstiftung Umwelt. Und das gern und aus Überzeugung. Denn der Deutsche Umweltpreis ist ja gewissermaßen das Flaggschiff der vielen Aktivitäten der Stiftung. Mit ihrer Arbeit fördert sie nicht nur Projekte, sondern auch das öffentliche Bewusstsein dafür, dass Nachhaltigkeit Gewinn bedeutet. Dazu will auch ich gerne beitragen. Darum möchte ich im Juni nächsten Jahres eine von Bundespräsident Johannes Rau begonnene Tradition fortsetzen und in Berlin Gastgeber einer Woche der Umwelt sein. Das Kernstück dieser Woche der Umwelt im Park von Schloss Bellevue wird eine Leistungsschau der deutschen Umwelttechnik und Umweltforschung sein. Herzlichen Dank schon heute Ihnen, lieber Herr Brickwedde, dem Kuratorium und der Geschäftsstelle der Bundesstiftung für die gewohnt tatkräftige Unterstützung.

Ich möchte auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Osnabrück danken für die Arbeit, die sie leisten. Sie haben die Deutsche Bundesstiftung Umwelt in den 15 Jahren seit ihrer Gründung zu dem gemacht, was sie heute ist: Eine tragende Säule deutscher Umweltpolitik. Zu Ihrem Jubiläum meinen herzlichen Glückwunsch und meine besten Wünsche für die nächsten 15 Jahre!

Übrigens: Der Kölner Dom konnte - wie wir alle wissen - trotz der Naturschutzmaßnahme, die den Drachenfels gerettet hat, weitergebaut werden. Heute ist er nicht nur ein bedeutendes Kulturdenkmal, sondern auch Brutplatz für den seltenen Wanderfalken. Als ich das las, musste ich an einen Satz des britischen Philosophen Bertrand Russell denken, den ich nicht nur als Feststellung, sondern durchaus als Mahnung verstehe: "Der Mensch ist ein Teil der Natur und nicht etwas, das zu ihr im Widerspruch steht."