Redner(in): Horst Köhler
Datum: 22. November 2006
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2006/11/20061122_Rede2.html
Tief im Westen "- so beginnt eine Hymne des Ruhrgebiets, so beginnt" Bochum ". Keiner singt das so wie Herbert Grönemeyer; aber jeder, der ihm dabei zuhört, versteht gleich: Bochum ist was Besonderes. Ich freue mich, wieder einmal hier zu sein; ich gratuliere der Industrie- und Handelskammer Bochum zu ihrem stattlichen Jubiläum; und ich bin dankbar für die Gelegenheit, bei dieser Vollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zu sprechen.
Es tut sich was in Deutschland: Das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr kann sich sehen lassen; vor allem die Industrie erlebt einen Konjunkturschub; die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten wächst. Die Steuerschätzungen konnten endlich einmal nach oben korrigiert werden, und das Haushaltsdefizit ist gesunken.
Die deutschen Unternehmen nutzen die Chancen des europäischen Binnenmarktes und des globalen Wettbewerbs. Ihre Produkte und Dienstleistungen sind weltweit gefragt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hierzulande leisten Hervorragendes. Auch die maßvolle Lohnentwicklung hat dazu beigetragen, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze zu sichern.
Und noch etwas Wichtiges zeigt die aktuelle Entwicklung: Der Weg, den Deutschland seit einigen Jahren geht - flankiert von der Stabilitätspolitik der Europäischen Zentralbank - , dieser Weg der Reformen beginnt, sich bezahlt zu machen. Die Rentenreform mit Einführung der "Riester-Rente", die Senkung der Einkommen- und Körperschaftsteuer, der Abbau von Subventionen, das klare Bekenntnis zur Rückführung von Haushaltsdefiziten, die Modernisierung der Arbeitsvermittlung und der Paradigmenwechsel beim Arbeitslosengeld haben sich gelohnt. Darum ist es vernünftig und geboten, entschlossen auf dem eingeschlagenen Reformkurs voranzugehen.
Denn so erfreulich die aktuelle Entwicklung auch ist: Es wäre ein Fehler, bloß auf die positive Seite der Bilanz zu sehen. Gemessen an den strukturellen Ursachen mangelnder Wirtschaftsdynamik und hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland sind wir noch nicht weit genug gekommen. Vor allem die Langzeitarbeitslosen und ihre Familien profitieren kaum von den positiven Entwicklungen der letzten Monate. Und die Herausforderungen an uns werden ja nicht kleiner.
Beispielsweise liegt beim "Exportweltmeister" Deutschland der Anteil der hochwertigen Dienstleistungen am Gesamtexport deutlich unter den Vergleichswerten anderer Industrieländer. Auch in einigen wissensintensiven Industriebranchen ist unsere Weltmarktposition relativ schwach.
Und dazu passt leider auch das Ergebnis einer aktuellen Umfrage. Demnach verzichten 41 Prozent aller deutschen Mittelständler vollständig auf Innovationen, und die meisten nutzen das Innovationspotenzial ihrer Mitarbeiter wenig bis gar nicht. Zwar wissen von den Unternehmern mit Auslandserfahrung immerhin schon zwei Drittel zu schätzen, dass immer neue Produkte und Verfahren ein wichtiger Wettbewerbsvorteil sind, und die Mehrzahl pflegt die Zusammenarbeit mit Universitäten und Forschungseinrichtungen. Aber offenbar hat es sich immer noch nicht bei allen herumgesprochen: Bald wird der größte Teil unserer Arbeitsplätze auch mit dem Ausland in Wettbewerb stehen. Spätestens dann kann unser aller Devise nur lauten: Wir müssen mindestens so viel besser und erfinderischer sein, wie wir teurer sind!
Wenn wir Deutschland auf Dauer im internationalen Wettbewerb nachhaltig nach vorn bringen und die Arbeitslosigkeit zum Beispiel auf das Niveau Großbritanniens ( rund 5,5 % ) zurückführen wollen, müssen wir vor allem unsere Wachstumsbasis verbessern - quantitativ und qualitativ. Beim Wachstum des Produktionspotenzials liegt Deutschland seit Jahren deutlich unter dem Durchschnitt der EU-Länder und erst recht der OECD-Staaten. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Leistung hat mehr als einmal ausführlich dargelegt, woran das liegt: Die Wachstumstreiber heißen Bildung sowie Forschung und Entwicklung, Innovation, private und staatliche Investitionen. Die Wachstumsbremsen heißen direkte Steuer- und Abgabenlast, Lohnnebenkosten, Staatsverschuldung und staatliche Konsumausgaben, Überregulierung und strukturelle Arbeitslosigkeit. Und auch die demographische Entwicklung macht sich hier schon bemerkbar. Mit anderen Worten: Es liegt noch viel Arbeit vor uns.
In entwickelten Volkswirtschaften wie der unseren sind das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen der entscheidende Wachstumsfaktor und die wichtigste Voraussetzung für Wohlstand und Beschäftigung. Darum ist es auch ökonomisch so wichtig, dass wir den Grundsatz "Bildung für alle" verwirklichen. Zurzeit jedoch ist unser Bildungswesen im internationalen Vergleich bestenfalls Mittelmaß. Außerdem - und das finde ich besonders beschämend - hängt bei uns der Bildungserfolg nicht allein von den Leistungen und Fähigkeiten ab, sondern auch von der sozialen Herkunft: Die Chancen eines Kindes aus einer Facharbeiterfamilie, aufs Gymnasium zu kommen, sind viermal niedriger als die des Kindes eines Akademikerpaares. Und obendrein liegen unsere öffentlichen Bildungsinvestitionen deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder - wobei der Abstand seit Jahren zunimmt. Kurz gesagt: In diesen Zeiten des Geburtenrückgangs und der zunehmenden Alterung der Bevölkerung aasen wir ausgerechnet mit dem wichtigsten Schatz, den wir überhaupt haben - mit den Talenten, der Leistungsfähigkeit und mit den Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen in unserem Land.
Dabei stehen die Probleme des deutschen Bildungswesens in Wechselwirkung mit zwei weiteren entscheidenden Aufgaben, denen wir bislang nicht gerecht werden: Das sind die gesellschaftliche Integration von Zuwanderern und die Integration von Menschen, die zwar erwerbsfähig sind, die aber unter den herrschenden Bedingungen keine Chance oder keinen Anreiz mehr sehen, auskömmliche Arbeit zu finden.
Wir haben in den vergangenen Wochen eine heftige Debatte erlebt, die sich an dem Schlagwort "Unterschicht" festbiss. Manche fanden vor allem diese Bezeichnung empörend. Ich finde: Das eigentlich Empörende sind die Fakten, die dahinter stehen: Langzeitarbeitslosigkeit von Millionen, keine oder schlechte Ausbildung und mangelnde Integration. Das sind gleichzeitig auch die Hauptursachen von Armut in Deutschland. Diese Probleme sind nicht über Nacht entstanden, sondern das Ergebnis von Fehlern und Versäumnissen über Jahrzehnte.
Die Debatte brachte ans Licht, wie viele Menschen in Deutschland sich "aussortiert" fühlen; ja dass viele Transferempfänger inzwischen gar nicht mehr den Anspruch haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sich Ziele zu setzen und sich ins Zeug zu legen,"weil doch die eigenen Kinder es einmal besser haben sollen". Nun sind viele erschrocken. Aber wenn sie sich mit Lehrerinnen und Lehrern unterhalten hätten, die an Schulen in sozialen Brennpunkten unterrichten, dann hätten sie schon längst tiefe Einblicke tun können in den Alltag von Familien, die seit Jahr und Tag von staatlichen Transferleistungen leben; genauso wie sie tiefe Einblicke in den Alltag von Zuwandererfamilien hätten tun können, denen zur Eingliederung in unsere Gesellschaft jenseits von Sozialleistungen nicht viel geboten wurde. Und unser unterfinanziertes Bildungswesen schafft es einfach nicht - trotz des beeindruckenden Einsatzes ungezählter Lehrerinnen und Lehrer - wenigstens den Kindern aus solchen Familien durch Bildung und Erziehung den Weg zu einer besseren Lebensperspektive zu bahnen.
Spätestens an dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein: Wie wirksam und hilfreich ist unser Sozialstaat eigentlich? Bei der Suche nach einer Antwort dürfen wir auch unbequemen Erkenntnissen nicht ausweichen. Einige ziemlich wichtige finden sich in einer Studie "zur Sozialen Lage in Europa", die vor kurzem die Hans Böckler Stiftung veröffentlicht hat. Da rangiert Deutschland beim Ausgabenumfang unter den 25 EU-Mitgliedstaaten auf Platz 4, weil es besonders viel von seiner Wirtschaftsleistung für den sozialen Schutz ausgibt, rund ein Drittel nämlich. Bei der Teilhabe von gering qualifizierten Menschen an der Arbeitswelt - sprich bei den Jobs für Ungelernte - liegt Deutschland auf einem miserablen Platz 22, und ebenso schlecht stehen wir beim Anteil der Langzeitarbeitslosen da. Bei den Bildungs- und Ausbildungschancen liegen wir auf Platz 18, bei der Armutsgefährdung für Frauen auf Platz 21 und bei der Verteilung von Lasten und Chancen zwischen Jung und Alt auf Platz 23. Am Ende haben die Wissenschaftler eine Gesamtbewertung vorgenommen. Danach rangiert Deutschland hinsichtlich seiner sozialen Lage weit hinten, auf Platz 21. Nur beim Umfang der Ausgaben gehören wir zur Spitze. Im Klartext heißt das: Unser Sozialstaat ist zwar teuer, aber nicht besonders wirkungsvoll. Wir geben mehr für die soziale Sicherung aus als die meisten anderen europäischen Länder, aber wir erreichen viel weniger als sie.
Meine Schlussfolgerung aus solchen und anderen Studien ist: Wir müssen lernen, genauer hinzuschauen. Gefragt sind überzeugende Analysen; Konzepte, die auch über den nächsten Wahltermin hinausreichen, und das entsprechende Handeln. Mir begegnen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer noch viele Selbstbeschreibungen, Leitbilder und Vorschläge, die geistig tief im 19. Jahrhundert verhaftet sind, in der Zeit der Nationalökonomie und der klassischen Trennung von Staat und Gesellschaft. Diese Vorstellungen sind gedanklich überholt und werden der Wirklichkeit nicht mehr gerecht. Aber sie prägen weiterhin das Denken und Handeln. Zugleich wird oft nicht genau genug hingehört, wenn die Leute ihre Probleme schildern, wird nicht unvoreingenommen genug nach den Ursachen gefragt und wird auch nicht ernsthaft genug versucht, an die Vernunft und an die Selbständigkeit der Menschen zu appellieren und ihnen etwas zuzutrauen und zuzumuten - die Wahrheit zum Beispiel und die - auch süße - Last, sich selber anzustrengen, statt immer mehr auf staatliche Transfers angewiesen zu sein.
Was in der politischen Kommunikation, Analyse und Praxis schief läuft, lässt sich am Beispiel der Verunsicherung zeigen, die so viele Menschen empfinden. Diese Verunsicherung hat unterschiedliche Quellen und Formen, denn die Erfahrungen und Lebenslagen der Leute sind ja auch ganz unterschiedlich. Aber es klingt viel Gemeinsames heraus. Zum Beispiel sind bei vielen Arbeitslosen Sätze zu hören wie: "Es kommt bei uns in Deutschland auf den einzelnen nicht mehr an." "Man wird einfach zum alten Eisen geworfen." "Wir werden zu nichts mehr gebraucht, wir sind bloß noch Nummern." Und manche junge Leute fragen bereits: "Warum soll ich etwas lernen? Ich werd ' ja eh Hartz IV!" Das zeigt: Da macht sich Zweifel breit, ob in unserer Demokratie und in der sozialen Marktwirtschaft wirklich der Mensch im Mittelpunkt steht, und da wird auch am Zusammenhang zwischen Leistung und Erfolg gezweifelt.
Und die Menschen erleben immer wieder, dass Unternehmen trotz guter Auftrags- und Ertragslage Personal abbauen, ja dass Rekordgewinne mit Massenentlassungen einhergehen. Dadurch - so Renate Köcher vom Institut Allensbach - löst sich die Überzeugung auf, dass sich die Chancen der Wirtschaft und der Bevölkerung im Gleichklang entwickeln. Bisher habe Konsens geherrscht: Wenn die Wirtschaft floriert, dann geht es allen gut. Diese Überzeugung wanke. Nicht zuletzt deshalb äußern immer mehr Menschen, auch die in gehobenen Positionen, Angst vor Arbeitslosigkeit - oder um genauer zu sein: die Furcht, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und dann keinen neuen zu finden. Und von den politisch Verantwortlichen erhofft man sich offenbar nicht mehr viel: Selbst in diesen Zeiten des Aufschwungs bleiben bislang die Zustimmungs- und Vertrauenswerte der Parteien tendenziell im Keller. Anscheinend verstehen viele Bürger das ganze politische Treiben oft nicht einmal mehr. Und bei der bekannten Bielefelder Langzeitstudie finden inzwischen knapp 74 % der Befragten aus unterer Soziallage und 62 % aus mittlerer Soziallage, es sei in unserer Gesellschaft mittlerweile "alles so in Unordnung geraten, dass man nicht mehr weiß, wo man eigentlich steht." Alles das sind Anzeichen von Orientierungslosigkeit und gesellschaftlicher Desintegration.
Zusammengefasst: Für viele Menschen ist die Überschaubarkeit der Verhältnisse verloren gegangen; sie finden die herrschenden Zustände nicht mehr "in Ordnung"; es mangelt ihnen an belangvoller Teilhabe am Alltag; sie finden es schwer, sich auf die vielen Veränderungen einzustellen; und sie fragen bang: Welchen Platz werde ich wohl finden können in der schönen neuen, globalisierten Welt?
Und diese Zukunftsängste haben längst auch die Mittelschicht erreicht. Viele Facharbeiter, Freiberufler, Mittelständler und Angestellte müssen schon seit längerem mit stagnierenden Nettoeinkommen zurechtkommen, und sie fürchten, dass ihre Arbeitsplätze vom weltweiten Wettbewerb und Strukturwandel bedroht sind und ihnen womöglich ein sozialer Abstieg bevorsteht. Das ist übrigens nicht allein hier bei uns so: In allen westlichen Industriestaaten ist die Mittelklasse in Sorge und wünscht sich Klarheit darüber, wie es weitergeht und was getan werden kann, um den Gestrandeten Antrieb zu geben, den Enttäuschten Hoffnung und den Besorgten Zuversicht.
Doch wir müssen aufpassen: Aus alledem sprechen stärker immaterielle als materielle Bedürfnisse. Die meisten Bürger hungern nicht nach mehr Brot, sondern nach Sinn. Darum bin ich überzeugt: Den Ursachen ihrer Verunsicherung lässt sich nicht mit einer erneuten Ausweitung des betreuenden und nachsorgenden Sozialstaates beikommen, wie wir ihn kennen und wie er unter hohen Kosten mehr schlecht als recht funktioniert - siehe europaweiter Vergleich. Im Gegenteil: Mehr bloße Versorgung und Verwaltung droht nur in noch mehr Abhängigkeit und Immobilität zu führen und in noch mehr soziale Exklusion, Apathie und politisches Desinteresse. Wir brauchen den investiven Sozialstaat; Matthias Platzeck spricht vom vorsorgenden Sozialstaat. Auch dieser Begriff weist in die richtige Richtung. Ich nenne vier Bausteine für eine solche investive Politik:
Erstens: Wir müssen den Menschen das Rüstzeug und die Freiheit geben, ihr eigenes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihr Leben zum Guten zu gestalten. Und damit bin ich wieder ganz zentral beim Thema "Bildung". Bildung schafft Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, stiftet Selbstsicherheit, soziale Anerkennung, Anpassungsfähigkeit, Zuversicht. Auch deshalb also, auch für das Selbstvertrauen und den inneren Zusammenhalt unseres Landes, brauchen wir dringend mehr und bessere Angebote zur Bildung, Ausbildung und Weiterbildung. Bochum trägt im Wappen ein Buch - gut so.
Zu den Bildungsangeboten müssen zweitens wirksame Anreize und Gelegenheiten zur gesellschaftlichen Teilhabe kommen - am besten natürlich zur Teilhabe durch bezahlte Arbeit oder auch durch ehrenamtliche Tätigkeit, denn wir sind nun einmal eine Arbeits- und Tätigkeitsgesellschaft, und mit Recht wollen die Menschen dazugehören und spüren, dass sie gebraucht werden. Arbeit ist mehr als bloßer Broterwerb: Sie stiftet Lebenssinn, vermittelt soziale Kontakte, ermöglicht Gemeinschaft. Ich halte nichts von der These, dass uns die Arbeit ausgeht. Man denke nur an die Bereiche Bildung, Kultur, Gesundheit, Pflege. Auch seitens der Wissenschaft liegt inzwischen eine Vielzahl von Vorschlägen für eine aktivierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vor. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine Neuordnung des Niedriglohnsektors angekündigt hat. Allein schon durch mehr Respekt für Menschen, die so genannte "einfache Tätigkeiten" erledigen, können wir alle hier zu einem Fortschritt beitragen.
Gegen die verbreitete Orientierungslosigkeit brauchen wir drittens viel mehr überzeugende Erklärungen, was sich warum in Deutschland ändern muss, was der weltweite Handel und Wandel für uns bedeutet und welch große Chancen er für alle Völker birgt.
Ich gebe zu: Erklären ist nicht selten schwieriger als Versprechen, und zutreffende Erklärungen schränken oft den Spielraum für Versprechen ein. Ob deshalb politische Versprechen so oft so schlecht begründet sind? Ich weiß um die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit. Aber ich bin auch der Meinung, dass wir ihnen letztlich keinen Gefallen tun, wenn wir ihnen Dinge versprechen, die nicht gehalten werden können. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik kann geradezu als Kette von Sicherheitsversprechen erzählt werden.
Aber so funktioniert die Welt nicht. Die Politik kann Unsicherheit nicht abschaffen. Doch sie kann vieles tun, um die Menschen dazu zu befähigen, Unsicherheiten zu bewältigen - individuell und kollektiv.
Zum Beispiel durch Risikoversicherungen, wie wir sie mit der Arbeitslosenversicherung oder auch mit der Haftpflichtversicherung kennen. Sie sind ein Bollwerk gegen Notfälle, weil es eine große Zahl von Mitgliedern durch Einzahlung von vergleichsweise niedrigen Prämien möglich macht, den Schaden eines Einzelnen ganz oder teilweise auszugleichen. Die Arbeitslosenversicherung ist also kein individueller Sparvertrag. Der Vorschlag, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I nach der Länge der Einzahlungszeit zu staffeln, schwächt das Versicherungsprinzip und damit eine zentrale zivilisatorische und soziale Errungenschaft zur Schaffung von Sicherheit in modernen Gesellschaften. Ich bezweifle, dass so Vertrauen geschaffen werden kann. Roman Herzog sprach in diesem Zusammenhang schon vor vielen Jahren ( 1993 ) von "einem der ganz kritischen Punkte unserer Sozialpsychologie und... unserer politischen Kultur." Es sei, so Herzog,"weder den Versicherungsträgern noch irgendjemand anderem gelungen, bei unseren Mitbürgern das Wesen einer reinen Risikoversicherung über den Tisch zu bringen. Dass man im Rahmen einer solchen Versicherung nicht bei Auszahlung, sondern beim Nichteintritt des Versicherungsfalles Hans im Glück ist, ist vielen unserer Mitmenschen nicht - oder nicht mehr - präsent ( ... ) ."
Ich meine: Die Politik darf nicht davor zurückschrecken, den Bürgern auch komplizierte Sachverhalte zu erklären und Führung zu zeigen. Ich rate dazu, den mit der Agenda 2010 eingeführten Paradigmenwechsel in der Arbeitslosenversicherung, der positiv zu wirken beginnt, nicht rückgängig zu machen. Wir müssen uns auf die eigentliche Hauptaufgabe konzentrieren: Arbeit schaffen, das ist die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit.
Und noch ein Viertes tut Not auf dem Weg zum investiven Sozialstaat: Gute Vorbilder, denn die Bürgerinnen und Bürger schauen genau hin, wie sich die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verhalten und ob bei ihnen Wort und Tat zusammenpassen.
Für Unternehmer heißt Vorbildsein in meinen Augen: Etwas unternehmen, das Märkte und Belegschaft überzeugt; Maß und Mitte bei den eigenen Einkommen pflegen; auf ein gutes Miteinander im Betrieb achten; auch jenseits des Fabriktors Verantwortungsgefühl beweisen und deshalb nötigenfalls durchaus sogar: es öffentlich tadeln, wenn andere Unternehmer oder Manager den Hals nicht voll kriegen, wenn sie ihre Mitarbeiter zu bloßen Bilanzposten herabwürdigen oder wenn sie im selben Unternehmen vom Vorstandsvorsitz auf den Stuhl des Aufsichtsratsvorsitzenden wechseln, damit nur ja alles schön im Club bleibt - Beispiele dafür gibt es leider, und sie schaden der ganzen Innung.
Bundeskanzler Willy Brandt hat einmal gesagt: "Es muss - und durch wen anders als durch uns? - in das selbstverständliche Bewusstsein der Bürger eindringen, dass Sicherheit nur in der Dynamik, Stabilität nur im Wachstum, Aufstieg nur über Bildung und Ausbildung und Kontinuität nur im Wandel zu erreichen und zu bewahren sind." Diese Feststellung gilt mehr denn je.
Willy Brandt kannte freilich auch die Tücken der politischen Apparatur. Darum wäre er wohl nur wenig überrascht davon, wie sehr mittlerweile diese Apparatur selber Dynamik, Wachstum und Wandel erschwert.
Wie es dazu kam, ist oft richtig beschrieben worden. Es kam so: Die politischen Parteien haben die wichtige Aufgabe, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken und das staatliche Handeln mitzusteuern. Sie tun das, indem sie Handlungsprogramme erarbeiten und Mehrheiten dafür gewinnen. Die Konkurrenz um die Gunst der Wähler entwickelt allerdings ihre eigenen Gesetze: Um Zustimmung zu erlangen, saugen die Parteien immer mehr gesellschaftliche Interessen und Probleme an, politisieren sie und versprechen staatliche Hilfe. Nach gewonnener Wahl weisen sie die Erfüllung ihrer Versprechen dem Staat zu und steuern seine Willensbildung entsprechend. Und die Bürger lassen sich die Wohltaten gern gefallen - obwohl es ja sie selber sind, die für alles aufkommen müssen.
Der Staat wird auf diesem Wege für immer mehr Interessenbefriedigung und für große Bereiche des Alltags zuständig, in denen er nichts befehlen, sondern nur mit Geld und guten Worten auf seine Bürger einwirken kann. Das hat die Lobby der organisierten Partikularinteressen stark gemacht, die möglichst viel für ihre Klientel herausholen will und der es gelang, sich intensiv in staatliche Entscheidungen einzuschalten.
So haben alle jahrzehntelang fleißig mitgemacht, obwohl eigentlich jeder hätte wissen können, was Niklas Luhmann einmal so formuliert hat: "Alles in allem gleicht der Wohlfahrtsstaat dem Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen." Diese Illusion mochte verständlich sein, solange es Jahr um Jahr mehr zu verteilen gab und solange noch nicht Milliarden von Menschen in Osteuropa und Asien mit Fleiß und Ideen um ihren Anteil am weltweiten Wohlstand konkurrieren durften. Aber inzwischen ist es endgültig selbstzerstörerisch, immer weiter den Blasebalg zu bedienen.
Eine spontane Selbstheilung ist jedenfalls nicht zu erwarten. Das zeigen viele Beispiele. So fällt es offenbar den Verantwortlichen in Bund und Ländern sehr schwer, die staatliche Ausgabenseite systematisch zu überprüfen - eine solche Überprüfung hat jedenfalls bei uns noch nicht stattgefunden. Und wird tatsächlich einmal etwas Notwendiges wie die "Rente mit 67" auf den Weg gebracht, dann werden wenig später vielfältige Ausnahmen diskutiert, die Milliarden Euro kosten würden - um Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen und damit in gesellschaftliche Mikrosteuerung mit Kontroll-Illusion zu verfallen.
Aber noch einmal: Die Verantwortlichen in Politik und Staat folgen damit auch den Wünschen und Erwartungen, die zu hegen die Bürger sich angewöhnt haben. Eine Veränderung zum Besseren gelingt darum nur, wenn alle ihr Verhalten verändern und die Politik dafür eindeutige und entschiedene Führungssignale gibt.
Womit ich bei dem Beitrag bin, den ich mir auch von Ihnen, den Frauen und Männern der Wirtschaft, erwarte. Paul Kirchhof - der zweite ehemalige Verfassungsrichter, den ich heute zitiere - hat vor einiger Zeit gefordert, die Bürger dürften sich nicht etwa von der Politik und den Politikern abwenden, sondern "müssen sie vielmehr in die Sachlichkeit der wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Debatte öffentlich einbeziehen, das Wissen und die Erfahrung aus allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft der Politik aufdrängen, um so der notwendigen, ständigen Kritik an der Politik Sachlichkeit und Lebensnähe, dem Politiker entsprechende Bürgernähe zu geben."
Die Welt der Arbeit und der Wirtschaft ist einer der wichtigsten Lebens- und Erfahrungsbereiche. Sie entdeckt immer Neues, sie vermittelt Lebenssinn, sie integriert Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern und Kulturen, sie hält fit im Kopf, sie schärft den Blick für den Unterschied zwischen Chance und Träumerei und sie hat ihr eigenes Ethos - ein Ethos der Leistung und des ehrbaren Kaufmanns, für den Vertrauen der wichtigste Kredit ist.
Ich wünsche mir, dass Sie alle diese Qualitäten noch viel stärker als bisher in die öffentliche Debatte und in die Gestaltung unseres Zusammenlebens einbringen. Fordern Sie in politischen Angelegenheiten - von der Kommunalpolitik bis zur europäischen Integration - bei jeder Gelegenheit Klarheit, Wahrheit und Rationalität! Erklären Sie Ihren Beschäftigten und Mitbürgern viel öfter und genauer, was Sie selbst tun, um im weltweiten Handel erfolgreich zu sein, und welche Vorteile er allen bringt, die an ihm teilnehmen. Beteiligen Sie ihre Mitarbeiter am Unternehmenserfolg! Gehen Sie kritisch mit sich selbst ins Gericht; stellen Sie sich die Frage, wie sehr auch die Sozialpartner dazu beigetragen haben,"die Kühe aufzublasen" und die Kosten des wirtschaftlichen Wandels der Allgemeinheit aufzuhalsen. Tun Sie noch mehr für die berufliche Aus- und Weiterbildung - ich weiß, Sie tun schon viel, aber tun Sie noch mehr! Denn wir brauchen die Aus- und Weiterbildung nicht allein aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen, wir brauchen sie auch für den Zusammenhalt und die Stabilität unseres Gemeinwesens. In dem Zusammenhang würde ich mir wünschen, dass auch die Unternehmer mit Migrationshintergrund mindestens so viele Ausbildungsplätze schaffen, wie es ihrer wirtschaftlichen Kraft entspricht. Bieten Sie alle den Schulen Ihre Partnerschaft an und beteiligen Sie sich an lokalen Bündnissen für die Familien.
Wir brauchen, um die Kreativität unseres Landes deutlich zu steigern, einen breiten, dezentralen Erneuerungsprozess. Der Staat allein kann das nicht schaffen - wir müssen alle mithelfen. Übernehmen Sie noch mehr bürgerschaftliche Mitverantwortung auch für die Zukunft unserer Städte und Gemeinden! Wie das gehen kann, zeigen Handlungskonzepte wie "Bochum 2015", das gemeinsame Papier von Stadt, IHK und Ruhr-Universität.
Das alles sage ich Ihnen nicht, weil allein die Unternehmerinnen und Unternehmer nun auch noch für den Gesamtzustand der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich sein sollen. Ich sage es auch gar nicht Ihnen allein.
Aber ich sage es auch Ihnen, weil Sie sind, was ich bin: Bürger eines Landes, das alle Möglichkeiten hat, seinen guten Platz in einer Welt des globalen Wandels zu behaupten.
Danke, dass Sie mir zugehört haben.
Glück auf!