Redner(in): Roman Herzog
Datum: 16. Mai 1997

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/05/19970516_Rede.html


ES GILT DAS GESPROCHENE WORT -

Lieber Caroll Brown, lieber Noel Lateef, lieber Craig Kennedy, meine Damen und Herren,

dem American Council on Germany, der Foreign Policy Association und dem German Marshall Fund danke ich herzlich für ihre Gastfreundschaft. Daß eine so eindrucksvolle Versammlung mitgliederstarker amerikanischer Institutionen sich zusammengefunden hat, um mit einer nur aus einer Person bestehenden deutschen Institution zusammenzutreffen, nämlich dem deutschen Bundespräsidenten, ist ehrenvoll für mich, stimmt mich aber auch nachdenklich. Als sogenanntes Ein-Mann-Verfassungsorgan muß ich mich "out-manned and out-matched" fühlen!

Aber, was hilft ' s! Es heißt, der deutsche Bundespräsident habe zwar keine exekutive Macht, aber er dürfe und müsse reden. Ich mache mir also diese Interpretation zu eigen und rede zu Ihnen.

Kurz vor dem 50. Jubiläum des Marshall-Plans ist es mir wirklich ein Bedürfnis, an die heute wieder aktuelle Vision George Marshalls zu erinnern. Mit seinem Programm der Hilfe zur Selbsthilfe hat der damalige amerikanische Außenminister auch die Grundlagen für den Wiederaufbau Deutschlands, für seine Einbindung in eine europäische Staatengemeinschaft und für die heutige Gestalt des demokratischen Europa gelegt. Wir als Deutsche haben besonderen Grund zur Dankbarkeit dafür, daß unserem Land nach der schlimmsten Katastrophe seiner Geschichte das Schicksal des zunächst erwogenen "karthagischen Friedens" erspart blieb. Statt dessen wurde uns die Aufnahme in eine neue Gemeinschaft der Demokratien geboten. Amerika, getreu seinem idealistischen Weltbild, hat damals beispiellose Großmut gegenüber den Besiegten gezeigt. Es hat sie in eine Strategie des Friedens durch Demokratie einbezogen. Der Marshall-Plan beruhte auf der Einsicht, daß wirtschaftliche Stabilität eine wichtige Absicherung für Demokratie und Demokratie eine sichere Grundlage für den Frieden ist.

Die fünfzig folgenden Jahre waren eine historisch einzigartige Periode der transatlantischen Stabilität und des Wachstums, nicht zuletzt gegründet auf eine enge Freundschaft und Partnerschaft zwischen den USA und Deutschland. Ich denke vor allem an die Nachkriegszeit: an CARE und an die Luftbrücke, an die Quäker-Hoover-Speisungen, an die berühmten Worte von Präsident Kennedy in Berlin, aber auch an die "Geburtshilfe" beim Aufbau unserer staatlichen Institutionen, bei der Erlangung der Souveränität und schließlich bei der Einbindung Deutschlands in die transatlantische Gemeinschaft. Deutschland ist heute ein föderaler Staat Jeffersonscher Prägung, mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit nach amerikanischem Muster.

Ein zweitesmal hat Amerika Deutschland vierzig Jahre später "Geburtshilfe" geleistet, nämlich bei der Wiedervereinigung nach dem Ende des Kalten Krieges. Das amerikanische Volk und die amerikanische Regierung haben uns dabei gradlinig und vorbehaltlos unterstützt. Daß unüberwindlich scheinende Hürden, auch Vorbehalte bei manchem unserer europäischen Freunde, auf dem Weg zur Wiedervereinigung ausgeräumt werden konnten, verdanken wir vor allem unseren amerikanischen Freunden. Dieses tatkräftige Mitwirken erfüllt uns mit tiefer Dankbarkeit.

Aber natürlich sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika älter als der Marshall-Plan. Deutsche Einwanderer haben seit dem 17. Jahrhundert in Amerika eine freie Heimat gefunden, über ein Fünftel der amerikanischen Bevölkerung zählen Deutsche zu ihren Vorfahren. Die deutsch-amerikanische Symbiose ist manifest geworden in Revolutionshelden wie Steuben, in Innenministern wie Carl Schurz, in Außenministern wie Henry Kissinger, in Raketenbauern wie Wernher von Braun, Filmregisseuren wie Fritz Lang, linken Theoretikern wie Herbert Marcuse, Philosophen der Verantwortungsethik wie Hans Jonas. Neugieriges Interesse an Deutschland hatten Soziologen wie Talcott Parsons oder der Meister des liebevollen Spotts, Mark Twain. Ob das Schönheitsideal der 20er Jahre deutsch oder amerikanisch war, hätte nur die legendäre Marlene Dietrich selbst beurteilen können.

Richtig ist aber auch, daß wir uns mit neuen Herausforderungen im Verhältnis zwischen Amerika und Europa konfrontiert sehen. Sie mögen in den Vereinigten Staaten ein nachlassendes Interesse an Europa, ja auch an Deutschland beobachten. Weniger Mittel werden für die bilateralen Beziehungen zur Verfügung gestellt, diplomatische Vertretungen werden reduziert.

Als ein politischer Grund für das nachlassende Interesse wird die neue weltpolitische Lage angeführt. Mit dem Wegfall der Bedrohung von außen, so heißt es, fehle Europäern und Nordamerikanern ein gemeinsames Ziel, das einen engen Schulterschluß auch weiterhin verlange. Kritische, ja pessimistische Stimmen sagen ein "Auseinanderdriften" Europas und Nordamerikas voraus, wieder andere liebäugeln mit einem neuen Werterelativismus.

Aber natürlich ist die Annahme, es gebe keine gemeinsamen Bedrohungen mehr, ein Trugschluß. Es gibt die verschiedensten neuen Sicherheitsrisiken, die Grenzen überschreiten und gegen die wir noch keine wirksame Abwehr haben: Bevölkerungsexplosion, Klimaveränderungen, Armutswanderungen, Handelskriege, Fundamentalismen jeder Art, Atomschmuggel, Drogenhandel, Völkermorde, Zerfall staatlicher Ordnungen drohen, in internationale Anarchie zu münden. Dagegen gibt es nur ein Mittel: soviel Zusammenarbeit wie möglich. Was wir wirklich brauchen, ist eine neue Weltinnenpolitik, die solchen Risiken eine geschlossene Front bietet.

Was ist also zu tun?

Lassen Sie mich die Antwort in drei Bitten kleiden:

1. Sie sollten Europa nicht abschreiben! Europa kommt. Auch der EURO kommt, von dem wir Europäer einen Beitrag zur Stabilität der Weltwirtschaft erwarten. Ich bin mir des Streits darüber bewußt, bin aber überzeugt, daß sich die Einsicht in die Vorteile, die alle von ihm haben werden, immer mehr durchsetzt. Daß die Märkte bereits an ihn glauben, ist ein untrügliches Zeichen.

Wir fühlen uns im Sinne George Marshalls gemeinsam verantwortlich, die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa in unseren europäischen und atlantischen Institutionen willkommen zu heißen. Die entscheidenden Weichen für ihre Aufnahme in die NATO werden schon in einigen Wochen gestellt. Washington und Bonn arbeiten dabei eng zusammen. Weitere Grundlagen für die Erweiterung der Europäischen Union werden gelegt. Mehr Zusammenarbeit mit dem Mittelmeer-Raum liegt in unserer Verantwortung für die Zukunft.

Auch die Politische Union Europas kommt, zwar langsam, aber sicher. Die Erweiterung ist dabei der Treibsatz der Vertiefung. Dieses Prinzip wird sich wie schon mehrmals in der Geschichte der europäischen Einigung bewähren, wie schwierig der Prozeß jetzt auch aussehen mag. Europa wird stärker, auch als Partner der USA. Damit wird auch unsere Partnerschaft stärker werden.

2. Begründen wir die Transatlantische Gemeinschaft neu! Probleme in der Sicherheitspartnerschaft lassen sich überwinden: Europa muß noch stärker in seine Verantwortung für seine eigene Einigung und Stärke und in seine Aufgaben bei der Bewältigung von Krisen auf dem europäischen Kontinent hineinwachsen.

Die bisherigen Abstimmungsmechanismen in unseren Institutionen müssen wir überprüfen. Wir müssen uns schnell, entschieden und ergebnisorientiert einigen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, gegen die neuen Bedrohungen etwas auszurichten. Das könnte uns vor allem helfen, potentielle Krisen anzupacken, noch bevor sie akut werden. Ein vorausschauendes Krisenmanagement setzt ein vorausschauendes Sensorium voraus. Die Krise in Bosnien hat das schmerzhaft gezeigt. Wir müssen Krisen frühzeitig begegnen, auch dadurch, daß wir unsere individuellen Einsichten austauschen und uns zu einer gemeinsamen Politikbewertung zusammenfinden.

Lassen Sie uns bei Meinungsverschiedenheiten auf beiden Seiten des Teiches Gelassenheit bewahren. Solche Alltagsdifferenzen sind keine Krisen, sondern Ausdruck der dynamischen, offenen Gesellschaften, in denen wir beiderseits des Atlantik leben.

Vor allem müssen wir Europäer einsehen: Ohne die USA geht es noch lange nicht! Ich appelliere an Sie, auch in Zukunft Europa auf die amerikanische Tagesordnung setzen zu helfen. Ich baue darauf, daß die Amerikaner erkennen, daß das auch in ihrem eigenen Interesse liegt. Daß die Fortsetzung des amerikanischen weltinnenpolitischen Engagements auch ganz oben auf der europäischen Wunschliste steht, wissen Sie. Ich habe mit Freude vernommen, daß Ihr Präsident und Ihre Außenministerin in den letzten Wochen mehrfach bekräftigt haben, daß Amerika eine "europäische Macht" bleiben will und wird.

3. Bilden wir eine Lerngemeinschaft für das 21. Jahrhundert! Es hat in unserer gemeinsamen Geschichte Perioden intensiven amerikanischen Lernens von Deutschland und intensiven deutschen Lernens von Amerika gegeben. Zur Zeit besteht gerade wieder viel Anlaß zu letzterem. Als Beispiel möchte ich das Hochschulwesen nennen. In der wissenschaftlich-technischen Blütezeit Deutschlands haben amerikanische Universitäten sich am Humboldtschen Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung orientiert. Sie haben es bis heute aufrechterhalten und ihm neuen Glanz gegeben.

In einer besonderen Hinsicht wünsche ich mir, daß wir Deutschen uns ein Beispiel an unseren amerikanischen Freunden nehmen. Gegenwärtig überlassen wir uns einer lähmenden Mutlosigkeit gegenüber unseren wirtschaftlichen Problemen. Man erinnere sich, wie sich Amerika am Ende der 80er Jahre mit der Mobilisierung des alten Selbstvertrauens und großem Einsatz in wenigen Jahren aus einer Art Niedergangsdepression befreit hat. Ich finde, wir haben hier vieles von Amerika zu lernen. Bei seiner "State of the Union" -Ansprache hat Präsident Clinton im Januar gesagt: "Der größte Feind unserer Zeit ist Bewegungslosigkeit" !

Etwas von dieser mentalen Zuversicht der Amerikaner wünsche ich mir in diesen Tagen auch für mein Land, aber auch für unsere transatlantische Partnerschaft. Wir haben erkannt, daß neue Impulse, neue Ideen, neue Strukturen nötig sind. Halten wir uns nicht mit Klagen auf. Der amerikanische Pragmatismus, die optimistische Bereitschaft, vom Denken zum Handeln überzugehen, ist eine wichtige Inspiration für uns Deutsche, aber auch für unsere Zusammenarbeit!

Noch mehr kommt es mir aber darauf an, daß wir unsere Partnerschaft für das 21. Jahrhundert neu begründen. Ich bin überzeugt: die globalen Herausforderungen der Zukunft werden so komplex sein, daß die transatlantische Gemeinschaft gar keine andere Wahl hat, als sich zu einer Gemeinschaft des gleichzeitigen Lernens voneinander zu entwickeln.

Lassen Sie uns neue Felder der Zusammenarbeit und des Erfahrungsaustausches suchen, um für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts an die 750 Millionen Bürger der "transatlantischen Gesellschaft" gemeinsam Antworten zu finden. Wir wollen dabei nicht nur auf die Staaten setzen. Unsere "einzigartige Partnerschaft" hat erst dann eine solide Zukunftsperspektive, wenn sie von möglichst vielen einzelnen Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen und Initiativen getragen wird. Dabei kommt dem Austausch eine besondere Bedeutung zu. Internet, Videokonferenz und Datenautobahn, so viele neue Chancen sie auch eröffnen, können nicht die persönliche Begegnung ersetzen. Unsere Partnerschaft kann auch künftig nur von einem engagierten "Atlantiker" -Nachwuchs fortentwickelt werden.

Wir stehen vor ähnlichen Problemen und ähnlichen Herausforderungen. Also sollten wir auch den Versuch unternehmen, sie gemeinsam zu lösen.

Ich mache mich daher stark für mehr personellen und gedanklichen Austausch, für die Zusammenarbeit der Eliten unserer Länder in allen Bereichen, für mehr gesellschaftliches Engagement auf beiden Seiten des Atlantik. Ich selbst werde mich bemühen, zu einer solchen Begegnung der Eliten einen Beitrag zu leisten.

Dazu gehört zentral die weitere Vertiefung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Das Deutsch-Amerikanische Akademische Konzil oder die neuen Zentren für Deutschland- und Europastudien in Harvard, Georgetown und Berkeley können als Modell gelten. Aber sie müssen nicht das letzte Wort bleiben.

Ich appelliere auch an die Wirtschaft unserer beiden Länder, sich dieser Aufgabe noch intensiver zu widmen. Nur in einer stabilen Welt gehen auch die Geschäfte gut. Investitionen in die Zusammenarbeit unserer Länder sind Zukunftsinvestitionen für die Wirtschaft selbst. Auch das Bundeskanzlerprogramm, das herausragenden Persönlichkeiten des amerikanischen gesellschaftlichen Lebens Möglichkeiten eines Deutschlandbesuchs eröffnet, könnte ein Vorreiter sein.

Einen Ausbau der Beziehungen kann ich mir auch in einer weiteren Verstärkung der parlamentarischen Zusammenarbeit vorstellen. Warum nicht ein transatlantisches Parlamentariergremium, wie es unser Koordinator für deutsch-amerikanische Beziehungen vorgeschlagen hat? Es sollte aus Vertretern der USA und der Europäischen Union bestehen und die künftige transatlantische Zusammenarbeit unterstützen und ausgestalten.

Es gibt ganz neue Felder der Zusammenarbeit. So vielfältig die Probleme, so vielfältig sind auch die Möglichkeiten neuer Kooperation. Wenn wir nur wollen, sind die Felder der Zusammenarbeit unerschöpflich. Aus der Vielfalt unserer Partnerschaft lassen Sie mich nur etwa Geisteswissenschaftler wie Fritz Stern und Gerhard Caspar, Naturwissenschaftler wie Rudolf Mößbauer, Architekten wie Helmut Jahn oder Dirk Lohan, deutsche Venture-Capital Gründer wie die von Compaq-Computer und Sun Micro-Systems in Silicon Valley nennen. Und: Wußten Sie, daß Töchter deutscher Unternehmen in den USA mehrere hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen haben?

Wenn wir in dieser Richtung weiterarbeiten, bekommt die deutsch-amerikanische Partnerschaft nicht nur neuen Schwung, sondern eine ganz neue Qualität. Dann stehen wir nicht am Ende der Zusammenarbeit, sondern am Anfang einer neuen und andersartigen Zusammenarbeit. Wir gehen nicht nur gemeinsam Probleme an. Wir verbinden unsere Zukunft noch mehr, als dies schon in der Vergangenheit der Fall war.

Ich bin überzeugt, daß unsere Gemeinsamkeiten trotz des Wechsels der Generationen auf beiden Seiten des Atlantik von Generation zu Generation weitergegeben werden können, ohne ihre Symbolkraft einzubüßen, wenn es uns gelingt, die transatlantische Verflechtung in beide Richtungen weiter auszubauen. Sie, meine Damen und Herren, bitte ich, im Bemühen Ihrer Organisationen nicht nachzulassen. An die Politik appelliere ich, die notwendigen Mittel hierfür nicht zu zaghaft zur Verfügung zu stellen. Hier geht es um Investitionen für das nächste Jahrhundert, die unsere Sicherheit, unsere Freiheit und nicht zuletzt auch unseren künftigen Lebensstandard betreffen.

Die atlantische Gemeinschaft wäre keine Wertegemeinschaft, wenn sie sich allein über eine Bedrohung von außen definieren müßte und sich nicht selbst Fundament und Inhalt wäre. Unsere gemeinsamen Werte verbinden uns nach wie vor, und sie werden unsere Partnerschaft auch künftig tragen. Sie sind sogar wichtiger denn je: Freiheit als Schwungrad für Veränderung und Fortschritt, soziale Gerechtigkeit als Ursprung sozialer Sicherheit und Stabilität, Menschenrechte und Demokratie als Fundamente beim Aufbau einer humanen Weltordnung, Dialog der Kulturen als Voraussetzung für friedliches Zusammenleben. Unsere Zusammenarbeit ist wichtiger denn je. Unsere Aufgaben sind noch nicht erschöpft und unsere gemeinsamen Ziele sind noch nicht erreicht.

Nur miteinander kommen wir vorwärts.