Redner(in): Roman Herzog
Datum: 16. März 1997
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/03/19970316_Rede.html
Ich grüße Sie alle sehr herzlich hier in diesem neuen Dokumentations- und Kulturzentrum.
Meinen Glückwunsch zunächst zu diesem schönen Haus. Ich bin hierhergekommen, um zum Ausdruck zu bringen, daß ich der Bundespräsident aller Deutschen bin, also auch der Bundespräsident der deutschen Sinti und Roma. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, muß aber vielleicht doch noch einmal eigens betont werden.
Mit unseren jüdischen Mitbürgern teilen Sie, die Sinti und Roma, die schrecklichen Erfahrungen der Verfolgung und des Völkermordes während der Herrschaft des Nationalsozialismus. Das sind Erfahrungen, die Ihr Selbstverständnis entscheidend geprägt haben. Diese Erfahrungen erschweren es manchmal auch heute noch, unbefangen miteinander umzugehen.
Unbefangenheit hat es in der Vergangenheit kaum gegeben. Eher ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite gibt es lange Traditionen der "Zigeunerromantik" in Deutschland.
Auf der anderen Seite gibt es, genauso von Klischees geprägt, eine tiefsitzende Angst. Ich kann deshalb nur wiederholen, was ich vor 14 Tagen bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit gesagt habe: Versöhnung und Friedensstiftung - wo immer sie nötig sind - beginnen immer mit einem Wandel falscher Einstellungen. Mit Aufklärung über die Dummheit und Borniertheit von Feindbildern, Aufklärung über die Klischees. Versöhnung und Frieden gehen deshalb immer von Menschen aus, die im anderen zunächst den Mitmenschen sehen.
Dieses Zentrum nun ist ein Ort der Erinnerung an die Geschichte der Sinti und Roma, vor allem aber auch daran, wie dieses Land, auch ihre Heimat, mit ihnen umgegangen ist. Die Ausstellung, die wir heute eröffnen, zeigt, wie eine lange währende Diskriminierung in Verfolgung und Mord endete. An die 500.000 Mordopfer, davon über 20.000 deutsche Sinti und Roma - das ist eine Barbarei ungeheuren Ausmaßes. Sie zeugen auch davon, daß die Mehrheitsbevölkerung nicht bereit und in der Lage war, der vergleichsweise kleinen Volksgruppe Schutz und Sicherheit zu gewähren.
Hartnäckig hält sich bis heute die Legende, die Sinti und Roma seien irgendwie zufällig mit in die Mordaktion geraten. Das stimmt nicht. Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Ich möchte nur daran erinnern, daß Reichsinnenminister Frick bereits am 3. Januar 1936 verfügte, die "Nürnberger Rassengesetze" seien genauso auf die Sinti und Roma wie auf die Juden anzuwenden. Und Justizminister Thierack notierte 1942, daß "Juden und Zigeuner schlechthin vernichtet werden sollen". Hitler selbst ordnete gegenüber Himmler die ausnahmslose Deportation aller Sinti und Roma in die Vernichtungslager an. Sie wurden daher im gesamten Einflußbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.
Der nationalsozialistische Staat sprach ihnen mit den "Rasse" -Gesetzen ein jahrhundertealtes Heimatrecht ab, raubte ihnen Wohnungen und Eigentum und deportierte sie von ihren Arbeitsplätzen als Angestellte, Arbeiter, Selbständige oder Beamte weg - oder auch als ehemalige Soldaten der kaiserlichen Armee - mit ihren Familien nach Auschwitz und in die anderen Vernichtungsstätten.
Ich möchte an dieser Stelle die Sinti und Roma besonders herzlich grüßen, die Verfolgung und Mißhandlung überlebt haben und heute Zeugen des Völkermordes sind. Sie verdienen Bewunderung, denn sie fanden trotz des erlebten Grauens die Kraft, an einer selbstbewußten Vertretung der Sinti und Roma mitzuarbeiten.
Die Erinnerung an die unmenschliche Verfolgung muß lebendig bleiben. Wir müssen uns in unserem Handeln stets bewußt bleiben, wozu Rassenwahn, Hybris und Vorurteile führen können. Wenn die Opfer eine Bedeutung für die Gegenwart haben, dann die der Abschreckung, der Warnung vor Gleichgültigkeit, Selbstzufriedenheit und Enge.
Das ist in der Nachkriegszeit zunächst nicht immer begriffen worden. Das alte vorurteilsbeladene Denken war auch in Behörden und Gerichten weiterhin verbreitet. Es bedurfte mehrerer Jahrzehnte, um Diskriminierungen abzubauen. Erst - so scheint es mir - die Selbstorganisation der Sinti und Roma am Ende der 70er Jahre leitete eine Zeit des Umdenkens ein. Aber ganz sicher sind wir auch heute noch nicht am Ziel.
Ich hoffe, daß das Zentrum ein Ort der Öffnung, der Aufklärung wird, daß es hilft, die Zurückhaltung vor dem anderen zu nehmen.
Wichtig ist, daß es auch auf die Zukunft hin ausgerichtet ist. Die ganze Mühe des Dokumentierens, Archivierens und Ausstellens lohnt sich erst richtig, wenn dadurch eine bessere Zukunft möglich wird. Je mehr Menschen die jetzige Ausstellung - wie auch kommende - sehen werden, um so stärker wird sich - das ist meine Hoffnung - das Bewußtsein verbreiten: die deutschen Sinti und Roma gehören zu uns; sie sind ein Teil unserer Gesellschaft und mit ihrer besonderen Kultur eine Bereicherung dieses Landes.
Zentrum und Ausstellung werden in Zukunft die Aufgabe haben, ein Lernort zu sein und falschen Bildern in den Köpfen entgegenzuwirken. Die tatsächliche Geschichte und Lebenssituation müssen in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerufen werden, zu vieles ist bisher unbekannt geblieben. Ich begrüße es daher, daß dieses Zentrum mit wesentlicher Unterstützung der Bundesregierung errichtet werden konnte. Das sollte ein deutliches Zeichen dafür sein, daß sich der deutsche Staat seiner Verantwortung für die Sinti und Roma bewußt ist.
Das Dokumentations- und Kulturzentrum ist aber auch ein Zeichen dafür, daß eine lange von Vorurteilen und Diskriminierungen verfolgte Minderheit ihre Geschicke selbstbewußt in die Hand nimmt. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat hier seinen Sitz. Beide arbeiten zusammen. Der Zentralrat hat - unterstützt vom Zentrum - in allen Jahren seines Bestehens eine konsequente Politik der Vertretung der Interessen der Volksgruppe betrieben - und, wie ich hinzufügen möchte: eine sehr selbstbewußte und erfolgreiche.
Ich wünsche sehr, daß das Zentrum zu einem Symbol für eine gute Zukunft wird. Dann werden wir aus der Vergangenheit wirklich gelernt haben.