Redner(in): Roman Herzog
Datum: 22. Mai 1997
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/05/19970522_Rede.html
Ihre Einladung, vor der Vereinigung der österreichischen Industrie zu sprechen, habe ich gerne angenommen. Wenn man mir die Möglichkeit bietet, in Wien zum Thema "Österreich, Deutschland und die Erweiterung der Europäischen Union" zu sprechen, zögere ich nicht lange.
Aus meiner Sicht leidet die europapolitische Diskussion in unseren Ländern darunter, daß sie sich häufig zu stark in technischen Details verirrt und dabei den Blick für das Wesentliche aus den Augen verliert. Deswegen ist es immer wieder nützlich, zunächst die Grundfrage zu beantworten, die lautet: "Wozu brauchen wir überhaupt dieses Europa?". Diese Antwort fällt leicht, wenn man sich auf das Wesentliche konzentriert und sich nicht den Blick auf den Wald durch die Bäume verstellen läßt. Besonders leicht ist die Antwort, wenn man sie hier in Wien, nur wenige Kilometer von der österreichisch-ungarischen und der österreichisch-slowakischen Grenze entfernt, stellt.
Wir brauchen Europa, weil wir die großen Aufgaben, vor denen wir stehen, nur noch gemeinsam lösen können. Kein Staat kann mehr seine innere Sicherheit im Alleingang garantieren. Umweltverschmutzung läßt sich nicht mit Schlagbäumen aufhalten oder begrenzen. Im globalen Wettbewerb müssen wir unsere Kräfte bündeln. Vor allem aber kann die EU mit der Ost-Erweiterung ihren Beitrag dazu leisten, daß Frieden und demokratische Stabilität langfristig in ganz Europa gesichert werden.
Im Wiener Haus der Industrie liegt es nahe, die Zusammenhänge zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Integration Mittel- und Osteuropas hervorzuheben. Man tut gut daran, sich zum Einstieg in dieses Thema einmal die Entwicklung des Handelsaustausches mit unseren östlichen Nachbarn anzuschauen. Was die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so kann man beim Studium der aktuellen Zahlen feststellen, daß unser Außenhandel mit Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn inzwischen das Volumen unseres Handels mit den Vereinigten Staaten von Amerika überschreitet. Allein die deutschen Exporte nach Polen haben 1995 diejenigen nach China übertroffen. Der deutsche Handel mit Ost- und Mitteleuropa wächst zudem schneller - und das ist wahrscheinlich der entscheidende Sachverhalt - als der Handel mit allen anderen Wirtschaftsräumen und erweist sich somit als immer stärkerer Pfeiler unserer Exportwirtschaft. Ich habe mir sagen lassen, daß dies in der Tendenz auch für Österreich zutrifft.
In Ost- und Mitteleuropa wächst ein gewaltiger, weitgehend unerschlossener Markt von 400 Millionen Menschen heran. Aufgrund des hohen Ausbildungsstands ihrer Menschen, ihres industriellen Potentials, aber auch ihrer geographischen Lage sind die Länder Ost- und Mitteleuropas attraktive Partner für die österreichische und auch für die deutsche Wirtschaft. Es ist keine Übertreibung, einige unserer östlichen Nachbarn schon heute als "Tiger vor der Haustür" zu bezeichnen. Wir freuen uns über die dynamische Entwicklung dieser Volkswirtschaften und wir profitieren mit ihnen von den Früchten der Reformen, die nun - langsam allerdings - heranreifen.
Systemwandel und marktwirtschaftliche Reformen verlaufen natürlich in den einzelnen Ländern recht verschieden. Auch verlangen sie den Menschen, insbesondere den sozial Schwachen, beträchtliche Opfer ab. Dennoch sehe ich keine Alternative dazu, die begonnenen Reformen fortzuführen, bestehende Hindernisse für Zusammenarbeit und Investitionen zu beseitigen und die Rahmenbedingungen für ausländisches Engagement zu verbessern. Ermutigende Beispiele wie die Tschechische Republik, Estland oder Ungarn zeigen: Nur mit den dort verfolgten Rezepten lassen sich die Probleme lindern. Wir müssen - und sei es auch nur aus wohlverstandenem Eigeninteresse - diese Entwicklungsprozesse nach Kräften unterstützen, denn nach wie vor gilt Vaclav Havels Wort: "Wenn wir den Osten nicht stabilisieren, destabilisiert der Osten uns". Das geschieht am besten durch politische Integration, durch kulturellen Austausch, durch Investitionen und freien Handel. Handel ist überhaupt die beste Aufbau- und Entwicklungshilfe. Wir werden unglaubwürdig, schaden uns auch letztlich selbst, wenn wir die Exportmöglichkeiten der mittel- und osteuropäischen Länder ausgerechnet bei den sog. sensiblen Produktbereichen wie Stahl, Landwirtschaft oder Textil beschränken, nur weil sie da im Augenblick über gewisse Wettbewerbsvorteile verfügen. Ich weiß wie hart das ist, ich kenne unsere Probleme hierbei und kann mir Ihre vorstellen.
Im Großen und Ganzen ist sich die deutsche Wirtschaft der daraus erwachsenden Verantwortung bewußt und hat auch die in Ost- und Mitteleuropa bestehenden Möglichkeiten erkannt. Man könnte sich allenfalls fragen, ob sie sie auch entschlossen und zielstrebig genug zu nutzen versteht. Das ist auch eine Frage der Perspektive. Während manche in- und ausländischen Beobachter in diesem Zusammenhang eine erdrückende deutsche Dominanz auf den neuen Märkten beklagen, erheben andere den Vorwurf, wir Deutschen würden die geographischen und historisch-kulturellen Standortvorteile, die sich uns in der Region bieten, zu zaghaft und zu unentschlossen nutzen. Während also in bestimmten Regionen die Angst vor deutscher Überfremdung thematisiert wird, werden anderswo deutsche Repräsentanten mit der Frage bedrängt, wo denn die vielgepriesene deutsche Wirtschaft bleibe.
Die Lösung liegt, wie ich meine, nahezu auf der Hand. Wir brauchen in Mittel- und Ost-Europa so viel Unternehmertum wie möglich, woher es auch immer komme. Andererseits tut aber jeder ausländische Unternehmer, woher er auch stamme, gut daran, im Gastland seiner Investition so aufzutreten, daß er nicht schon wegen seiner Herkunft Ressentiments, Vorbehalte oder Vorwürfe auf sich zieht. Wahr ist nämlich auch, daß die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen in dem riesigen Raum Mittel- und Ost-Europa sehr verschieden sind.
Generell gilt, daß als Folge der langanhaltenden Entfremdung in Deutschland das Bild von dieser uns geographisch so nahe liegenden Region immer noch bruchstückhaft und unvollständig ist. Hier glaube ich, daß Österreich sich in einer besseren Position befindet. Mir fällt auf, daß die veröffentlichte Meinung in Westeuropa - einschließlich Deutschlands - noch allzu oft nur durch unerfreuliche - und daher gut verkäufliche - Nachrichten glänzt: über Umwelt- und sonstige Katastrophen, über Mafia, Korruption und andere postsowjetische Probleme - als ob es das nicht da und dort auch bei uns gäbe. Wer als Unternehmer erfolgreich sein will, tut gut daran, sich von jedem einzelnen Gastland ein genaueres Bild zu machen.
Reformen in Ost- und Mitteleuropa, die Wiederbelebung historischer Verbindungen innerhalb Europas sind allerdings nur die eine Seite der Medaille. Natürlich ist mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs auch bei uns der Anpassungsdruck gestiegen. Das führt in Einzelfällen zu schmerzhaften Einschnitten, auch zum Verlust von Arbeitsplätzen, ausgelöst durch die Verlagerung arbeitsintensiver Produktionszweige in die Reformländer des Ostens. Doch auch diese Tendenz sollte man nicht überbewerten: Zum einen trägt die wachsende Kaufkraft in Ost- und Mitteleuropa zunehmend zur Sicherung und Schaffung unserer eigenen Arbeitsplätze bei. Das schlägt sich etwa darin nieder, daß Deutschland schon heute einen Handelsüberschuß mit der mittel- und osteuropäischen Union hat. Zum anderen gingen in den letzten Jahren nur etwa 15 Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen nach Osteuropa, Mitteleuropa und Südostasien - also in die Regionen, die man aufgrund der Kostenunterschiede gemeinhin mit dem erwähnten Phänomen verbindet. Man sollte also sehen, in welcher Größenordnung sich dies bewegt. Der Schluß liegt also nahe, daß Kostenunterschiede beim Faktor Arbeit weder der einzige noch der stets entscheidende Grund für die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft sind.
Ich meine also: wir müssen Grundsätzliches in Westeuropa ändern, um in dieser globalisierten Welt bestehen zu können. Gerade als Vizeweltmeister im Export können wir uns der sich globalisierenden Wirtschaft nicht entziehen. Die Zeiten für künstliche Kapazitätssicherung durch Abschottungen und Subventionen sind weitgehend vorüber. Der Abbau von Handelsschranken, die gewachsene Mobilität von Menschen und Kapital, der technische und organisatorische Fortschritt auf den Gebieten des Transports und der Kommunikation lassen die sogenannten "Weltmärkte" mehr und mehr zu einem "Weltbinnenmarkt" zusammenwachsen. Das kann Unternehmer auch zu Standortverlagerungen zwingen, damit sie sich ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten.
Aus staatlichem Blickwinkel bedeutet das: Es geht nicht mehr primär um die Frage, was die Wirtschaftspolitik eines Staates für die eigenen Unternehmen tun kann, sondern es geht darum, wie durch geeignete Rahmenbedingungen die Attraktivität des eigenen Landes als Standort für in- und ausländische Unternehmen erhöht werden kann. Dazu gibt es eine auch für unser Land gültige Binsenweisheit: Ein Hochlohnland kann auf freien Märkten auf die Dauer nur mit Produkten von höchster Qualität, Neuheit und Wertschöpfung, das heißt aber auch: nur bei dauerhafter Bereitschaft zum Wandel wettbewerbsfähig bleiben. Neu ist diese Erkenntnis wahrlich nicht. Schon in den Sprüchen Salomonis heißt es: "Einem Lässigen gerät sein Handel nicht." Wer einen Spitzenrang zu verteidigen hat, der muß sich also ein ständiges Fitnessprogramm auferlegen!
Das neue, das größere Europa bietet, indem es neue Muster der Arbeitsteilung ermöglicht, gute Rahmenbedingungen für ein solches Fitnessprogramm. Darin liegt eine Chance für unseren ganzen Kontinent und gerade auch für die Unternehmen unserer Länder. Wenn es uns gelingt, das ökonomische Potential innerhalb einer erweiterten Europäischen Union in einem großen Binnenmarkt mit einheitlicher, stabiler Währung zusammmenzufassen, wenn es uns darüber hinaus gelingt, diesen Wirtschaftsraum im globalen Standortwettbewerb attraktiv zu positionieren, dann erhöhen wir damit zugleich die Zukunftssicherheit der Menschen in ganz Europa.
Daß wir dabei die politische Dimension der europäischen Einigung nicht aus den Augen verlieren dürfen, daß wir nicht nur wirtschaftlich denken und argumentieren sollten, liegt auf der Hand. Zwar läßt sich unser Interesse an Binnenmarkt und Währungsunion schon rein ökonomisch begründen. Es ist - das muß einmal über alle dogmatischen Gräben der Nationalökonomie hinweg gesagt werden - auch ein riesiges langfristiges Arbeitsplatz-Beschaffungsprogramm. Aber wahr ist auch, daß Binnenmarkt und Währungsunion mit ihren wirtschaftlichen Vorteilen gefährdet bleiben, wenn sie nicht durch die Vollendung der politischen Union abgesichert werden. Es geht auch um die Bewahrung unseres Lebensstils, unserer Wertvorstellungen und Überzeugungen. Ich habe das schon vor dem Europäischen Parlament näher erläutert und erinnere heute nur noch einmal daran.
Zur laufenden Regierungskonferenz, d. h. zur Fortentwicklung der Europäischen Union, möchte ich an dieser Stelle nur eines anmerken: Wenn die Europäische Union sich vor der Erweiterung nach Osten nicht im Innern verstärkt, besteht die Gefahr, daß sie sich in eine Freihandelszone desintegriert, die den Europäern auf die Dauer die Möglichkeit nimmt, ihre Geschicke selbst zu bestimmen und Einfluß auf globale Entwicklungen auszuüben.
Glücklicherweise besteht ansonsten in der Erweiterungsfrage eine beachtliche Planungssicherheit. Die vier Visegrad-Länder, die drei baltischen Staaten sowie Rumänien, Bulgarien und Slowenien haben nach Abschluß ihrer Europaabkommen bereits die Eintrittskarte in die Europäische Union. Ausschlaggebend für die endgültige Reihenfolge ihres Beitritts wird die konsequente Fortsetzung und Vertiefung ihrer Reformbemühungen sein. Hier gibt es keine Gefälligkeitsregelungen. Mit anderen Ländern - wie der Ukraine - hat die Europäische Union Partnerschaftsabkommen geschlossen, die ausdrücklich die Perspektive eröffnen, mit diesen Staaten in Verhandlungen über eine Freihandelszone einzutreten.
Auch mit Rußland ist die Europäische Union eine politisch-ökonomische Partnerschaft eingegangen. Schon jetzt ist der russische Außenhandel mit der Europäischen Union um ein Vielfaches größer als mit allen anderen Wirtschaftsräumen, einschließlich der Länder des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs. Das ist eine bemerkenswerte Tatsache, wie ich finde. Sie zeigt, daß auch Rußlands Integration in die Weltwirtschaft großenteils über die Europäische Union führen wird.
Die EU hat in Westeuropa zusammen mit der NATO eine bislang beispiellose Stabilität geschaffen. Daß viele unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn den Wunsch haben, an dieser Stabilität und Sicherheit teilzuhaben, halte ich nur für natürlich. Kein Staat darf einem anderen Vorschriften darüber machen, ob er in einem Bündnis ist oder nicht. Es hat auch kein Staat das Recht, andere Länder als eine Art Sicherheitsglacis zu betrachten. Auch die NATO ist dabei, sich zu reformieren. Sie wird sich für neue Mitglieder öffnen und diesen Prozeß in einer neuen Partnerschaft auch mit Rußland in Einklang bringen. Eine europäische Sicherheitsarchitektur ist ohnehin nur mit und nicht gegen Rußland denkbar.
Rußland hat ein Interesse an weiterer Zusammenarbeit mit dem Westen und an der Stabilität seiner Grenzen, schon um die schwierigen Reformen im Innern meistern zu können. Dem müssen wir Rechnung tragen.
Wie also geht es weiter? - Die Antwort lautet: Wir bauen weiter an Europa.
Die schmerzliche Trennung des Kalten Krieges ist Geschichte und unsere Völker können einander frei begegnen. Wir wollen, daß der alte, geschichtlich gewachsene Kulturraum endlich eine dauerhafte politische Gestalt und Struktur erhält. Wir wollen nicht mehr nur über Europa reden, sondern wir wollen lernen, verstärkt europäisch zu denken. Denn: Uns wird heute - nach all dem Elend und Leid dieses Jahrhunderts - die phantastische Chance geboten, in Europa eine neue, gerechte und dauerhafte Friedensordnung zu schaffen. Diese Chance dürfen wir nicht ungenutzt lassen! Sie bekommt man im Verlauf eines Lebens nicht zweimal.
Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich mich noch der Frage zuwenden, welche konkreten Schritte bei der Erweiterung der Union demnächst anstehen. Ich glaube, wir sind uns in diesem Kreise einig, daß wir alle von der Erweiterung profitieren werden. Allerdings sollten wir auch offen sagen: Zum Nulltarif werden wir die Vorteile, die uns die Erweiterung bringt, nicht einstreichen können.
Schon jetzt orientieren sich die Beitrittskandidaten in ihren Reformen zu Demokratie und Marktwirtschaft an den Maßstäben, die die Union setzt. Dieser Prozeß wird durch immer engere und vielfältigere Beziehungen zwischen der Union und ihren Partnern unterstützt. Der Beitritt soll dadurch erleichtert werden, daß er auf vielen Feldern gut vorbereitet wird. Schrittweise wird eine Freihandelszone eingerichtet. Die gegenseitige Niederlassung von Firmen und Selbständigen wird erleichtert. Die Beitrittskandidaten erhalten Hinweise, wie sie ihr nationales Recht schon jetzt an das EU-Recht angleichen können. Auf vielen Ebenen findet ein regelmäßiger und intensiver Dialog zu wichtigen Fragen statt, die uns gemeinsam betreffen. Und nicht zuletzt leistet die Union über das PHARE-Programm auch eine erhebliche materielle Hilfe bei der Vorbereitung auf den EU-Beitritt.
Auch für die Europäische Union selbst findet die Erweiterung nicht im luftleeren Raum statt. Sie bereitet sich mit der laufenden Regierungskonferenz zur Reform des Unionsvertrages auf die Erweiterung vor. Zudem wird ein neuer Rahmen für die Finanzierung der Union für die Zeit nach 1999 festgelegt werden müssen. Die Struktur- und die Agrarpolitik werden in diesem Zusammenhang grundlegend zu überprüfen sein. Das wird uns allen eine "ungeheuere Freude" bereiten, machen Sie sich da keine Illusionen.
Der Erfolg der Erweiterung wird auch davon abhängen, ob es uns gelingt, die großen europapolitischen Aufgaben der Agenda 2000 Schritt für Schritt zu bewältigen. Natürlich gibt es einen Gesamtzusammenhang. Aber Verknüpfungen nach dem Motto "Meine Äpfel gegen seinen Nettobeitrag und das wieder gegen deinen Kommissarssitz" können wir uns nicht erlauben. Und wir können es uns auch nicht leisten, daß integrationswilligere Mitgliedsländer auf Dauer daran durch "Veto" gehindert werden.
Der erfolgreiche Abschluß der Regierungskonferenz wird ein wichtiger Schritt zur Erweiterung sein. Ich hoffe, daß es gelingen wird, die Konferenz beim Europäischen Rat in Amsterdam Mitte Juni abzuschließen. Einen perspektivlosen Fehlschlag können wir uns nicht leisten. Sollte der Berg eine Maus gebären, dann wird der Berg sehr schnell einen neuen Versuch der Schwangerschaft unternehmen müssen. Gerade im institutionellen Bereich sind Fortschritte wichtig, damit auch eine vergrößerte Union handlungsfähig bleibt.
Die größere EU wird aber nicht nur einen möglichst reibungslos funktionierenden Apparat benötigen. Je größer die Union wird, desto mehr stellt sich die Frage, wie der innere Zusammenhalt ihrer Mitglieder erhalten bleibt. Ich meine, der ursprüngliche Gedanke der Sechser-Gemeinschaft gilt noch heute: Wir setzen gemeinsame Interessen durch gemeinsame Institutionen gemeinsam durch. Naturgemäß wird diese Aufgabe umso schwieriger, je mehr Partner mitreden. Wir werden uns daher in der Union in Zukunft noch mehr als bisher anstrengen müssen, immer wieder den Konsens zu erreichen. Und ich füge unseren Partnern in Mittel- und Osteuropa kein Unrecht zu, wenn ich ergänze: Sie werden für diesen Schritt besondere Anstrengungen unternehmen müssen. Wir erwarten von ihnen, und wir können das auch erwarten, daß sie mit konstruktivem europäischem Geist in die Union kommen. Wir wissen, daß für sie der Schritt zur supranationalen Wahrnehmung ihrer Interessen, nach gerade neu erlangter Unabhängigkeit, neu ist. Ich meine aber: der Erweiterungsprozeß wird nur dann gut gelingen, wenn wir uns über die Grundlagen unserer Gemeinschaft schon jetzt verständigen.
Wir sollten, so meine ich, die Beitrittsverhandlungen als einen Prozeß sehen. Für diesen Prozeß muß der Grundsatz gelten: "differenzieren ohne zu diskriminieren".
Dieser Verhandlungsprozeß sollte zwei Elemente berücksichtigen: Konkrete Beitrittsverhandlungen werden zuerst mit denjenigen Staaten aufgenommen, die am besten auf den Beitritt vorbereitet sind. Zugleich wird ein klares Signal gesetzt, daß alle assoziierten Staaten in Mittel- und Osteuropa in den Verhandlungsprozeß eingebunden sind und eine klare Perspektive für den EU-Beitritt haben, wenn sie die bekannten Bedingungen erfüllen, also die "Hausaufgaben" gemacht haben. Davon abgesehen können beitrittswillige Staaten nicht erwarten, daß die Europäische Union mit ungelösten Problemen - ich erwähne nur Minderheitenfragen - belastet werden soll.
Verhandlungsaufnahme je nach Vorbereitungsstand: Das ist schon deswegen sinnvoll, weil nur so die Verhandlungen einen erfolgreichen Abschluß erwarten lassen. Diese Verhandlungen sollen der individuellen Situation in den jeweiligen Staaten Rechnung tragen. Es sind individuelle Verhandlungen, und wir sprechen hier über einen äußerst komplexen Vorgang. Die beitretenden Staaten übernehmen 80.000 Seiten Regelwerk der Gemeinschaft. Sie müssen zu jedem einzelnen Punkt feststellen, ob sie die bestehende Regelung übernehmen können oder ob sie eine Übergangsregelung beantragen müssen.
Es ist offenkundig, daß solche Vorbereitungen - und dann Verhandlungen - an alle Beteiligten hohe Anforderungen stellen. Deshalb beobachten wir genau, wie sich die einzelnen Beitrittskandidaten auf diesen Prozess vorbereiten.
Am Ende der Verhandlungen muß ein tragfähiges Ergebnis stehen. Das Beitrittsabkommen, das am Ende unterzeichnet wird, muß schließlich den kritischen Blicken des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente ebenso standhalten wie den Fragen der Bürger unserer Länder.
In diesem Prozeß werden gewiß einige schneller vorankommen als andere. Um so wichtiger ist es, daß die Perspektive eines EU-Beitritts für alle Beitrittskandidaten klar bestehen bleibt. Wir wissen, wieviel die Umgestaltung vieler Lebensbereiche den Menschen abverlangt. Schwierige Reformvorhaben müssen auch innenpolitisch vermittelbar sein. Das Ziel und die Erreichbarkeit des EU-Beitritts sind dabei wichtige Orientierungsmarken. Das gilt gerade auch für diejenigen Länder, in denen die Reformprozesse weniger schnell vorankommen. Einen "EU-Ablehnungsschock" darf es nicht geben. Im Gegenteil: wir müssen darüber nachdenken, wie wir die bestehenden Instrumente zur Vorbereitung auf den EU-Beitritt noch verbessern können.
Wir wollen, daß die Erweiterung ein Erfolg wird. Die wichtigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen EU-Beitritt müssen aber in den mittel- und osteuropäischen Staaten selbst geschaffen werden. Deutschland hat sich für die EU-Erweiterung von Anfang an mit größtem Nachdruck eingesetzt. Wir werden das gemeinsam mit unseren Partnern auch künftig tun. Die Republik Österreich dabei an unserer Seite zu wissen, ist wohltuend und beruhigend zugleich. Ihre historische Erfahrung gerade in Mittel- und Osteuropa, ist ein unschätzbares Kapital und ihre eigene Erfahrung aus den noch nicht so lange zurückliegenden Beitrittsverhandlungen und aus dem Beitritt selbst ist für unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn von unschätzbarem Wert. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen. Wir sind es unseren Kindern und Enkeln schuldig.