Redner(in): Werner Hoyer
Datum: 19.09.2011
Untertitel: Brasilien und Deutschland: Für eine wertebasierte strategische Partnerschaft
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2011/110919-StM_Hoyer_D_Bras_Wirtschaftstage.html
Rede von Staatsminister Werner Hoyer zur Eröffnung der Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstage am 19. September 2011 in Rio de Janeiro
Sehr geehrte Damen und Herren,
willkommen in der Zukunft!
Der deutsche Schriftsteller Stefan Zweig hat Brasilien ein "Land der Zukunft" genannt.
Viel ist über diese Aussage gesagt und geschrieben worden manch einer in Brasilien kann sie schon nicht mehr hören.
Viele weisen heute darauf hin, dass für Brasilien die Zukunft schon begonnen hat. Brasiliens unerhörter wirtschaftlicher Aufschwung beeindruckt Deutsche und Europäer gleichermaßen.
Sie haben gebannt verfolgt, wie Brasilien zu einer der sieben größten Volkswirtschaften weltweit mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,6 Billionen Euro aufgestiegen ist. Zugleich nehmen sie etwas nachdenklich zur Kenntnis, dass die Bevölkerung Deutschlands und Brasiliens vor fünfzig Jahren gleich groß war, dass aber heute auf 80 Millionen Deutsche fast 200 Millionen Brasilianer kommen.
Und doch ist das Wort vom Land der Zukunft nicht überholt. Ich meine, es hat eine neue Bedeutung gewonnen:
Wir blicken auf Brasilien längst als eines der Länder, die über die Weltordnung der Zukunft ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Brasilien ist als eines der neuen Kraftzentren einer globalisierten Welt in aller Munde.
Diese Entwicklung ist Teil einer gewaltigen Verschiebung der Gewichte in unserer Welt, die wir seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges erleben. Der Anteil der Europäischen Union an der Weltbevölkerung geht zurück. 500 Millionen Europäer machen heute nur noch sieben Prozent einer beständig wachsenden Weltbevölkerung aus.
Unser Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung ist indessen weiterhin sehr hoch: in der Europäischen Union werden nach wie vor 30 Prozent des Welt-Sozialproduktes erwirtschaftet. Zugleich wachsen die anderen Länder mit, der europäische Anteil wird nicht mehr höher. Aber Europa behauptet sich, auch wenn wir uns einem harten Wettbewerb stellen müssen, um dies beibehalten zu können.
Gleichzeitig erleben wir den Auftritt neuer Spieler auf der Weltbühne. Besonders greifbar wird das in den boomenden Metropolen der aufstrebenden Gesellschaften. Nicht nur in Brasilien ist eine neue Dynamik entstanden, die unsere Weltordnung grundlegend verändern wird. Immer breitere Bevölkerungsschichten kommen zu Wohlstand und erheben den Anspruch auf Teilhabe und Mitsprache. Das gilt auch für die anderen sogenannten BRICS-Staaten - Russland, Indien, China, Südafrika.
Der Handel zwischen Deutschland und Brasilien hat allein das letzte Jahr einen Zuwachs von sagenhaften 25 Prozent erlebt. Brasilien ist heute einer der bedeutendsten Wirtschaftspartner Deutschlands weltweit. Es ist unangefochten unser größter Handelspartner in Lateinamerika. In kein anderes Land des Kontinents fließen mehr deutsche Direktinvestitionen. Über 1200 deutsche Firmen zum Großteil Mittelständler engagieren sich in Brasilien. Hier im Bundesstaat Rio de Janeiro befindet sich mit dem Stahlwerk von Thyssen Krupp die größte deutsche Investition in Lateinamerika überhaupt.
Diese Entwicklung findet in Europa nicht nur ein positives Echo. Dass Brasilien und andere Schwellenländer rasant zu wirtschaftlichen Schwergewichten heranwachsen, verfolgen einige mit Sorge. Sie befürchten einen Verlust an "Bedeutung" oder "Einfluss" Europas in der Welt. Solche Befürchtungen mögen verständlich sein. Zutreffend sind sie nicht.
Der angebliche Bedeutungsverlust Europas und der Vereinigten Staaten geht einher mit der Entwicklung einer globalen Mittelklasse, deren Vorstellungen von wirtschaftlicher und politischer Teilhabe sich oft gar nicht so stark von unseren unterscheiden. Das ist kein Befund, der Angst erzeugen sollte. Er sollte uns im den Blick auf die Möglichkeiten lenken, die in diesen Veränderungen stecken.
Die Entstehung neuer Kraftzentren müssen wir als Chance begreifen, gemeinsam den Herausforderungen zu begegnen, vor die uns die Globalisierung stellt. Ihnen ist kein Staat alleine gewachsen, Brasilien ebenso wenig wie Deutschland. Das gilt für Klimaschutz und Energiepolitik genauso wie für den Umgang mit Migration und die Bekämpfung des Terrorismus. Deshalb müssen sich Brasilien und Deutschland, Lateinamerika und Europa in Zukunft in noch viel stärkerem Maß als bisher als strategische Partner begreifen.
Nur gemeinsam haben wir die Chance, globale Ordnungspolitik in unserem Sinne mitzugestalten, ob es um Handelsregeln, den Schutz der Menschenrechte oder die Bewahrung von Frieden und Sicherheit auf der Welt geht.
Eine solche weltweite Ordnungspolitik brauchen wir dringender denn je. Wir werden die globalen Probleme der Zukunft nur dann lösen können, wenn wir lernen, gemeinsam politischen Antworten auf globaler Ebene zu entwickeln. Dabei betreten wir Neuland. Patentrezepte gibt es nicht. Sicher ist dabei nur, dass die Vereinten Nationen mit ihrer weltumspannenden Legitimität eine Schlüsselrolle spielen müssen. Was "Global Governance" darüber hinaus heißen soll, müssen wir Schritt für Schritt gemeinsam ausbuchstabieren.
Auf diesem Weg haben Brasilien und Deutschland gemeinsam schon viel erreicht. In den G20, in der Welthandelsorganisation und in den internationalen Klima-Verhandlungen ziehen wir immer häufiger an einem Strang. In besonderem Maß gilt das für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dem Brasilien und Deutschland zur Zeit als nichtständige Mitglieder angehören, und dessen Reform wir gemeinsam mit Japan und Indien betreiben.
Diese gemeinsame Arbeit müssen wir entschlossen weiterentwickeln. Das heißt auch: Gerade Brasilien und die anderen Schwellenländer Lateinamerikas müssen in noch stärkerem Maß der Verantwortung stellen, die globale Ordnung der Zukunft mit zu gestalten. Sie müssen in der Global Governance ein Gewicht entwickeln, das ihrem glänzenden Wirtschaftswachstum entspricht. Sie müssen sich wie wir Europäer - als aktive Gestaltungsmächte begreifen.
Wir Deutsche und Europäer haben daran ein vitales Interesse. Europa und Lateinamerika sind natürliche Partner, wenn es darum geht, unsere gemeinsamen Werte in der Weltordnung von morgen zu verankern. Wir teilen die gleichen Vorstellungen von der Freiheit und Würde des einzelnen Menschen, von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft. Für einen Jugendlichen in Brasilia bedeutet Selbstverwirklichung etwas ganz Ähnliches wie für seine Altersgenossen in Berlin. Ihr Wahlrecht ist den Bürgern von Rio de Janeiro genauso wichtig wie denen von Rios Partnerstadt Köln. Ein Mittelständler in Sao Paulo sieht im freien Handel die gleichen Chancen wie sein Geschäftspartner in München.
Diese gemeinsamen Interessen und Überzeugungen haben ein festes Fundament: Als Lateinamerikaner und Europäer, als Brasilianer und Deutsche teilen wir die gleichen Werte. Durch unsere Kultur sind wir einander eng verbunden. Das bezeugt die lange Geschichte deutscher Einwanderung, die mitten in Brasilien Orte mit so schönen deutschen Namen wie Blumenau hat entstehen lassen. Auch dass heute allein an einer einzigen Schule Sao Paulos, der Porto-Seguro-Schule 11.000 junge Leute Deutsch lernen, ist ein beredtes Zeugnis unserer Nähe. Wie vielfältig und verwurzelt unsere Beziehungen sind, wird uns sicher auch das Deutschlandjahr vor Augen führen, das in weniger als zwei Jahren beginnen wird. Auf dieses Fundament können wir bauen, wenn wir unsere strategische Partnerschaft entwickeln.
Auf dieses Fundament bauen auch die Städte Rio de Janeiro und Köln, wenn sie heute ihre Städtepartnerschaft begründen, zu der ich Sie, Herr Oberbürgermeister Paes und Herr Oberbürgermeister Roters, von Herzen beglückwünsche. Ich habe viele Gründungen von Partnerschaften erlebt, die hinterher nicht viel Leben entfalteten. Hier bin ich sicher, dass die Partnerschaft zwischen diesen beiden Städten und den Regionen, für die diese Städte die Zentren sind, also den Bundesstaat Rio de Janeiro und das Rheinland, ein enormes Potential beinhaltet. Ich weiß, dass Stereotypen leicht mobilisiert werden können, weil beide Städte in ihren Ländern zum Beispiel die Hochburgen des Karnevals sind. Das werden wir uns übrigens auch nicht nehmen lassen, weder in Rio noch in Köln. Und doch sind diese Städte viel mehr als Karneval, Samba und Fußball. So ist Köln zum Beispiel in einer zentralen Lage im Herzen Europas Hochburg für Wissenschaft, Bildung, Forschung und Technologie und bietet mit seiner zentralen infrastrukturellen und logistischen Basis eine optimale Brücke nach Deutschland und in die Europäische Union hinein.
Damit diese deutsch-brasilianische Partnerschaft ihre volle Wirkung entfalten kann, darf sie sich nicht auf bilaterale Zusammenarbeit beschränken. Wir müssen sie auch als Partnerschaft zwischen Brasilien und Europa begreifen. Dieses Europa bleibt für uns Deutsche Kernbestand unserer Staatsraison, genauso wie die transatlantische Partnerschaft mit den USA, Kanada und das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels. Wo wir neue Partnerschaften begründen, ist das keine Abkehr von alten Freunden.
Das Gegenteil ist der Fall: Wir Deutsche wollen unsere neuen Partnerschaften, auch die mit Brasilien, in einen europäischen Rahmen einbetten.
Dabei ist es interessant, wie mit dem Begriff der Strategischen Partnerschaft mittlerweile umgegangen wird. Eigentlich setzt eine Strategische Partnerschaft eine Verständigung über Ziele und Zielerreichungswege voraus. Es mag ja vielleicht möglich sein, gemeinsam aufgrund einer Interessenanalyse Ziele zu definieren. Die Nebenbedingungen, die erfüllt werden müssen, um auf dem Weg der Zielerreichung den eigenen Wertekanon zu bewahren, sind schon erheblich schwieriger zu konsentieren. Im Falle der Partnerschaft zwischen Brasilien und Deutschland, einer wirklichen Strategischen Partnerschaft, können wir sagen, dass wir uns über Ziele verständigen können, aber die Zielerreichung eben auch unter Beachtung der Werte verfolgen, die uns einen. Der erste Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland - "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - ist die Grundlage einer Politik, die auf der Würde des einzelnen Menschen, auf Freiheit, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft basiert. Hierin sind wir uns mit unseren brasilianischen Freunden absolut einig. Deshalb erscheint es mir legitim, von einer privilegierten Strategischen Partnerschaft zu sprechen.
Eine strategische Partnerschaft zwischen Brasilien und der Europäischen Union darf aber kein Lippenbekenntnis bleiben. Sie wird nur dann Wirkung entfalten, wenn wir sie mit handfesten Inhalten füllen. Dafür setzt sich Deutschland innerhalb der Europäischen Union ein. Deshalb ist es wichtig, dass vom fünften EU-Brasilien-Gipfel in wenigen Tagen ehrgeizige Impulse für die Entwicklung unserer Beziehungen ausgehen, auch und gerade in Handelsfragen. Eine große Chance für eine stärkere europäisch-brasilianische Zusammenarbeit in den Schlüsselbereichen Klima und Umwelt kann auch die Rio Plus 20-Konferenz im kommenden Jahr sein.
Dabei ist uns bewusst, dass dieses Europa sein politisches Gewicht ohne feste wirtschaftliche Grundlagen nicht voll zur Geltung bringen kann. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, dass wir die Schuldenkrise in der Euro-Zone bewältigen. Wir müssen das Ruder in Europa unumkehrbar in Richtung Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit herumwerfen. Wie schwer das ist, wissen die Menschen in Brasilien aus eigener Erfahrung.
Wir Deutsche wissen, was wir an der Europäischen Integration haben. Sie ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Sie hat uns nach einem halben Jahrhundert der Kriege, der Barbarei, der Unfreiheit und der wirtschaftlichen Katastrophen ein ungeahntes Maß an Freiheit, Frieden und Wohlstand beschert. Zu diesem großen Erfolg hat in den letzten zehn Jahren die gemeinsame Währung zusätzlich beigetragen. Sie hat sich entgegen mancher Erwartung als außerordentlich stabil erwiesen. Die durchschnittlichen Inflationsraten in Deutschland waren in dieser Zeit deutlich niedriger als in den Jahrzehnten der D-Mark zuvor. Da jetzt Konstruktionsschwächen der Währungsunion zutage treten und ungeahnte Kräfte walten lassen, müssen wir diese Konstruktionsschwächen beseitigen und den Euro stabil machen, sturmfest für die nächsten Jahrzehnte.
Dabei dürfen wir nicht übersehen, was in den letzten Jahren bereits geleistet worden ist. Das gilt insbesondere für die Themen Staatsverschuldung und Produktivität. Jahrzehntelang haben die Politiker in ihren Sonntagsreden gesagt, wie unverantwortlich es sei, eine so hohe Schuldenlast auf die Schultern der folgenden Generationen zu bürden. Erst seit der Finanzkrise vor drei Jahren, als die Konsequenzen überhöhter Staatsverschuldung nicht mehr nur die folgenden Generationen, sondern schon die aktuelle Generation trafen gewissermaßen also in "real time" - , wird gehandelt. Wer hätte diesen Paradigmenwechsel in der Staatsschuldenfrage für möglich gehalten? Noch vor wenigen Jahren wäre die Einführung einer Schuldenbremse, einer verfassungsrechtlichen Regelung der Begrenzung der Staatsverschuldung, undenkbar gewesen. Heute haben bereits erstaunlich viele europäische Staaten dies akzeptiert; zuletzt hat Spanien mit überwältigender Mehrheit im Parlament die verfassungsmäßige Begrenzung der Nettokreditaufnahme beschlossen. Im Hinblick auf die Einsicht, dass wir Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität steigern müssen, hat sich ebensoviel getan in Europa. Die Europäer haben begriffen, dass sie auf den Märkten dieser Welt schneller, innovativer und besser werden müssen und dass sie dann keinen Wettbewerb zu scheuen brauchen. Sie haben vor allen Dingen begriffen, dass sie die Herausforderungen der Globalisierung nur gemeinsam bewältigen können. Mit einem gemeinsamen Markt und einer gemeinsamem Währung. Europa ist die Antwort der Europäer auf die Herausforderungen der Globalisierung. Wenn wir dies begreifen, wenn wir den gemeinsamen Binnenmarkt endlich vollenden und unsere Währung sturmfest machen für die Jahrzehnte, die uns bevorstehen, dann wird Europa aus dieser Krise stärker hervorgehen als es in sie hineingegangen ist.
Europa und Deutschland werden die Globalisierung weiter aktiv mitgestalten. Mit Brasilien fühlen wir uns dabei als einem strategischen Partner verbunden. Diese Partnerschaft gründet auf unseren gemeinsamen Werten. Unsere immer engere wirtschaftliche Vernetzung ist ihr lebendiger Ausdruck. Deshalb freue ich mich sehr, die 29. Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstage 2011 zu eröffnen. Ich wünsche Ihnen großen Erfolg.