Redner(in): Guido Westerwelle
Datum: 26.09.2011
Untertitel: Redevon Außenminister Guido Westerwelle vor der 66. Generalversammlung der Vereinten Nationen
Anrede: Herr Präsident,meine Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2011/110926-BM_VN_GV.html
Exzellenzen,
wie selten zuvor prägt in diesem Jahr die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, Würde und Selbstbestimmung unsere Welt.
Bislang erlebten wir Globalisierung vor allem als immer engere Vernetzung der Weltwirtschaft. Heute erleben wir, dass Globalisierung sehr viel mehr bedeutet. Dass sie auch eine Globalisierung der Werte bewirkt. Es sind die Werte der Charta der Vereinten Nationen, die unveräußerlichen Rechte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
In Nordafrika und der arabischen Welt haben Millionen Menschen jahrzehntelange Unterdrückung abgeschüttelt. Sie wollen Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, aber auch bessere Lebenschancen für sich und für ihre Familien.
Der Weg dorthin ist alles andere als einfach. Ein neues politisches System muss reifen, um stabil zu werden. Das braucht Zeit und Geduld. Aber auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Dieses Jahr ist ein Jahr der großen Schritte. Die ergreifenden Bilder von selbst errungener Würde und Selbstachtung, die stolzen Gesichter der Menschen auf dem Boulevard Bourguiba in Tunis und auf dem Tahrirplatz in Kairo sind unvergessen. Diese Menschen wollen ihr Schicksal selbst gestalten.
Und diese Sehnsucht ist keinesfalls beschränkt auf die arabische Welt. Auch in Weißrussland sehnen sich die Menschen nach einem Ende von Repression und Unfreiheit, nach Chancen für die volle Entfaltung ihrer individuellen Persönlichkeiten.
Deutschland hat mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung vor gut zwanzig Jahren das Glück einer friedlichen Revolution hautnah selbst erfahren. Heute haben wir ein elementares Interesse am Gelingen des Aufbruchs südlich des Mittelmeers.
Wir Deutschen bieten unsere Unterstützung an: für den Aufbruch in Ägypten und Tunesien, für die Reformen in Marokko und Jordanien, für den Neuanfang in Libyen nach dem Sturz des Diktators.
Jedes Land, jede Gesellschaft wird einen eigenen Weg in die Moderne finden, durch Reform oder durch Revolution. Wir Deutsche wollen mit Rat und Tat Hilfe leisten. Hilfe beim Aufbau einer unabhängigen Justiz, vielfältiger Medien, einer lebendigen Zivilgesellschaft, bei Verfassungsprozess und Vergangenheitsbewältigung. Hilfe ausdrücklich auch bei der Beseitigung der noch in Libyen lagernden gefährlichen Massenvernichtungsmittel. Hilfe vor allem aber beim entscheidenden Aufbau einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Ordnung in diesen Gesellschaften.
Denn wir wissen doch alle, dass der Erfolg des gesellschaftlichen Aufbruchs entscheidend am wirtschaftlichen Erfolg hängt. Die Menschen, die für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gegangen sind, müssen ganz persönlich erfahren, dass sie mit ihren Ideen, ihrer Kreativität und ihrem Einsatz auch Erfolg haben können.
Deutschland setzt sich deshalb nicht nur für enge Partnerschaft, sondern auch für Marktöffnung ein. Wir wollen den Wandel durch mehr Handel befördern. Wir bieten Investitionen an, gerade in die mittelständische Wirtschaft, den tragenden Pfeiler einer offenen, erfolgreichen Gesellschaft.
Am Allerwichtigsten aber wird sein, der jungen Generation Bildung und Ausbildung für die Realisierung ihrer Lebenschancen zu bieten.
Den mutigen Frauen und Männern in Syrien schulden wir ein klares Signal der Solidarität. Die syrische Regierung beantwortet die legitimen Forderungen des syrischen Volkes mit brutaler Gewalt.
Deutschland wird sich weiter mit Nachdruck für eine Resolution des Sicherheitsrates einsetzen. Das ist nicht allein Frage der Solidarität mit den Menschen. Es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der Staatengemeinschaft. Wenn die Repression andauert, werden wir Europäer die Sanktionen gegen das Regime weiter verschärfen. Das syrische Volk soll frei seine Zukunft wählen können.
Herr Präsident, diese Tage stehenim Zeichen des ungelösten Konflikts im Nahen Osten. Präsident Abbas hat hier in New York den Erwartungen der Palästinenser wie auch der verständlichen Frustration der Menschen über die ausbleibenden Fortschritte Ausdruck verliehen.
Ministerpräsident Netanyahu hat am selben Tag Israels berechtigtes Verlangen nach einer friedlichen Existenz in sicheren Grenzen bekräftigt.
Beide Seiten haben legitime Interessen. Diese Interessen sind mit einander vereinbar. Die Gräben können überwunden werden, wenn alle es wirklich wollen.
Deutschland setzt sich ein für eine Zwei-Staaten-Lösung. Wir unterstützen einen palästinensischen Staat und ein Leben der Palästinenser in Würde und Selbstbestimmung. Einen Staat, der unabhängig, souverän, zusammenhängend, demokratisch, und politisch wie wirtschaftlich lebensfähig ist.
Für den ganz praktischen Aufbau dieser Staatlichkeit haben wir uns in den vergangenen Jahren besonders engagiert, in Verwaltung, Infrastruktur und Ausbildung, und politisch im Deutsch-Palästinensischen Lenkungsausschuss. Und wir wollen einen palästinensischen Staat nicht irgendwann in einer fernen, unbestimmten Zukunft.
Aber ich will auch keinen Zweifel daran lassen: die Sicherheit Israels ist für die Bundesrepublik Deutschland Staatsraison.
Dauerhaften Frieden wird es ohne Sicherheit für Israel nicht geben.
Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ist möglich. Ein palästinensischer Staat ist möglich. Zwei Staaten, friedlich Seite an Seite, das ist möglich. Aber der Weg dorthin führt über Verhandlungen.
Die Erklärung des Nahost-Quartetts vom Freitag setzt die Meilensteine auf diesem Weg. Deutschland hat sich intensiv für diese Quartett-Erklärung eingesetzt und unterstützt jetzt deren Umsetzung nachdrücklich. Aus der Konfrontation der Worte hier in New York darf keine Eskalation der Gewalt im Nahen Osten werden.
Ich appelliere deshalb von dieser Stelle aus an beide Seiten, an Palästinenser und Israelis, umgehend in direkte Verhandlungen einzutreten!
Beide Seiten haben am Freitag ihren Willen zu einem verhandelten Frieden bekräftigt. Nun kommt es darauf an, die Energie und den Druck dieser Tage in einen konstruktiven Prozess zu verwandeln.
Beide Seiten sind aufgefordert, innerhalb von drei Monaten "umfassende Vorschläge" zu Grenzen und Sicherheit vorzulegen und alle provokativen Schritte zu unterlassen.
Die internationale Gemeinschaft wird den schwierigen Weg zum Frieden weiter begleiten. Dazu gehört auch die Moskauer Konferenz als Teil des Verhandlungsfahrplans der kommenden Monate.
Meine Anerkennung gilt allen Beteiligten, die in den vergangenen Tagen um diese Chance für einen konstruktiven Weg gerungen haben. Als Europäer danke ich insbesondere der Hohen Vertreterin der Europäischen Union, Lady Ashton. Nutzen wir den Impuls des intensiven Ringens hier in New York, im Interesse der Menschen in Israel und den Palästinensischen Gebieten.
Mit größtem Einsatz arbeitet die Staatengemeinschaft seit Jahren darauf hin, dass von Afghanistan keine Bedrohung mehr ausgeht für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Viele, zu viele Menschen haben dafür schon ihr Leben lassen müssen.
Am 5. Dezember werden wir in Bonn unter afghanischem Vorsitz über den weiteren Weg beraten. Dabei wird es um drei große Fragen gehen:
Erstens: die vollständige Übergabe der Sicherheitsverantwortung. In diesem Sommer haben die Afghanen begonnen, die Sicherheit ihres Landes Schritt für Schritt bis 2014 selbst in die Hand zu nehmen. Es ist eine Übergabe der Verantwortung in Verantwortung.
Zweitens, die internationale Staatengemeinschaft wird sich in Afghanistan auch nach 2014 engagieren. Um seine staatliche Souveränität zu stärken, braucht Afghanistan auch künftig wirtschaftliche Impulse und mehr regionale Zusammenarbeit. Diesem Ziel dient die Initiative einer "Neuen Seidenstraße", die wir hier in New York auf den Weg gebracht haben.
Drittens: die innere Aussöhnung Afghanistans und seine Unterstützung durch die Staaten der Region ist der Schlüssel für einen dauerhaften Frieden. Die brutale Ermordung des früheren Präsidenten Rabbani zeigt, dass dieser Aussöhnungsprozess auch in Zukunft von Rückschlägen begleitet sein wird. Dennoch muss und wird er weitergehen. Deutschland wird hierzu auf dem Weg nach Bonn seinen Beitrag leisten.
Während in immer mehr Ländern der Welt Menschen die Chance ergreifen, in Freiheit und Selbstbestimmung eine bessere Zukunft für sich zu bauen, kämpfen am Horn von Afrika Millionen Menschen um das schiere Überleben. Die Vereinten Nationen haben sich um die rasche humanitäre Hilfe sehr verdient gemacht. Deutschland tut hier und in vielen anderen Krisen, was in seinen Kräften steht, um die Not zu lindern.
Der Zerfall staatlicher Autorität und die Auswirkungen des Klimawandels verschärfen die ohnehin verheerende Situation.
Deutschland wird auch künftig an der Spitze des Kampfes gegen den Klimawandel stehen. Wie die Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung, wie der Schutz der Menschenrechte gehört der Kampf für den Klimaschutz zu einer präventiven Diplomatie. Er ist Teil einer vorausschauenden Friedenspolitik.
Ende dieses Jahres werden mehr als sieben Milliarden Menschen unseren Globus bevölkern. In dieser Welt setzt Deutschland auf starke Vereinte Nationen: als Forum politischer Konsensbildung, als Quelle umfassend legitimierter Regelsetzung, als Akteur in den Krisengebieten dieser Welt.
Die VN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bieten mehr Menschen als je zuvor Orientierung und Inspiration für eine kooperative Weltordnung und eine gerechtere Weltgesellschaft.
Aber die Vereinten Nationen müssen sich dieser Welt im Umbruch anpassen. Nur dann werden die hier getroffenen Entscheidungen politische Kraft, Durchsetzungsfähigkeit und Akzeptanz entfalten können.
Neue Kraftzentren entstehen in der Weltpolitik. Aus ihrer wirtschaftlichen Dynamik erwächst der Anspruch politischer Teilhabe. Die letzte Generalversammlung hatte sich der Reform der Vereinten Nationen angenommen. Entscheidende Fortschritte bleiben bislang aus.
Wir begrüßen, dass Sie, Herr Präsident, diese Reform erneut zu Ihrem Anliegen machen wollen. Wir werden Sie nach Kräften dabei unterstützen.
In diesem September vor 38 Jahren wurden zwei deutsche Staaten in die Vereinten Nationen aufgenommen. Mein Amtsvorgänger Walter Scheel sagte damals an dieser Stelle: Sie werden die Bundesrepublik Deutschland immer dort finden, wo es um die internationale Zusammenarbeit geht, um die Bewahrung des Friedens und um die Rechte des Menschen. Wenn wir etwas aus eigener bitterer Erfahrung gelernt haben, so ist es dies: Der Mensch ist das Maß aller Dinge."
Diesem Maßstab bleibt Deutschland weiter verpflichtet.
Ich danke Ihnen.