Redner(in): Guido Westerwelle
Datum: 24.05.2013
Untertitel: "Frankreich, Deutschland und die Zukunft Europas" - Rede von Außenminister Westerwelle beim Le-Monde-Diskussionsforum
Anrede: Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2013/130524-BM_Le_Monde.html
Mesdames et Messieurs,
viel wird in diesen Wochen in Deutschland und Frankreich über den Nachbarn gesagt und geschrieben. Ich bin heute nach Paris gekommen, weil ich überzeugt bin, dass es besser ist, miteinander als übereinander zu reden.
Ich bin im Rheinland aufgewachsen. Die deutsch-französische Aussöhnung war für mich eine meiner prägenden Jugenderfahrungen. Ich konnte den tiefen Graben noch spüren, den Kriege und vermeintliche Erbfeindschaft zwischen unseren Eltern und Großeltern aufgerissen hatten. Ich bin politisch groß geworden in der Bonner Republik, in der der feste Wille zum Ausgleich mit Frankreich zum Axiom deutscher Außenpolitik wurde. Diesen festen, beharrlichen Willen zur Gemeinsamkeit müssen wir heute den ungezählten Karikaturen und Mythen entgegensetzen, die diesseits und jenseits des Rheins vom Nachbarn entworfen werden.
Lassen Sie mich auf drei dieser Mythen über Deutschland eingehen.
Da gibt es erstens das Zerrbild eines Deutschland, das es angesichts der Krise an Empathie und Solidarität fehlen lasse.
Es lässt uns nicht kalt, was die Krise vielen Menschen in unserer Union zumutet. Wenn in manchen Regionen jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit ist, dann ist das weit mehr als ein wirtschaftliches Problem. Es nagt am Selbstwertgefühl jedes Einzelnen. Es nagt damit auch an den Grundfesten unserer Gesellschaften. Unser europäisches Haus steht nur dann auf festem Grund, wenn die Menschen überall auf unserem Kontinent eine gute Zukunft für sich und ihre Kinder sehen.
Da gibt es gar jene, die behaupten, Deutschland profitiere von der Krise und habe schon deshalb keinen Anlass, zu ihrer Überwindung beizutragen. Nichts könnte falscher sein. Im vernetzten Europa kann es uns auf Dauer nur dann gut gehen, wenn auch die Volkswirtschaften unserer Nachbarn gedeihen. Das ist nicht allein Ausdruck europäischer Solidarität. Das ist unser wohlverstandenes Eigeninteresse. Deutschland ist auch in der globalisierten Welt enger mit Belgien vernetzt als mit Brasilien. Mit niemandem auf der Welt aber sind wir wirtschaftlich und politisch enger verbunden als mit Frankreich.
Die Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen Ländern verheerende Ausmaße angenommen hat, ist die drängendste aller Aufgaben. Bessere Bildungschancen, bessere berufliche Bildung, rasche Investitionen aus dem Wachstumspakt und aus Projekten der Europäischen Investitionsbank stehen jetzt ganz oben auf der Tagesordnung, auch für die nächsten europäischen Gipfeltreffen. Europas junge Generation muss heute unsere Unterstützung spüren. Ich freue mich, dass Deutschland und Frankreich hier in den nächsten Wochen gemeinsam wichtige Anstöße geben.
Da gibt es zweitens den Mythos, dass der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands auf Kosten der Verarmung weiter Teile seiner eigenen Bevölkerung teuer erkauft worden ist. Dieses Argument hält den Realitäten in Deutschland nicht stand. Wir haben durch grundlegende Reformen zusätzliche Anreize geschaffen, eine Beschäftigung aufzunehmen. Heute ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland auf einem Rekordstand trotz gegenläufiger demographischer Entwicklung. Eine Wirtschaftspolitik, die zu mehr Beschäftigung führt, ist zugleich die beste Sozialpolitik.
Wir diskutieren heute in Deutschland, wie wir sicherstellen, dass Menschen mit einer vollen Arbeitsstelle von ihrem Lohn auch menschenwürdig leben können. Wir führen diese Debatte mit unserem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft vor Augen. Dies Leitbild deutscher Wirtschaftspolitik setzt auf die Wachstumskräfte unternehmerischer Kreativität und Dynamik, aber es weiß zugleich um die fundamentale Bedeutung gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Grundsätze unserer sozialen Marktwirtschaft stehen der "Prekarisierung" von Teilen unserer Gesellschaft entgegen. Die substanziellen Tarifabschlüsse der letzten Monate sind ein deutliches Indiz dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am unternehmerischen Erfolg in Deutschland teilhaben. Oberstes Ziel unserer Politik ist es, dieses Modell mit seiner Balance zwischen der Schaffung wirtschaftlichen Wohlstands und gleichzeitiger sozialer Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung zu erhalten.
Da gibt es drittens das Bild eines Deutschland, das angeblich einem "Dogma der Austerität" anhänge und der Frage neuen Wachstums mindestens gleichgültig, wenn nicht sogar ablehnend gegenüberstehe.
Das Wort "Austerität" gibt es in der deutschen Sprache nicht einmal. Auch für Deutschland steht die Frage, wie sich neues und zugleich nachhaltiges, dauerhaftes Wachstum fördern lässt, ganz oben auf der Agenda. Aber wir haben klar erkennen müssen, dass die aus dem Ruder gelaufene Schuldenpolitik in Europa, noch dramatisch beschleunigt durch die Finanzkrise, eine kritische Schwelle überschritten hat. Sie nimmt uns die Glaubwürdigkeit. Sie nimmt uns auf Dauer auch unsere Unabhängigkeit und Souveränität. Zu viele Schulden machen die Politik zum Sklaven der Finanzindustrie.
Die von allen Europäern gemeinsam beschlossene Politik einer schrittweisen Konsolidierung unserer Haushalte zur Ursache der fortdauernden Krise zu erklären, verkennt deshalb die Lage. Die Einhaltung vereinbarter Stabilitätskriterien ist unerlässliche Voraussetzung für neues Vertrauen, neue Investitionen, neues Wachstum.
Eine Fortsetzung der Schuldenpolitik würde Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Stillstand in Teilen unseres Kontinents auf Jahre zementieren. Sie würde den jungen Menschen Europas eine noch erdrückendere Bürde auferlegen. Sie würde die Solidarität unter den Generationen aushöhlen und so die Zukunft unseres Gesellschaftsmodells gefährden.
Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit legen deshalb nicht die Axt an die Wurzel unserer sozialen Marktwirtschaft, wie es heute einige behaupten. Im Gegenteil: Wir schulden diese Reformen Europas Jugendlichen, damit sie nicht länger durch abgeschottete Arbeitsmärkte ihrer Chance auf eine gute Zukunft beraubt werden. Sie bereiten den Boden für neuen Wohlstand und neue Arbeit. Das ist alles andere als graue Theorie. Es ist die ermutigende Erfahrung, die in den letzten Jahren viele unserer Nachbarn in Mitteleuropa, in Skandinavien und im Baltikum gemacht haben.
Wir glauben in Deutschland nicht nur, dass diese Reformen unerlässlich sind. Wir wissen, dass sie möglich sind. Anfang 2005 waren in Deutschland über fünf Millionen Menschen arbeitslos. Heute sind es unter drei Millionen. Wir wissen aber auch, dass Reformen Zeit brauchen, um zu wirken und dass sie unsere politischen Systeme bis zur Zerreißprobe belasten können. Deshalb stehen wir unseren Partnern und Nachbarn mit Unterstützungsmaßnahmen und Garantien in Höhe von mehreren hundert Milliarden Euro solidarisch zur Seite. Deutschland wird auch weiter solidarisch handeln.
Es ist unser ausdrückliches Ziel, dass alle Mitgliedstaaten der Eurozone und der EU so rasch wie möglich auf einen Pfad nachhaltigen Wachstums finden. Neben drängenden Strukturreformen arbeiten wir an der raschen Umsetzung des Wachstumspakts, den wir der Initiative der französischen Regierung verdanken; an der Vollendung unseres Binnenmarkts; an Investitionen in Forschung und Entwicklung; an der besseren Nutzung europäischer Gelder von Projektbonds und unausgeschöpfter Strukturfonds. Wir verhandeln außerdem neue umfassende Wirtschaftsabkommen mit unseren Partnern in der Welt, allen voran den USA, die uns zusätzliche Wachstumsquellen erschließen werden.
Der Dreiklang aus Solidarität, Solidität und Wachstum durch Reformen ist kein Dogma, er ist keine deutsche Obsession, und am allerwenigsten ist er ein deutsches "Diktat". Er ist die Konsequenz aus Fehlern der Vergangenheit, die wir korrigieren, und Herausforderungen der Zukunft, die wir meistern müssen.
Dies bringt mich zum Kern der Frage, vor welchen Herausforderungen Europa heute steht. Wenn wir über den Horizont unseres Kontinents hinausblicken, sehen wir eine Welt im Umbruch. Die Kräfteverhältnisse verschieben sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. China wächst in einem Tempo, das alle zwölf Monate zusätzlich die Wirtschaftskraft von Spanien erzeugt. Wollten wir uns von dieser Globalisierung abkoppeln, würden wir rasch verarmen und zum Spielball aufstrebender Mächte werden.
Da gibt es jene, die sagen, Deutschland sei zu wettbewerbsfähig. Es müsse nur über Löhne, Gehälter und Sozialleistungen die Kaufkraft kräftig erhöhen, dann würden die Ungleichgewichte in der Eurozone binnen kurzer Zeit verschwinden und alles wäre gut. Das mag in der Logik eines Europa als geschlossenen Systems stimmen. Aber Europa ist längst kein geschlossenes System mehr. Wir sind Teil einer globalisierten Welt, in der wir uns behaupten, in der wir bestehen, in der wir konkurrenzfähig sein müssen. Deshalb sollten wir die Kreativität unserer Menschen, ihre individuellen Begabungen, ihren Fleiß und ihre Energie so einsetzen, dass wir im Wettbewerb der besten Ideen, aber auch der Werte und Interessen bestehen können.
Wir haben in diesem Wettbewerb über unsere Unternehmen hinaus sehr viel anzubieten. Europa war immer mehr als Binnenmarkt und Freihandelszone. Es ist auch heute weit mehr als eine gemeinsame Währung. Europa ist vor allem anderen eine Kultur- und Wertegemeinschaft. Die gemeinsamen Werte sind das Fundament, auf dem dieses Europa steht. Sie sind das Erbe der Aufklärung, das Erbe der Freiheitsrevolutionen von 1789 und 1989. Das Ideal von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bildet noch heute den normativen Kern unserer Gesellschaften. Es stiftet Sinn und Identität. Die Attraktivität dieser Ideale und dessen, was wir in Europa darauf aufgebaut haben, ist weltweit enorm. Dieses kostbare Gut müssen wir schützen und mehren. Es ist unser stärkster Trumpf in der globalisierten Welt. Wir haben deshalb jeden Grund, in diesen Wettbewerb der Werte und Gesellschaftsordnungen selbstbewusst einzutreten.
Dieser Herausforderung ist kein europäischer Staat allein gewachsen. Frankreich und Deutschland mögen in Europa groß sein. In der Welt von morgen sind wir eher klein. Auch in diesem Sinn ist Europa heute unsere Schicksalsgemeinschaft. Frankreich und Deutschland sind Zwillinge in diesem Schicksal.
Wenn wir Europa im Innern festigen, wird es aus dieser Krise gestärkt hervorgehen. Bei dieser epochalen Aufgabe müssen Frankreich und Deutschland gemeinsam Führung übernehmen. Ohne Frankreich und Deutschland kommt Europa nicht voran.
Präsident Hollande hat vor wenigen Tagen den Weg skizziert. Frankreich und Deutschland müssen eine gemeinsame Vision für Europa schmieden. Wir müssen Europa über die Krise hinaus denken, um die Krise überwinden zu können.
In Frankreich spricht man von einer "Wirtschaftsregierung", wenn es darum geht, unsere Fiskal- , Finanz- und Wirtschaftspolitiken künftig noch enger zu verzahnen, damit nationale Fehlentwicklungen nicht länger ganz Europa aus dem Gleichgewicht bringen können. Wir Deutsche sprechen etwas nüchterner von "wirtschaftspolitischer Koordinierung", meinen aber letztlich etwas Ähnliches. Es geht darum, dass wir uns dort ständig und verbindlich abstimmen, wo wirtschaftspolitische Weichenstellungen in einem Land weitreichende Folgen für die gesamte Union haben können.
Was macht uns gemeinsam stark? Woher kommt unser Wachstum und wo brauchen wir mehr europäische Zusammenarbeit? Darüber sollten wir uns als erstes verständigen. Dann müssen wir klären, wie wir diese Zusammenarbeit konkret organisieren. Wir brauchen mehr Integration in der Eurozone, ohne dadurch neue Trennlinien in Europa zu schaffen.
Frankreich und Deutschland tragen zusammen mit 47 Prozent fast die Hälfte des europäischen Rettungsschirms ESM. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, wie wir diesen schrittweise zu einem Europäischen Währungsfonds, einem EWF, weiterentwickeln.
Zur Vision einer Politischen Union, wie sie Präsident Hollande vorgeschlagen hat, gehört auch, dass Europas Bürger Einfluss auf die Entscheidungen nehmen können, die sie unmittelbar betreffen. Der demokratische Disput auf nationaler und europäischer Ebene gehört ins Zentrum politischer Willensbildung. Nur so begegnen wir der Gefahr, dass die europäische Idee selbst Gegenstand von Protest und Ablehnung wird. Dazu gehört auch, dass wir klarer bestimmen, wo wir mehr Europa brauchen und auf welchen Feldern Brüssel kluge Selbstbeschränkung wahren sollte.
Europa hat sich verändert und die Welt um uns herum ebenso. Aber der deutsch-französische Schulterschluss unter Ebenbürtigen bleibt unerlässlich für die gute Zukunft unseres Kontinents.
Wenn wir den Nachbarn nicht als Karikatur wahrnehmen, sondern unsere so unterschiedlichen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Traditionen vor Augen haben, dann wird uns deutlich, was die deutsch-französische Verständigung tatsächlich ausmacht. Es ist nicht automatischer Gleichklang. Das Deutsch-Französische ist eine Methode. Eine Methode, um Europa voranzubringen zum Wohl unserer beiden Völker und unserer Nachbarn. Nicht exklusiv, sondern als Impuls für europäische Lösungen gemeinsam mit unseren Partnern. Diese Methode braucht zum Erfolg den beharrlichen Willen zum Ausgleich. Das ist die Lehre der 50 Jahre seit dem Elysee-Vertrag. Ich bin zuversichtlich, dass uns das auch in Zukunft gelingen wird bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei der dringlichen Entwicklung einer gemeinsamen Energiepolitik und auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, die sich in unserer unruhigen Nachbarschaft und darüber hinaus bewähren muss.
Es kommt jetzt auf Deutschland und Frankreich, auf das "Herz" der Europäischen Union an. Das kluge Wort von Jacques Delors gilt unverändert: "cette relation franco-allemande est un des arbres de vie de l ' Europe". Wir stehen in der Verantwortung. Für Deutschland ist dieses Europa nicht eine politische Möglichkeit unter mehreren. Eine gute Zukunft gibt es für Deutschland nur an der Seite eines starken, selbstbewussten Frankreich.
Ich kenne Frankreich seit frühen Jugendtagen. Ich glaube an ein Frankreich, das seinen Pessimismus abschüttelt. Ein Frankreich, das an seine Zukunft glaubt und die Veränderungen als Chance begreift. Ich glaube an ein Frankreich, das seine großartigen Stärken einsetzt, um Europa und die Welt von morgen mitzuprägen.
Deutschland braucht Frankreich. Deutschland braucht ein starkes Frankreich. Ohne ein starkes Frankreich gibt es kein starkes Europa. Ohne ein starkes Europa gibt es keine gute Zukunft für Deutschland. Deutschland braucht Europa. Deutschland will Europa.
Il n ' y a pas de "plan B" pour l ' Allemagne.