Redner(in): Frank-Walter Steinmeyer
Datum: 17.02.2014

Untertitel: Rede Außenminister Steinmeiers bei der vierten Deutsch-Belgischen Konferenz
Anrede: sehr geehrter Herr Premierminister,sehr geehrter Herr Kollege Außenminister,sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten aus Belgien,
Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2014/140217-BM_D_Belg_Konf.html


Majestät, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Vierten Deutsch-Belgischen Konferenz in Berlin!

Verehrte Majestät es ist uns eine besondere Ehre, Sie im Auswärtigen Amt begrüßen zu dürfen. Sie unterstreichen mit Ihrer Anwesenheit bei dieser Konferenz, wie sehr Ihnen der Zusammenhalt zwischen Deutschen und Belgiern am Herzen liegt und dies ist ein gutes, ein wichtiges Zeichen ganz besonders im Gedenkjahr 2014. Als vor 100 Jahren der erste Weltkrieg ausbrach, machte Stefan Zweig gerade Urlaub in Belgien. Er liebte die Gastfreundlichkeit des Landes. In seinem Werk "Die Welt von Gestern" beschreibt er eindrucksvoll die sommerliche Sorglosigkeit, von der das kleine belgische Seebad Le Coq im Juli 1914 erfüllt war. Die Nachricht vom Kriegsausbruch zerstörte die Idylle am Meer jäh und unerwartet. Die Vorkommnisse, von denen Einheimische wie Urlauber erst nach und nach erfuhren, erschienen Stefan Zweig --in seinen eigenen Worten-- "völlig absurd". Gerade noch so erwischte er einen Platz im letzten Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging. Als der Zug über die Grenze fuhr, so beschreibt Zweig, rollten ihm auf dem Nachbargleis bereits deutsche Kanonenzüge entgegen schwer beladen mit Dicken Berthas, um im Nachbarland ihr zerstörerisches Werk zu beginnen. Zweig schreibt: "Man konnte es nicht glauben, weil man einen solchen Irrwitz nicht glauben wollte."

Dieser "Irrwitz" er stand am Beginn der Urkatastrophe Europas. Der "Irrwitz" in den Augen des großen Schriftstellers spiegelt sich auch in der neueren historischen Forschung: Das Jahr 1914 war eben kein Jahr, in dem der Krieg ausbrechen musste. Viele haben ihn für unwahrscheinlich gehalten. Christopher Clark hat in seinem Buch "Die Schlafwandler" minutiös dokumentiert, wie sich in wenigen Wochen des Jahres 1914 aufgrund von Sprachlosigkeit, Entfremdung, militärischer Überheblichkeit und nationaler Eiferei eine diplomatische Krise zum Flächenbrand ausweitete, und ein Weltkrieg begann, der am Ende 17 Millionen Opfer kosten sollte. Binnen weniger Wochen war die Lage nicht mehr beherrschbar, alle Verbindungen gekappt und der Tod fraß sich von Haus zu Haus. Hundert Jahre später erinnern wir uns der Leiden und der Zerstörung, ganz besonders in unserem Nachbarland Belgien. Die Gräuel an der Zivilbevölkerung in den belgischen ' Märtyrerstädten ‘ , das Massaker von Dinant und die Zerstörung der Universität von Löwen sie sind in das Gedächtnis unserer beiden Länder schmerzhaft eingebrannt.

Und dennoch das Gedenkjahr 2014 ist zugleich Anlass für eine Bilanz darüber, wie weit wie unendlich weit! wir seit jenen Tagen gekommen sind. Seit fast 70 Jahren herrscht Frieden im Herzen Europas. Die Geschichte dieses Friedens ist undenkbar ohne die Geschichte der Europäischen Union. Sie nahm in den fünfziger Jahren ihren Anfang, und zwar unter genau denselben Nachbarn Belgien und Deutschland, Holland, Luxemburg, Frankreich und Italien, die noch zutiefst gezeichnet waren von den Wunden zweier Weltkriege.

Was seither in Europa entstanden ist, ist mehr als eine Aneinanderreihung völkerrechtlicher Verträge. Über die vergangenen Jahrzehnte haben die Staaten Europas ein gemeinsames Zivilisationsmodell geschaffen. Ein einzigartiger Grundstein dieses europäischen Modells ist die Überzeugung: Eine funktionierende Marktwirtschaft und der innere Zusammenhalt der Gesellschaft gehören untrennbar zusammen. Es gibt zumindest auf Dauer das eine nicht ohne das andere.

Mir ist angenehm aufgefallen, welche Leitfrage über dieser Deutsch-Belgischen Konferenz und Ihren Diskussion am heutigen Tage steht. Sie lautet: "Wie wünschen sich Belgier und Deutsche Europa?"

Ich fand das fast schon überraschend, weil sich doch die Nachrichtensendungen und Talkshows heute fast immer um die umgekehrte Frage drehen: "Wie wünschen wir uns Europa nicht?" Das erleben wir in der aufgeheizten Debatte über Freizügigkeit. Wir hören es, wenn Unmut über die vermeintliche "Regulierungswut" der Europäischen Kommission laut wird. Wir spüren es vor allem dort, wo die wirtschaftliche Krise weiterhin für große soziale Härten sorgt, und zwar gerade unter jungen Leuten. Für viel zu viele junge Menschen ist Europa heute nicht mehr gleichbedeutend mit Aufstieg und Zukunft, sondern im Gegenteil mit Dauerkrise und Perspektivlosigkeit. Europa mag die Dämonen von 1914 gebannt haben ein für alle Mal abgeschafft sind sie nicht.

Deshalb wäre es fahrlässig, über diese Probleme mit wohlfeiler Hurra-Rhetorik hinwegzugehen. Wir können die Errungenschaften der europäischen Aussöhnung, auf die wir Politiker in unseren Reden so gern verweisen, nicht einfach unverbunden neben diesen Sorgen stehen lassen. Sondern wir müssen beweisen, dass das Modell Europa auch heute noch Antworten auf die konkreten Probleme der Menschen bietet.

Dazu gehört erstens, dass wir die Wirtschaftskrise mit einer Mischung aus Konsolidierung und Wachstumsimpulsen bewältigen, damit wir vor allem die Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas in den Griff kriegen. Dazu gehört zweitens, dass wir über europäische Mechanismen zum Schutz unserer gemeinsamen Grundwerte nachdenken, ohne einander unter europäischen Nachbarn bevormunden zu wollen. Dazu gehört drittens, dass wir die Freizügigkeit in Europa verteidigen und zugleich die handfesten Probleme angehen, die in manchen Kommunen aus ihr erwachsen.

Es gibt im Jahr 2014 wahrhaftig keinen Grund, sich zurückzulehnen. Europa ist "Work in Progress" und seine Baustellen sind zahlreich und groß. Doch wir haben die Mittel, die Menschen, die Ideen, um diese Arbeit hinzukriegen. Davon bin ich überzeugt!

Und wir, die Generation, die Krieg und Zerstörung nicht mehr miterleben musste, wir haben nicht das Recht, jetzt in der europäischen Krise zu resignieren. Wir haben die Pflicht, das große europäische Einigungswerk zu erhalten und für alle Europäer wieder zu einem Anker von Zukunft zu machen. Als Außenminister, der ich in vielen Regionen unterwegs bin, die uns vielleicht geographisch fern sein mögen, kann ich sagen: Der europäische Traum von Frieden, Freiheit und sozialem Zusammenhalt ist nicht allein ein Traum von Europäern. Das muss uns bewusst sein, und unsere beiden Länder, Belgien und Deutschland, werden dabei helfen, dass dieser Traum gelebt wird.