Redner(in): Joachim Gauck
Datum: 21. Juni 2015

Untertitel: Der Bundespräsident hat am 21. Juni eine Ansprache zum 850. Jubiläum des Doms zu Brandenburg gehalten: "Dass der Dom zu seinem 850. Jubiläum das ist, was er ist, hat nicht nur mit historisch begründeter Identität zu tun. Es ist auch das Verdienst einer überkonfessionellen, aufgeschlossenen und in jeder Hinsicht zeitgemäßen Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft, in der Sinn für das beständig Gewachsene und die Freude am Neuen zusammenkommen."
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/06/150621-Brandenburgdom-Jubilaeum.html


Beständig neu." Ein Jubiläumsmotto aus zwei Worten und doch zugleich ein ganzer Spannungsbogen. 850 Jahre Dom zu Brandenburg: Das ist wirklich ein großes Stück Glaubens- und Kulturgeschichte. Die Predigt hat es eben auf wunderbare Weise ausbuchstabiert.

Wäre ich heute als Christ und Privatmann eingeladen, würde ich jetzt in meine alte Haut schlüpfen. 25 Jahre lang war ich Pastor der evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburg. Und wie oft habe ich wohl über das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder vom gütigen Vater gepredigt, wie wir es gerade gehört haben. Ja, dazu fällt mir eine Menge ein, wie vielen von uns. Aber ich belasse es mal bei meinem Herzenswunsch, dass immer wieder wie die Zeiten auch sein mögen und wie fern man von Gott auch sein mag, wenigstens einmal im Leben eines jeden Menschen, dieser eine Satz gilt: Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.

Ja, das wünsche ich Ihnen und uns allen. Denn wir sind ja nicht immer die, die ihren Weg zielgenau verfolgen, sondern wir sind die, die irren. Genau davon erzählt die Kulturlandschaft, die religiöse Landschaft, in der wir aufgewachsen sind und die uns geprägt hat. Sie merken, ich versuche gerade eine Brücke zu bauen zwischen dem Geistlichen und dem Weltlichen. Als Bundespräsident, der hier für die weltlichen Themen steht, will ich die einfache Frage stellen: Was bedeutet uns dieser Dom, dieses traditionsreiche Gotteshaus heute?

Wenn ich eine Formel finden sollte, die nicht nur die Glaubenden und die Gemeinde betrifft, sondern die Menschen, die hier wohnen, dann würde ich sagen: Identität. Der Dom erzählt uns, wie die Brandenburger wurden, was sie sind. Hier haben Menschen nicht nur gebetet, sie haben auch gezweifelt und gehofft, gefeiert und gelebt. Manchmal haben sie sich gegen Irrlehre und Verfolgung verteidigen müssen. Wer hier auf Spurensuche geht, der entdeckt neben Zeugnissen des Glaubens die Ängste und Träume einer längst vergangenen Zeit, Kunstfertigkeit und Bildungsideale, Machtwillen und auch so manches Fehlurteil.

Ein faszinierender Lernort. Als ich das letzte Mal hier war da hat mich Altbischof Wolfgang Huber begleitet, blieb ich doppelt so lange wie geplant, weil es so viel zu entdecken gab. Die Wagner-Orgel, der Marien-Altar, die Krypta, der Kreuzgang, die Werkstatt, in der die kostbaren Textilien restauriert werden: Ich fühlte mich schon damals wie auf einer Zeitreise, lange bevor die Jubiläumsausstellung eröffnet war. Es freut mich sehr, dass alle diese Schätze nun einer großen Öffentlichkeit zugänglich sind und dass so viele zusätzliche Exponate gezeigt werden historische Urkunden, Miniaturen und der 600 Jahre alte Chormantel mit dem Roten Adler.

Identität ist, was uns als Teil unserer kollektiven Geschichte ergriffen hat. Identität ist auch so etwas wie ein Rahmen, in den wir uns selber setzen. Er umfasst Vergangenes, Siege und Niederlagen, große Erzählungen wie auch Tabus unterschiedlicher Epochen. Und zu unserer Identität gehört auch die Dimension Zukunft, gehören die Ziele, die sich ein Einzelner oder die Gemeinschaft setzt, gehören die Hoffnungen, die wir in unseren Herzen tragen. Religiöser Glaube vereint beide Elemente in sich: Geschichte und Verheißung, Herkunft und Zukunft, Beständigkeit und Offenheit für das Neue.

An einem Ort wie diesem spürt man etwas von der jahrhundertelangen Suche der Menschen nach Geborgenheit, den Hunger nach Trost und nach dem Sinn des Lebens, nach Antworten, die der Dom unendlich vielen, die hierher kamen, auch geschenkt hat. Und man spürt die Strahlkraft dieses Gotteshauses bis heute. Die Schüler der evangelischen Grundschule haben sie beim Malen der sonnendurchfluteten Fensterrose eingefangen. Die Jugend vom Domgymnasium erlebt sie bei einem aktuellen Projekt, wenn sie Zeitzeugen darüber befragt, was 1989 in diesem Dom geschah. Und natürlich beim musikalischen Auftritt im Hochchor, so wie heute.

Nicht nur die Gemeindeglieder schätzen diesen Ort, der so vielen Stimmungen Raum bietet: der Nachdenklichkeit und der Einkehr genau wie der Expressivität von Konzerten, Lesungen oder Theateraufführungen. Diese Mischung hat auf der Dominsel eine einzigartige Atmosphäre geschaffen. Und inzwischen auch ein überregionales Renommee.

Könnte Vicco von Bülow dieses Jubiläum erleben ich denke heute sehr gern an ihn, er wäre stolz darauf, dass der Hilferuf "Dom in Not" nicht zuletzt dank seiner prominenten Unterstützerinnen und Unterstützer Gehör fand. Nicht alle von ihnen sind heute bei uns. Viele leben schon nicht mehr, so wie Vicco von Bülow, unser Loriot. Aber wir wollen doch in dieser Stunde voller Dankbarkeit an sie denken. Meine Lebensgefährtin Daniela Schadt zum Beispiel, damals im fernen Nürnberg lebend und arbeitend, wurde von Vicco von Bülow angeregt, in die große Gemeinde der Denkmalunterstützer und -schützer einzutreten. Und sie dachte: "Wenn der Vicco von Bülow mich bittet, dann will ich doch dabei sein." So ging es offenbar vielen. Das war gut. Und das war auch bitter nötig. In den 1990er Jahren drohte der Dom ja in sich zusammenzustürzen. Das gehört auch zu den Geschichten, die wir einander erzählen müssen: Bauten können verfallen, und Identitäten können sich verlieren. Aber Zukunft wächst, wenn Ich und Du zu einem starken Wir zusammenfinden.

Pünktlich im 25. Jahr der Deutschen Einheit wird die Instandsetzung des Doms nun abgeschlossen. Das ist eine schöne Fügung. Und ein guter Grund für mich, allen Beteiligten noch einmal ausdrücklich und mit Nachdruck ich könnte sagen: von Staatswegen herzlich zu danken: den Engagierten in der Gemeinde, den staatlichen Stellen, den Institutionen, Vereinen und natürlich all den privaten Unterstützern, die diese Rettung ermöglicht haben mit vielen Stunden Einsatz und vielen Euro.

Dass der Dom zu seinem 850. Jubiläum das ist, was er ist, hat nicht nur mit historisch begründeter Identität zu tun. Es ist auch das Verdienst einer überkonfessionellen, aufgeschlossenen und in jeder Hinsicht zeitgemäßen Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft, in der Sinn für das beständig Gewachsene und die Freude am Neuen zusammenkommen. Dazu meinen herzlichen Glückwunsch!