Redner(in): Johannes Rau
Datum: 17. Juli 2001
Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/07/20010717_Rede.html
Zwischen Wissen und Machen liegen häufig Welten. Was hilft die beste Theorie, wenn sie sich nicht der Praxis stellt oder für die Praxis nicht taugt? Das beste Vorbild ist immer noch ein gutes Beispiel. Daran herrscht leider oft Mangel. Darum ist der Initiativpreis Aus- und Weiterbildung so wichtig. Hier geht es darum, ganz praktische Beispiele und Initiativen auszuzeichnen, von denen andere lernen können.
Die Otto-Wolff-Stiftung, der DIHK und die Wirtschaftswoche machen sich mit dem Initiativpreis Aus- und Weiterbildung um eine ganz wichtige Zukunftsaufgabe verdient. Ein solches Engagement sollte auch gebührend gewürdigt werden. Darum bin ich heute gerne hierher gekommen. II.
Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt hat sich im letzten Jahr deutlich entspannt, jedenfalls in den alten Ländern. In den neuen Ländern war und ist die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage immer noch viel zu groß. Ende Mai 2001 war die Lehrstellenbilanz in den alten Ländern ausgeglichen. In den neuen Ländern fehlten noch 113.000 Lehrstellen. Ich hoffe, dass sich diese Bilanz im Laufe des Jahres noch bessern wird.
Am letzten Freitag habe ich nicht weit von hier, in Ludwigsfelde, ein Werk von MTU besucht. Gemeinsam mit anderen Unternehmen hat MTU eine Initiative gestartet, um in der Region mehr als einhundert neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Das ist eine tolle Sache. Da bildet sich eine Form der Solidarität zwischen Unternehmen heraus, die bemerkenswert und gut ist. Davon können gewiss auch andere Unternehmen lernen, um Fachkräfte für die Zukunft zu sichern.
Es gibt ja ganz konkrete Vorschläge, wie die Lehrstellensituation verbessert werden kann. Die reichen von Mobilitätshilfen für Lehrlinge über gemeinsame Lehrwerkstätten bis hin zu finanziellen Hilfen für kleine Handwerksbetriebe, die sonst nicht ausbilden können. Das Patenschaftsprogramm Lehrstellen, das ja im Bündnis für Arbeit beschlossen worden ist, scheint mir dafür ein guter zusätzlicher Ansatzpunkt zu sein.
Ich habe gehört, dass es innerhalb der Wirtschaftsverbände Überlegungen gibt, diesen Beschluss in Frage zu stellen Das hielte ich für keine kluge Entscheidung, vor allem mit Blick auf die jungen Menschen in den neuen Ländern. in ihrem Interesse brauchen wir zusätzliche Anstrengungen und sollten nicht Beschlossenes in Frage stellen.
Darum möchte ich die Unternehmer aufrufen: Unternehmen sie etwas gegen den Lehrstellenmangel! Bilden Sie junge Menschen aus oder helfen sie mit, dass junge Menschen in anderen Betrieben eine Lehrstelle finden!
Jeder einzelne Betrieb und jedes Unternehmen könnte damit helfen, den sozialen Frieden in unserem Land zu wahren. Auch der ist eine Größe, die man nicht vernachlässigen darf.
Es gibt in Deutschland mehr als 1,2 Millionen Betriebe, die ausbilden dürfen. Aber nur die Hälfte davon bildet aus. Das sind viel zu wenige. Rund 35 Prozent der ausbildungsberechtigten, aber nicht ausbildenden Betriebe sagen, dass ihnen Lehrlinge zu teuer seien. Wenn es über Patenschaften, Ausbildungsverbünde, finanzielle Hilfen und andere Instrumente gelänge, dass jeder dieser Betriebe einen einzigen Lehrling einstellte, dann hätten wir mit einem Schlag 200.000 Lehrstellen mehr.
Ich wünschte mir, dass die ausbildenden und die noch nicht ausbildenden Betriebe über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus noch stärker als bisher über solche Möglichkeiten redeten. Dann müssten wir das Lehrstellenproblem in den Griff bekommen, auch in den neuen Ländern.
Ich halte im Übrigen bei vielen Jugendlichen den Vorwurf für falsch, sie hätten resigniert, sie hätten sich mit einer Karriere als Arbeitsloser schon abgefunden. Die letzte Shell-Studie "Jugend 2000" zeigt ganz deutlich, dass das wichtigste Ziel der meisten Jugendlichen ein Arbeitsplatz und Erfolg im Beruf als Grundlage der persönlichen Unabhängigkeit gilt. Das sind doch gute Voraussetzungen! Darauf lässt sich doch aufbauen!
Junge Menschen müssen die Möglichkeit haben, ihr Leben so zu gestalten, wie wir Älteren das auch konnten. Die heutige Jugend ist nicht fauler als frühere Generationen. Die Bedingungen haben sich aber geändert. Darauf müssen sich Schulen, Berufsschulen, Unternehmen und die jungen Menschen selber einstellen.
In unserem Land gibt es rund 80.000 Jugendliche ohne Ausbildungsreife. Da müssen Schulen und berufliches Bildungssystem gemeinsam Wege finden, damit auch diese jungen Menschen eine Perspektive bekommen. Ich bin allerdings der Meinung: So wenig es Sache der Schulen ist, spezifische berufliche Fähigkeiten zu vermitteln, so wenig ist es Sache der Ausbildungsbetriebe, die Grundfähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln.
Ich sage auch den jungen Menschen:
Da muss auf allen Seiten noch manches bewegt werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen können. III.
75 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das ist bedrückend. Manch einer macht dafür unser System der dualen Bildung verantwortlich. Da gibt es gute und schlechte Argumente.
Die Kritik gilt neben den schulischen Leistungen den zu langen Verfahren beim Erstellen neuer Berufsbilder und insgesamt zu geringem Praxisbezug. Zugleich wird eine breitere Grundausbildung verlangt, die das Neulernen und Umlernen fördert. Das alles sind wichtige Themen. Manche davon stehen aber in einem Spannungsverhältnis zueinander, das kaum aufzulösen ist.
Alle kritischen Fragen ändern nach meiner Meinung nichts daran: Unser duales Ausbildungssystem bietet den jungen Menschen eine hervorragende Berufsausbildung und eine solide Basis für den weiteren beruflichen Weg. Das muss bleiben! Die berufliche Bildung muss auch weiterhin ein internationales Markenzeichen unseres Landes sein.
Deshalb müssen wir die berufliche Bildung behutsam und mit Bedacht an veränderte Anforderungen anpassen. Ich bin weder für den Rückzug des Staates aus der beruflichen Bildung noch für die Verstaatlichung der beruflichen Bildung.
Ein gutes Beispiel für die Richtung, in die es gehen muss, sind die neuen und die modernisierten Berufsbilder, die in den vergangenen Jahren entwickelt wurden. Sie machen es jungen Menschen leichter, ihre Lehrstelle nach Eignung und Interesse auszuwählen. So kann die Motivation bis zum Ende der Ausbildung erhalten bleiben.
Von 1996 bis zum August des vergangenen Jahres sind durch die neu geschaffenen Berufe 5.600 neue Ausbildungsbetriebe gewonnen worden. 35.000 neue Ausbildungsverträge sind in diesen neuen Berufen geschlossen worden. Das ist ein guter Erfolg.
Der Berufsschulunterricht kann häufig auch betriebsnäher gestaltet werden und stärker mit den zeitlichen Bedürfnissen der Betriebe abgestimmt werden. Das würde die Auszubildenden nicht über Gebühr belasten und käme den Betrieben entgegen.
Es wäre auch gut, wenn die Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung mit der schulischen Bildung vorangebracht würde. Das gilt sowohl für den Hochschulzugang als auch für die Karriereleitern in den Betrieben.
Wir müssen solche Wege weiter gehen, die zu mehr Flexibilität und Durchlässigkeit führen. Vielleicht kann es sogar noch etwas schneller gehen als in den vergangenen Jahren. Dann können wir noch viel erreichen. IV.
Der Volksmund sagt: "Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmermehr". Das mag ja als pädagogische Aufforderung für die Grundschule noch passen. Die berufliche Wirklichkeit trifft das schon lange nicht mehr. Viele Dinge kann Hänschen noch gar nicht lernen, weil Hans sie erst erfinden wird. Und die Altersgenossen von Hans werden lernen müssen, damit umzugehen.
Technische Veränderungen und die Internationalisierung der Wirtschaft machen es nötig, alle beruflichen Qualifikationen ständig weiterzuentwickeln. Lebenslanges Lernen ist heute der Normalfall. Die eine berufsqualifizierende Ausbildung reicht schon lange nicht mehr für ein ganzes Arbeitsleben. Die Anforderungen an Wissen und Können nehmen immer mehr zu.
Lebenslanges Lernen ist notwendig, damit die Unternehmen bei immer kürzerer Halbwertzeit des Fachwissens wettbewerbsfähig bleiben. Lebenslanges Lernen ist notwendig, damit die Menschen orientierungsfähig bleiben und so an den gesellschaftlichen Entwicklungen teilhaben können.
Darum halte ich es auch für so wichtig, dass in unseren Schulen nicht nur Wissen vermittelt wird. Das ist gewiss richtig und notwendig. Aber mindestens genau so wichtig ist es, die Fähigkeit zu lernen zu vermitteln. Wissen veraltet, aber die Fähigkeit zu lernen bleibt. Darauf können die Betriebe mit ihren speziellen Anforderungen auf Dauer aufbauen.
Im Herbst des Jahres 2000 hat der DIHT - so hieß der DIHK ja bis vor kurzem noch - Unternehmer über ihre Einschätzung des künftigen Ausbildungsmarktes befragt. Ein wichtiges Ergebnis war die Feststellung, dass die Unternehmen zunehmend Arbeitskräfte mit Qualifikationen benötigen, die nur an einem ganz speziellen Arbeitsplatz gebraucht werden. Solche Qualifikationen können nur die Unternehmen selber vermitteln.
Langfristige Investitionen in den Bildungsbereich steigern auch in den Betrieben die Produktivität. Je stärker sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für neue Aufgaben qualifizieren, desto flexibler und intelligenter wird das Unternehmen. Das schafft und sichert langfristig Vorteile im Wettbewerb.
Im Jahr 1998 haben die Unternehmen 34,4 Milliarden Mark für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgegeben. Das Geld ist gut angelegt. Wenn es noch ein wenig mehr würde, dann wäre das gewiss gut.
Das sind Investitionen in eine erfolgreiche und sichere Zukunft. Das haben inzwischen viele Unternehmen und die Gewerkschaften erkannt und immer mehr handeln danach. Ein gutes Beispiel dafür ist der vor kurzem tarifvertraglich vereinbarte Anspruch auf Weiterbildung in der Metallindustrie Baden-Württemberg. Auch die dort vereinbarte Qualifizierungsagentur ist sehr bemerkenswert. Sie hilft vor allem kleinen und mittleren Betrieben, Mitarbeiter auf dem Stand des Wissens zu halten. V.
Die Palette der betrieblichen Bildungsmaßnahmen ist außerordentlich breit. Die Preisträger des heutigen Tages und ihre Initiativen zeigen das deutlich. Das reicht von der Weiterbildung für Führungskräfte über die Verknüpfung der theoretischen mit der praktischen Ausbildung bis hin zu der Möglichkeit, Erfahrungen im Ausland zu sammeln.
Ich freue mich besonders über den Sonderpreis für die Initiative "Ausländische Unternehmen schaffen Ausbildungsplätze". Ich will der Würdigung der Preisträger nicht vorgreifen, aber ich halte es für wichtig, dass ausländische Unternehmen verstärkt Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Hier gibt es immer noch große Defizite.
Es gibt rund 280.000 Unternehmerinnen und Unternehmer ausländischer Herkunft in Deutschland. Sie sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Sie bieten einer Million Menschen Arbeit und erzielen einen Jahresumsatz von rund 36 Milliarden Mark. Aber diese Unternehmerinnen und Unternehmer stellen leider relativ wenige Ausbildungsplätze zur Verfügung. Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Bildung ( aus dem Jahr 1997 ) könnten sie 11.000 zusätzliche Plätze schaffen.
Der Grund für das geringe Engagement liegt häufig in fehlenden Kenntnissen über das deutsche Ausbildungssystem. Inzwischen gibt es aber viele regionale Initiativen der Industrie- und Handelskammern, die für alle Fragen zur Verfügung stehen. Darum appelliere ich an die Unternehmerinnen und Unternehmer ausländischer Herkunft: Nutzen Sie die bestehenden Informationsangebote. Beteiligen Sie sich an der Gemeinschaftsaufgabe Ausbildung!
Ich will am 29. November dieses Jahres an einer Veranstaltung in Köln teilnehmen, bei der solche Initiativen im Vordergrund stehen. Das Interesse daran ist jetzt schon groß. Darüber freue ich mich.
Die Aus- und Weiterbildung lebt von erfolgreichen Beispielen, ganz gleich, ob es um den Führungskräftenachwuchs geht oder um die Ausbildung in praktischen Tätigkeiten. Von denen also, die es gut machen und von denen, die es noch besser machen. Zu dieser letzten Gruppe gehören die vier Preisträger, die gleich ihre Auszeichnung aus der Hand von Otto Wolff von Amerongen bekommen. Sie produzieren keine Konzepte für die Schublade. Sie tun etwas.
Darum sage ich den Preisträgern: Sie haben die Auszeichnung verdient, denn Sie machen sich um andere verdient.