Redner(in): Roman Herzog
Datum: 22. März 1995

Quelle: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1995/03/19950322_Rede.html


Zu dieser Feierstunde bin ich mit wirklicher Freude gekommen. Die physikalische Forschung ist ein zentrales Element aller natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen und damit eine herausragende Grundlage für unsere auf Technik beruhende Wirtschaft und Gesellschaft. Die 150 Jahre, auf die Sie heute zurückblicken, haben unser Leben in einem Maße verändert wie nie zuvor ein Zeitraum der Geschichte.

Das Erkenntnisstreben der Physiker hat uns den Kosmos - vom Atom und seinen Bausteinen bis zu fernen Galaxien - sehen und zum Teil sogar verstehen lassen. Zugleich ist daraus das Bewußtsein für die Möglichkeit gewachsen, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu nutzen. Die Diskussion über den verantwortungsvollen Umgang, die sich rückblickend exemplarisch an der Entwicklung der Atombombe und personell an den Namen Einstein und Oppenheimer festmachen läßt, bleibt auch künftig eine der zentralen Anforderungen an eine Welt, die von Naturwissenschaft und Technik geprägt ist.

Nicht alles Machbare ist verantwortbar. Jedes Tun muß ethisch legitimierbar sein. Aber dasselbe gilt eben auch für das Unterlassen. Auch die Beschränkung des Blickes auf mögliche Gefahren ohne Berücksichtigung des möglichen Nutzens ist moralisch nicht vertretbar. Für diese Diskussion, aber auch für unsere Zukunft insgesamt brauchen wir ein forschungs- und technologieoffenes Klima. Hierfür zu werben ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.

Die Physik hat unsere Welt verändert; unsere Wirtschaftsentwicklung und unser Wohlstand sind letztlich ihre Kinder. Der Weg der Volkswirtschaften von der ehemals dominierenden Landwirtschaft über die Industrialisierung bis zur heutigen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft wäre ohne die Technik nicht denkbar gewesen, die ihrerseits wieder auf der Grundlage physikalischer Erkenntnisse entstanden ist. Was liegt näher, als auch heute von der Physik und der Wissenschaft überhaupt immer wieder neue Impulse zur Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten einzufordern? Bei so manchem Meinungsträger herrscht sogar der Glaube vor, neue Technologien und wirtschaftliches Wachstum seien automatisch schon gesichert, wenn nur die Damen und Herren Wissenschaftler ihre "Elfenbeintürme" verließen oder wenigstens deren Tore für den Technolgietransfer öffneten. Wenn das nur so einfach wäre!

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft ist im letzten Jahr mit der beachtenswerten Denkschrift "Die Zukunft braucht Physik" an die Öffentlichkeit getreten. Darin ist u. a. das komplexe Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ausführlich und überzeugend dargelegt worden.

Voraussetzung jeder Innovation ist zunächst einmal die Kreativität des Menschen. Wir dürfen nicht in die Versuchung geraten, Denken durch vorhandenes Wissen zu ersetzen, auch wenn es im schönsten Computer gespeichert ist. Denken muß vielmehr zu neuem Wissen führen.

Wir verfügen über kreative Fähigkeiten. Aber wir müssen sie auch nutzen und fördern. Denn Kreativität und Originalität sind Grundlagen wissenschaftlichen Erfolges. Und damit sind sie Voraussetzung jener Innovationen, ohne die unsere wirtschaftliche Entwicklung keine Zukunft hätte. Ich bezweifle, daß bei uns wissenschaftliche Kreativität noch ausreichend gefördert, ja daß sie auch nur nicht behindert wird. Die Fragen, die sich daraus ergeben - an die Wissenschaftspolitik, an die Ausgestaltung der Forschungseinrichtungen und Hochschulen, an die Steuerpolitik, an den Geisteszustand mancher staatlicher und ebenso mancher industrieller Bürokratien - , kann ich heute nicht genauer spezifizieren.

Aber schauen wir auf das andere Ende der Fahnenstange. Viel zu oft wird m. E. etwa übersehen, daß Erkenntniszugewinn zwar eine notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Voraussetzung für technik-induziertes Wachstum ist.

Dazu gehört z. B. auch, Erfindungen mit Patenten so zu sichern, daß sie in unserer eigenen Volkswirtschaft Nutzen bringen. Es ist fatal, wenn Konkurrenten die Märkte beherrschen, deren grundlegende Technik weitgehend in Deutschland entwickelt worden ist. Die Entwicklung bei Computern oder in der Unterhaltungselektronik darf sich in der zukunftsträchtigen Umwelt- und Medizintechnik, um nur zwei Beispiele zu nennen, nicht wiederholen.

Der Präsident des Deutschen Patentamtes weist mit vollem Recht immer wieder darauf hin, daß wir die Ergebnisse aus wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung stärker schützen müssen. Es müssen also auch Patentanmeldungen gefördert und erleichtert werden. Das reicht von der Ermutigung zur Anmeldung - insbesondere bei den Hochschulen und den großen Forschungseinrichtungen gleich welcher Spezies - bis hin zu Gebühren und Steuerfragen.

Die Förderung von Erfindungen betrifft aber auch die Anerkennung der Bedeutung technisch-schöpferischer Leistungen durch die Gesellschaft. Der Erfinder ist kein "Spinner" oder "Daniel Düsentrieb", er muß in der Öffentlichkeit wieder das Ansehen erhalten, das er vor hundert Jahren hatte und das Deutschland zu seiner wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Blüte verhalf.

Bei alldem ist es wichtig, Forschungsergebnisse möglichst schnell in marktgängige Produkte umzusetzen. Nur als Blaupausen-Produzent ist unsere Volkswirtschaft nicht überlebensfähig. Zumal es bei der weltweiten Mobilität von Kapital und Spitzenwissenschaftlern eine Illusion wäre, zu glauben, ausgewanderte Produktionen würden nicht langfristig Forschungsinstitutionen nachziehen.

Alle Formen der Forschung sind notwendig, wenn die Wissenschaft gedeihen soll. Was wir aber entscheidend verbessern müssen, sind der Transfer der Erkenntnisse und die Abstimmung der Ziele industrieller Produktentwicklung mit den entsprechenden Forschungsbereichen und ihren Organisationen. Ich warne hier aber die eilfertigen Konzeptemacher. Hier können keine abstrakten Modelle und auch keine theoretischen Aufrufe helfen. Einzig und allein kommt es darauf an, Transfer, Vernetzung zu praktizieren. Wissenschaftler, Konstrukteure, Markt- und Absatzforscher müssen sich ganz einfach "zusammensetzen".

Vielleicht ist es ein symbolträchtiges Zusammenfallen der Ereignisse, daß sich am heutigen Tage beim Bundeskanzler der von ihm berufene Rat für Forschung, Technologie und Innovation konstituiert, der die Politik bei der Gestaltung der Zukunft beraten soll. Ich setze darauf große Hoffnungen.

Nur in einer Randbemerkung will ich noch darauf hinweisen, daß Forschung und Produktion künftig mehr als je von der Qualifikation aller Beteiligten abhängt. Und die wird nicht erst in den Forschungslabors geschaffen, sondern in den Schulen und Hochschulen, vor allem auch in der beruflichen Bildung. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten heftig darüber gestritten, in welchen Organisationsformen, mit welchen Methoden und mit welchen Zielen unserer Jugend Bildung und Wissen vermittelt werden sollen. Das war notwendig und hat auch seine Erfolge gezeitigt. Aber vielleicht ist es ja eine Aufgabe unserer Zeit, wieder einmal darüber nachzudenken, was der junge Mensch mindestens wissen oder können sollte, wenn er eine berufliche Tätigkeit oder ein Studium beginnen will, also über die Inhalte unserer Bildung?

Es gibt hier bereits eine Reihe guter Ansätze. Aber es muß gelingen, sie selbstverständlich zu machen. Dafür brauchen wir durchlässige Organisationsstrukturen und die jeweilige persönliche Bereitschaft zum Austausch. Mit Extrempositionen wird dabei auf die Dauer kaum auszukommen sein. Der Wissenschaftler, der auf die Folgen und die Nutzbarkeit seiner Forschungsergebnisse überhaupt nicht zu achten bereit ist, wird genauso aus dem Spiel fallen wie der Unternehmer, der seine Forschungsabteilung schließt und sich einbildet, er brauche nur eine Produktbeschreibung zu entwerfen und könne alles übrige der nächstgelegenen Hochschule überlassen oder - je nach Geschmack - auch abverlangen.

Lassen Sie mich zur Deutschen Physikalischen Gesellschaft zurückkommen. Sie haben es stets verstanden, Ihre Mitglieder in den Dialog mit Politik und Wirtschaft einzubringen. Sie werden dies auch künftig tun. Ihr Präsident wird hierfür, wenn ich es richtig sehe, bereits heute ein weiteres Zeichen setzen. Ich bin sicher: Sie werden den Umgang mit den Herausforderungen von Natur, Technik und Gesellschaft so wahrnehmen, daß die Deutsche Physikalische Gesellschaft auch künftig eine wichtige Brücke zwischen der Forschung und der Anwendung der Physik bilden wird. Gern zitiere ich hier Jean Jaurès, den der Humanität verpflichteten französischen Philosophen und Politiker, dem die Aussage zugeschrieben wird: Tradition heißt nicht, Asche zu bewahren, sondern eine Flamme am Brennen zu halten.

In diesem Sinne wünsche ich der Deutschen Physikalischen Gesellschaft gutes Gelingen für ihre künftige Arbeit.