Redner(in): Michael Naumann
Datum: 12.11.1998
Anrede: Meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/62/11762/multi.htm
Frau Präsidentin!
Herr Lammert, ich freue mich, in Ihnen einen Bündnispartner gefunden zu haben, ich stehe allerdings auch nicht an, darauf hinzuweisen, daß ich den Ruf nach einer Debatte, um zu einer Entscheidung über das Holocaust-Mahnmal zu kommen, jahrelang vermißt habe. Aber er gehört in der Tat hierher.
Der Bundestag hat zum erstenmal in seiner Geschichte einen Kulturausschuß eingerichtet. Er hat dies getan, weil dem Bund im Laufe der Jahre eine Fülle kulturpolitischer Aufgaben zumal im außerpolitischen und, wenn Sie so wollen, im innereuropäischen Raum zugewachsen ist. Ihren Lösungen kann größere parlamentarische Kontrolle und Öffentlichkeit nur gut bekommen. Meine Mitarbeiter und ich freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Das Parlament ist der repräsentative Souverän. Darum ist es wichtig, daß in einer symbolisch so wesentlichen Frage wie derjenigen des geplanten Holocaust-Mahnmals die Abgeordneten des deutschen Volkes das letzte Wort haben.
Alle diejenigen, die eine feste Meinung in dieser ernsten Angelegenheit hegen, bitte ich, sich mit moralischen Urteilen über jene zurückzuhalten, die unentschieden oder anderer Überzeugung sind.
Zur Debatte steht auch nicht das Gedenken an den millionenfachen Mord an Europas Juden, sondern vielmehr der ästhetische Gestus der Erinnerung an seine Unbeschreiblichkeit. Eiferndes Insistieren auf eigenen Positionen ist der Sache nicht angemessen. Es gibt kein Monopol des Trauerns oder des korrekten Gedenkens. Wohl aber gibt es die Pflicht, nie zu vergessen, was Furchtbares einmal geschehen ist.
Die verblendete Machtentfaltung Deutschlands hat zweimal schweres Unglück über unser Land, über Europa, über die ganze Welt gebracht. Die Hoffnung mancher Künstler und Dichter, der Schauspieler, Regisseure und Komponisten, ein schöpferisches Leben in - mit Thomas Mann gesprochen - "machtgeschützter Innerlichkeit" zu führen, wurde mißbraucht, betrogen und als vordemokratische Illusion entlarvt. Kein Zweifel, daß bedeutende Köpfe deutscher Kultur, daß Philosophen, Künstler und Autoren über Jahrzehnte hinweg an dem folgenschweren Werk der nationalen Selbstblendung ihren Anteil hatten.
Die Politikgeschichte ist immer auch deutsche Kulturgeschichte mit all ihren Brüchen und dunklen Epochen. Weil diese Dekulturationsphasen deutscher Geschichte so eng mit machtbesessenem, politischem Zentralismus, mit den Herrschaftsträumen von Diktaturen verbunden sind, können die Segnungen unseres kulturellen und politischen Föderalismus nicht laut genug gepriesen werden.
Dieser Föderalismus ist das Signum unserer Kulturpolitik und wird es selbstverständlich auch unter dieser Regierung bleiben.
Wenn wir unter Kultur nicht mehr, aber auch nicht weniger verstehen als den Spiegel, den wir uns selbst vorhalten, um zu verstehen, wer wir sind, was wir können, wohn wir wollen, so wissen wir auch, daß dieser Spiegel stumpfe Stellen aufweist. Doch blind ist er nicht.
Kultur ist niemals das Kraftzentrum sogenannter nationaler Normalität. Vielmehr ist sie der Name für alle Formen von Zweifel, von kritischer Überwindung des jeweils Normalen, der Name für geistige Innovation, für satirisches Gelächter - auch in diesem Haus - , für intellektuelle Herausforderungen, aber doch auch für Trost, für Entspannung und für alle Formen jener bisweilen diskriminierten Unterhaltung, deren Preis ja nicht automatisch Verdummung heißen muß. In einem Satz: Kultur ist die schönste Form politischer Freiheit in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft.
Nicht nur wir Sozialdemokraten wissen, daß ein Land an seiner Seele Schaden nähme, lebte es wohlbehütet für die Mehrung seines Wohlstands allein. Politik ohne Kultur ist unfrei, sprachlos und ohne Sinn.
Kultur ist auch kein Standortfaktor, wie es uns der neue Sprachgebrauch weismachen will. Vielmehr sind es die Künste, die unser Leben aus dem Werktagsland der Notwendigkeit hinausführen können. Das richtige Leben werden wir jedenfalls nicht auf unseren Kontoauszügen entdecken können. Doch niemand wird behaupten, daß es sich in einem Land voller sozialer Probleme und wirtschaftlicher Ängste unbeschädigt entfalten könnte.
Die Bundesregierung hat die mannigfachen Aufgaben ihrer eigenen Kultur- und Medienpolitik im Namen von Effektivität und Transparenz gebündelt, nicht um in Konkurrenz zur Kulturhoheit der Länder und Kommunen - das ist inzwischen ein Verfassungsbegriff, Herr Lammert; ich teile aber völlig Ihre Meinung, daß der Begriff der Hoheit aus der Barockzeit stammt - zu treten, sondern - im Gegenteil - um sie dort zu stärken, wo es möglich ist.
Mit Nachdruck werden wir uns für eine Neuorganisation der Kulturförderung Berlins einsetzen. Wir werden auch die guten Versprechen der vorherigen Regierung einlösen, die kulturellen Einrichtungen der Bundesstadt Bonn zu fördern in Dankbarkeit für ihre unvergleichliche Rolle in der deutschen Nachkriegsgeschichte und in Respekt - das lassen Sie einen Kölner sagen - vor der großen kulturellen Tradition der Region.
Seit mehr als einem Jahr diskutieren wir nun in Deutschland die Silhouette der zukünftigen Berliner Republik. Noch ist es eine Silhouette der zukünftigen Berliner Republik. Noch ist es eine Silhouette, auch von jenen hochgehalten, die gerne die Gefahren eines autoritären Zentralismus beschwören, weil sie sich so gerne gruseln wollen. Für die Kulturpolitik unserer Regierung umkreist dieser Begriff die Hoffnung auf ein Hauptstadtleben, das bereits heute in seiner Vielfalt von Museen, Theatern, Galerien, Opern, Orchestern, freien Bühnen und einer sehr kreativen Off-Szene ebenso ungewöhnlich wie repräsentativ für Deutschlands kulturelles Selbstverständnis ist. Berlin braucht, um seine kulturelle Vielfalt auszuleben, den Umzug nicht. Das ist auch ohne uns möglich.
Berlin war stets eine Stadt gleichsam transitorischer Kultur. Hier trafen und treffen sich die Künstler Ost- und Westeuropas. Hier stellt sich Deutschland dem Ausland vor - und umgekehrt. Wir werden die vertraglich festgesetzte Unterstützung kultureller Einrichtungen Berlins durch die Gewährung von Bundesmitteln fortsetzen und diese im nächsten Haushaltsjahr verdoppeln.
Berlin ist der Sitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie ist ein Kronjuwel bundesdeutscher Kulturförderung. Unter neuer Leitung wird sie die Herausforderung einer wohl nötigen internen organisatorischen Modernisierung annehmen.
Alle Kulturpolitik handelt direkt oder indirekt vom Erinnern. Ein Land, das sich täglich neu erfinden will, wird sich schnell selbst vergessen. Wir wollten die Vorstellungen des Deutschen Bundestages zur Pflege von Gedenkstätten ernst nehmen. Dies umfaßt neben ehemaligen Konzentrationslagern auch die Pflege der sowjetischen Ehrenmale und Soldatenfriedhöfe.
Dazu hat sich die Bundesrepublik vertraglich verpflichtet. Die Menschen, die dort liegen, wollten nicht in Deutschland sterben.
Der Vorwurf einer sanften Kolonialisierung, der dem Westen Deutschland aus den neuen Ländern entgegenweht, ist ernst zu nehmen. Mit der gebotenen Zurückhaltung, aber auch mit dem notwendigen finanziellen Aufwand wird die Bundesregierung das kulturpolitische Engagement jener Region Deutschlands verstärken, in der über Jahrhunderte hinweg zum Beispiel unser bestes musikalisches Erbe gepflegt wurde und in der sich - trotz totalitärer Kulturkontrolle - über mehr als 50 Jahre hinweg eine widerstandsfähige, kraftvolle Musik, Kunst und Dichtung entwickelten.
Weimar mag für manchen ein angestaubter deutscher Goethe-Mythos sein. Aber hinter allem historischen Mißbrauch - und den gab es im Dritten Reich - leuchtet doch die Wahrheit auf, daß in diesem Städtchen die schönste deutsche Prosa und die leichteste Lyrik entstanden.
Als europäische Kulturhauptstadt 1999 wollen wir Weimar feiern und verstehen und seine stadtgewordene Literaturgeschichte neu lieben lernen.
Mit dem Außenminister sind wir uns einig, daß ich im Ministerrat für Kultur und Medien der Europäischen Union in enger Kooperation mit den Ländern - das versteht sich von selbst - die deutsche Verhandlungsführung übernehmen werde. Wir wollen dort in kulturpolitischen Angelegenheiten mit einer Stimme sprechen - und bisweilen auch fechten - , zum Beispiel in den Bereichen europäische Filmförderung und Medienpolitik.
Die Bundesregierung weiß, daß die europäische Idee nicht in einer gemeinsamen Währung kulminiert, sondern in einer besseren Kenntnis unserer vielfältigen nationalen Kulturen verwirklicht wird, in einem niemals abgeschlossenen Prozeß.
Dieser Prozeß sollte geprägt sein von Neugier, Toleranz und darin begründeter Friedfertigkeit.
Meine Damen und Herren, Europa ist keine Utopie mehr. Freilich gilt es auch, ganz enorme eurozentralistische, bürokratische Zumutungen abzuwehren. Die Qualität des deutschen Buch- und Verlagsgewerbes ist einmalig auf der Welt. Es muß vor den Anfechtungen einer entfesselten Marktwirtschaft geschützt werden.
Dasselbe gilt nicht nur für die sogenannte Buchindustrie, sondern auch für die, die sie tragen, nämlich für die Autorinnen und Autoren dieses Landes.
Diese Regierung verteidigt im Hinblick auf den Maastrichter Vertrag aus kulturellen Gründen - nicht aus kommerziellen Gründen - den gebundenen Ladenpreis.
Von daher ist es übrigens gut, einen ehemaligen Buchhändler als Außenminister an seiner Seite zu wissen, wenn er auch gerade irgendwo sitzt und liest.
So wie der Buchhandel, die Bibliotheken und die Verlage das Nervensystem unseres Geisteslebens bilden, so sind die Medien unsere Augen. Was sie sehen, aber auch, was sie nicht sehen, bestimmt fast unmittelbar unser Bewußtsein. Hüten wir uns vor Kommunikationsmonopolen!
Die Erhaltung der grundgesetzlich garantierten Kunst- , Informations- und Meinungsfreiheit sollte unsere Arbeit bestimmen.
Vor uns liegen gesetzgeberische Initiativen von der die Kultur fördernden Reform des Spenden- und Stiftungsrechts bis hin zu einer Regelung der offenen Fragen um die sogenannte Beutekunst. Die Bundesregierung plant, eine Stiftung "Künstler und Autoren im Exil" ins Leben zu rufen.
Wir wollen bedrängten Autoren, Malern und Komponisten, Regisseuren und Schauspielern in Zusammenarbeit mit Amnesty International und Writers in Prison eine sichere Bleibe hier für eine Frist von mindestens einem Jahr ermöglichen. Dies tun wir auch in dankbarer Erinnerung an jene Nationen, an der Spitze England, die Niederlande, Frankreich und die Vereinigten Staaten, die in diesem Jahrhundert verfolgten deutschen Künstlern Asyl gewähren.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Ich bin während des Wahlkampfs immer wieder nach meiner Vision gefragt worden. Ich habe stets geantwortet, daß sich unser Land vor Kulturpolitikern mit Visionen hüten möge, da jene dazu neigen, sie alsbald verwirklichen zu wollen.
Nichts entspräche meinem Kulturverständnis weniger als die Vorstellung eines Politikers - und säße er im Kanzleramt - mit absolutem Geschmack. Wehe uns, wenn er ihn durchsetzen will!
Unser aller Aufgabe ist es, auf Bundes- und Landesebene sowie auf kommunaler Ebene dem kraftvollen vielfältigen, dem respektlosen frechen, dem dokumentierenden, dem bewahrenden, aber auch dem umstürzenden, dem phantasievollen und komödiantischen Kulturleben Deutschlands den finanziellen und gesetzlichen Schutz zu gewähren, den es benötigt.
Diese Koalition hat den kulturpolitischen Auftrag, den die Wähler ihr ganz offensichtlich erteilt haben, angenommen. Ich wünsche mir, er würde auch von der Opposition akzeptiert.
Ich danke Ihnen.