Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.12.1998

Anrede: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/82/11682/multi.htm


ich möchte mich heute zuallererst an Sie, an die jungen Menschen in unserem Land wenden - obwohl Sie am Neujahrstag sicher nicht unbedingt an Politik denken. Ihnen, den jungen Frauen und Männern in Deutschland, will ich sagen: Sie werden dringend gebraucht. Nur mit Ihnen gemeinsam können wir unser Land in eine Zukunft führen, in der es gerecht zugeht für die Menschen und gerecht auch für die Umwelt.

Deshalb schlage ich Ihnen ein Abkommen vor: Wir tun alles dafür, daß Ihnen Bildung und Ausbildung offenstehen und Sie Ihren Platz einnehmen können: in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Arbeitswelt. Und dafür versprechen Sie, liebe Jugendliche, Ihre Fähigkeiten, Ihre Kreativität und Ihre Unternehmungslust einzusetzen.

wir alle sollten Brücken bauen, über die die Jüngeren ins Berufsleben hineingelangen, und Brücken, über die die Älteren in ein sicheres Leben gehen können, ohne daß wir auf deren Erfahrungen und deren Leistungsbereitschaft verzichten müßten. Einen solchen Pakt wünsche ich mir zwischen Jung und Alt in unserer Gesellschaft.

Es ist wahr: Die immer noch viel zu hohe Arbeitslosigkeit gibt uns Grund zur Sorge. Aber viel mehr Gründe haben wir zu Hoffnung und zum Optimismus. Die Lehrstellenbilanz hat sich verbessert, für das zurückliegende Jahr können wir mit einem Rekord an ausländischen Investitionen rechnen. Und nicht zuletzt: Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierung haben unter meiner Leitung Gespräche über ein Bündnis für Arbeit aufgenommen. Ich bin zuversichtlich: Gemeinsam kommen wir dort zu fairen und zu weitreichenden Lösungen.

Schon morgen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, treten die ersten Maßnahmen der neuen Bundesregierung in Kraft, mit denen die große Mehrzahl der arbeitenden Menschen in Deutschland entlastet werden. Wenn Ihre Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen auskommen muß, werden Sie ab morgen weniger Steuern zahlen und mehr Kindergeld bekommen. Und wenn Sie zum Beispiel einen Handwerksbetrieb führen, dann werden Sie schon bald die Entlastungen bei den Arbeitskosten und Unternehmenssteuern spüren.

Aber ab morgen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ändert sich noch mehr. Dann werden Sie auf Ihren Banküberweisungen ankreuzen müssen, ob Sie in Euro oder für eine Übergangszeit noch in Deutscher Mark zahlen wollen. Die gemeinsame europäische Währung ist ab sofort Wirklichkeit. Und ich bin sicher: Gemeinsam machen wir diese Währung auch zu einem Erfolg.

In den vor uns liegenden Monaten schaut Europa auf uns. Deutschland übernimmt ab heute für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union. In diesen sechs Monaten wollen wir wichtige Reformen auf den Weg bringen, bei den Finanzen, in der Landwirtschaft, aber vor allem beim Schaffen von Arbeitsplätzen. Und wir wollen mehr Gerechtigkeit für Deutschland bei der Finanzierung Europas einklagen.

Wir Deutschen wissen ja sehr gut, was wir von Europa haben. Wir genießen die offenen Grenzen, die offenen Märkte und den lebhaften Austausch mit den Kulturen unserer Nachbarn. Europa hat uns die Chance auf eine einmalige Entwicklung in Frieden und Wohlstand gegeben und die staatliche Einheit unseres Landes ermöglicht.

Deutschland wird in diesem Jahr auch den Vorsitz beim Gipfeltreffen der wichtigsten Industrienationen in Köln führen. Dabei werden wir besonders an einer internationalen Finanzarchitektur zur arbeiten haben, die es verhindert, daß durch Spekulation ganze Volkswirtschaften zusammenbrechen.

Denn eines müssen wir vor Augen haben: Wenn Indonesien, Thailand oder Brasilien durch Währungsspekulationen in die Krise geraten, geht es nicht nur um nackte Zahlen. Sondern um die Schicksale Tausender und Abertausender Menschen, die ihrer Lebensgrundlagen beraubt und in ihren Hoffnungen bitter enttäuscht wurden. Es geht damit auch um uns. Um unsere Möglichkeiten, unsere Produkte in diesen Ländern abzusetzen.

in diesem Jahr werden die Bundesrepublik und das Grundgesetz fünfzig Jahre alt. Und wir können heute voller Stolz sagen: Wir haben ein Modell geschaffen, das sich bewährt hat. Wir haben eine lebendige Demokratie geschaffen, die auch deshalb so stabil ist, weil in ihr diejenigen, die den Wohlstand erarbeiten, teilhaben am Haben und am Sagen in der Gesellschaft.

Diese Werte nehmen wir mit, wenn wir in diesem Jahr, Parlament und Regierung, von Bonn nach Berlin umziehen. Berlin wird damit wirklich, und nicht nur auf dem Papier, unsere Hauptstadt. Ich versichere: Berlin wird keiner Region, keinem Bundesland etwas wegnehmen. Aber von Berlin aus, aus der Mitte Deutschlands, aus der Mitte Europas, werden wir unser Land noch erfolgreicher modernisieren können und uns darauf konzentrieren, auch die innere Einheit unseres Landes weiter voranzubringen.

Aber der Umzug nach Berlin ist uns auch Mahnung und Auftrag zur fortdauernden Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Einen Schlußstrich unter die Vergangenheit darf es genauso wenig geben wie ein Wegsehen, wenn heute Unrecht und Gewalt gegen Minderheiten oder Menschen anderer Herkunft verübt werden.

Manchen von Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, hat das zurückliegende Jahr Anlaß zu Kummer gegeben. Durch private Rückschläge und Tragödien, aber vielleicht auch durch den Verlust des Arbeitsplatzes. Lassen Sie mich deshalb wiederholen, daß wir auf die Schaffenskraft und die Kreativität aller angewiesen sind und allen, die ihren Beitrag leisten wollen, auch Gelegenheit dazu geben.

Unser wichtigstes Ziel ist der Abbau der Arbeitslosigkeit. Es mag schwierig sein, dieses Ziel zu erreichen, und wir werden nur Schritt für Schritt dorthin gelangen. Aber ich weiß: Wenn wir es gemeinsam anpacken, werden wir es schaffen.

Ich wünsche Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein glückliches, gesundes und erfolgreiches 1999.