Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 11.08.2009

Untertitel: Kulturstaatsminister Bernd Neumann in seiner Rede an der Gedenkstätte Bernauer Straße: "Wir dürfen nicht vergessen, was diese Mauer, dieses Symbol des Kalten Krieges und der Teilung unseres Landes, wirklich war: eine brutale Grenze, menschenverachtend und tödlich". In der Publikation geht es darum, "den Toten Gesicht und Namen und damit ihre Würde wiederzugeben und an diesen Biografien aufzuzeigen, welches die Mechanismen der Diktatur und ihre Folgen waren".
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/08/2009-08-11-neumann-totenbuch-mauertote,layoutVariant=Druckansicht.html


wir würdigen in diesem Jahr die 20. Wiederkehr des Jahrestages der Friedlichen Revolution in der DDR. Sie hat die Mauer zu Fall gebracht eines der glücklichsten Ereignisse unserer deutschen Geschichte. Heute sind die Überreste der Berliner Mauer ein wichtiger Anziehungspunkt für die Besucher der Stadt. Es ist gut und richtig, dass die Hauptstadt die Erinnerung an dieses leidvolle Kapitel der Stadtgeschichte pflegt. Wir dürfen nicht vergessen, was diese Mauer, dieses Symbol des Kalten Krieges und der Teilung unseres Landes, wirklich war: eine brutale Grenze, menschenverachtend und tödlich. Am 13. August, also übermorgen, ist es genau 48 Jahre her, dass das DDR-Regime mit dem Bau der Mauer begann.

Die verbrecherische SED-Diktatur nahm sich das Recht, ihre Bürger hinter Mauern und Stacheldraht einzusperren. Kaltblütig wurden viele ermordet, die dieses Gefängnis verlassen wollten, das sich "Deutsche Demokratische Republik" nannte und damit den Namen der Demokratie verhöhnte. Die Grenztruppen machten 1961 umgehend blutigen Ernst: Schon elf Tage nach der Abriegelung der Sektorengrenze, am 24. August, starb ganz in der Nähe des heutigen Bundeskanzleramtes, im Humboldthafen, der erste Flüchtling durch gezielte Schüsse in den Kopf. Günter Litfin, das erste Opfer im Feuer der Grenzschützer, war ein junger Mann von knapp über 20 Jahren, ebenso wie Chris Gueffroy, der vorletzte Mauertote am 5. Februar 1989. Wir dürfen die Opfer nicht vergessen!

Das Gedenken an die Opfer der Diktaturen in Deutschland ist ein besonderes Anliegen der Bundesregierung.

Erinnern und Gedenken brauchen eine solide Basis trotz, oder eher: gerade wegen der tiefen Emotionen, die damit verbunden sind. Erst umsichtige wissenschaftliche Untersuchung kann dem oft namenlosen Leid Konturen geben, das Ausmaß des Schreckens erfassbar machen. Darum haben wir im Gedenkstättenkonzept, dem der Deutsche Bundestag im vergangenen Jahr mit überwältigender Mehrheit zugestimmt hat, besonderen Wert auf die wissenschaftliche Begleitung gelegt. Einen Teil dieser Forschung stellen wir heute vor: Die von meinem Haus mit über 280.000 Euro geförderte Publikation "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 - 1989". Ich danke dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Gedenkstätte Berliner Mauer sowie den Projektleitern Frau Dr. Nooke und Herrn Dr. Hertle für ihre beeindruckende Arbeit! Ich habe mir das Buch angeschaut; die Schicksale der Getöteten sind erschütternd.

136 Biografien werden dokumentiert, 136 Menschen, die an dieser unmenschlichen Grenze umkamen. Es geht bei einer solchen Untersuchung primär jedoch nicht um Zahlen. Wie überhaupt ein Streit darüber, ob die genannten Zahlen exakt zutreffend sind, deplatziert und unwürdig ist zumal es immer auf die Kriterien der Erfassung ankommt. Es geht darum, den Toten Gesicht und Namen und damit ihre Würde wiederzugeben und an diesen Biografien aufzuzeigen, welches die Mechanismen der Diktatur und ihre Folgen waren.

Oft versuchte das SED-Regime, die Tötungen zu vertuschen und gab den Angehörigen keine Auskunft; etliche der Getöteten wurden anonym bestattet. Auch dieses Unrecht wird mit der Veröffentlichung dokumentiert. Jeder, der der Grenze aus welchen Gründen auch immer zu nahe kam, setzte sich der Gefahr aus, erschossen zu werden.

Über ein solches Thema zu forschen ist nicht einfach. Forschung hat unparteiisch, hat objektiv zu sein. Die vorgelegte Studie erfüllt diese Forderungen untadelig. Doch ihre nüchternen, sine ira et studio vorgetragenen Fakten machen betroffen, ja, sie machen auch zornig. Betroffen über den Kummer und das Leid, das die kommunistische Diktatur in Deutschland verursacht hat, zornig aber auch darüber, dass es heute immer noch, ja, man muss wohl sagen: immer mehr Menschen gibt, die weil es lange zurückliegt

von diesen Verbrechen nichts mehr wissen wollen und sich das System der DDR schönreden! Ich brauche an dieser Stelle kaum auf die Studie von Professor Schröder hinzuweisen sie ist Ihnen allen bekannt. Sie macht erschreckend deutlich, wie dramatisch die Kenntnis über die DDR abnimmt und sich Verklärung und Verharmlosung Bahn brechen.

Danach wissen heute sehr viele junge Menschen nicht einmal mehr, dass die DDR kein demokratischer Staat war, sondern eine Diktatur, die ihren Bürgern die fundamentalen Rechte wie Reisefreiheit, Meinungs- , Versammlungs- und Pressefreiheit vorenthielt, die keine unabhängige Justiz kannte und in der niemand eine Handhabe gegen die übermächtige staatliche Bevormundung und Verwaltung hatte.

Eine solche Entwicklung ist problematisch und kann gefährlich werden. Wer die Vorzüge einer freiheitlichen Gesellschaft nicht zu benennen weiß, wer totalitäre Systeme nicht mehr von Demokratien unterscheiden kann, der ist eine leichte Beute für ideologische Rattenfänger jeglicher Couleur! Wir müssen immer erneut alles dafür tun, dass die politischen Wurzeln des Extremismus nicht ausschlagen! Und wir müssen dafür sorgen, dass ein ideologischer Nährboden der Diktatur nie mehr gedeihen kann.

Darum sind geschichtliche Erfahrungen unverzichtbar und Aufklärung tut Not über die Schreckensherrschaft der NSDAP, der mit den Millionen Opfern des Holocausts als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes in der deutschen Erinnerungskultur singuläre Bedeutung zukommt, aber auch über die vor 20 Jahren zu Ende gegangene SED-Diktatur.

Wir haben den Etat für die Gedenkstättenförderung massiv erhöht, um dieser bedeutenden gesellschaftlichen Aufgabe noch besser nachkommen zu können; und zwar um 50Prozent auf insgesamt 35 Millionen Euro. Viele Einrichtungen insbesondere im NS-Gedenkstättenbereich wurden in die verlässliche, institutionelle Förderung des Bundes aufgenommen und damit entscheidend gestärkt, vor allem auch was die wichtige Vermittlungsarbeit anbetrifft.

Und im Hinblick auf die heutige Veranstaltung

sage ich ganz klar: Wir müssen auch unsere Anstrengungen hinsichtlich der Aufarbeitung des SED-Unrechts weiter verstärken.

Hier leistet die "Bundesstiftung Aufarbeitung" ganz hervorragende Arbeit, gerade auch im Bereich der historisch-politischen Bildung für Kinder und Jugendliche.

Bei den Gedenkstätten zur SED-Herrschaft haben wir die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn sowie die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam neu in die institutionelle Förderung aufgenommen. Und gleiches gilt nicht zuletzt auch für die Stiftung Berliner Mauer in deren Räumlichkeiten wir uns gerade befinden mit den beiden Gedenkstätten Bernauer Straße und Notaufnahmelager Marienfelde. Auch andere Einrichtungen wie der Jugendwerkhof Torgau und das ehemalige Gefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen sowie die Runde Ecke in Leipzig verdienen unsere besondere Beachtung.

Um die Vernetzung zwischen den Einrichtungen zu stärken, fördern wir den "Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland", zu dem sich die Institutionen zur Geschichte der SBZ und der DDR zusammengeschlossen haben.

Zum Gedenken an die Mauer werden die Gedenkstätte Berliner Mauer sowie der Tränenplast am Bahnhof Friedrichstraße mit erheblichen Bundesmitteln ausgebaut. Allein in die Gedenkstätte in der Bernauer Straße fließen für den notwendigen Grundstückserwerb über 6 Millionen Euro Bundesmittel, für die Open-Air-Ausstellung steuern wir weitere 1,45 Millionen Euro bei.

Doch die unbarmherzige Grenze ist nicht nur ein Berliner Thema, sondern ein gesamtdeutsches Ich habe unter anderem die Gedenkstätten Mödlareuth in Bayern und Teistungen im Eichsfeld im Auge, die beide durch mein Haus gefördert werden. Am übernächsten Wochenende werden wir in Teistungen das Richtfest des Anbaus anlässlich des 20. Jahrestages der Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn feiern.

Ohne die BStU schließlich, die Birthler-Behörde, ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht denkbar.

Sie hat in ganz Europa Vorbildcharakter, und sie wird ihre wichtige Arbeit fortsetzen. In der nächsten Legislaturperiode wird der Deutsche Bundestag eine unabhängige Expertenkommission einsetzen, die die Entwicklung der Aufgaben, die der BStU gesetzlich zugewiesen sind, analysiert und Vorschläge macht, wie sie weiterhin zu erfüllen sind.

Meine Damen und Herren,

in diesem Gedenkjahr ist es wichtig, Freiheit und Einheit zu feiern und an den politischen Widerstand der Friedlichen Revolution zu erinnern, der entscheidend zur Wiedervereinigung unseres Landes beigetragen hat.

Erinnern heißt aber auch, deutlich zu machen, wie brutal sich der real existierende Sozialismus der DDR über den Wert des Menschenlebens hinwegsetzte und jeden zum Verbrecher stempelte, ja im wahrsten Sinne zum Abschuss freigab, der in den Bannkreis seiner Grenze geriet.

Mit der Publikation, die wir heute der Öffentlichkeit vorstellen, wird ein weiterer großer Schritt in Richtung Erinnerung und Aufklärung getan.