Redner(in): Angela Merkel
Datum: 20.04.2010

Untertitel: in Mülheim an der Ruhr
Anrede: Sehr geehrter Herr Bischof Overbeck, sehr geehrter Herr Schlagheck, sehr geehrte Frau Ministerin, Frau Oberbürgermeisterin, sehr verehrte Gäste des heutigen Abends, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/04/2010-04-20-merkel-katholische-akademie,layoutVariant=Druckansicht.html


Ich bedanke mich für die Einladung zu diesem Gesprächsabend und gratuliere ganz herzlich zum 50. Geburtstag.

Wir haben eben aus der Abfolge der Gründung des Bistums und der dazugehörigen Akademie schon gesehen, dass das Thema Erwachsenenbildung für dieses Bistum sehr bald von großer Bedeutung war, wobei man sich entschieden hat, an diesem spannenden Ort die Arbeit zu beginnen. Das Thema, über das zu sprechen Sie mich oder wir uns gegenseitig gebeten haben, ist, glaube ich, ebenfalls spannend und bewegt uns immer wieder: Die Bedeutung von Zusammenhalt und Solidarität für den sozialen Fortschritt.

Zunächst zum sozialen Fortschritt: Man vermutet erst einmal, wenn man von Fortschritt spricht, dass etwas besser werden soll. Man muss aber noch definieren, was eigentlich besser werden soll. Ich glaube, schon die einführenden Bemerkungen von meinen beiden Vorrednern haben gezeigt: Es geht letztendlich um den Menschen und um die Frage, wie er die ihm mitgegebenen Chancen nutzen und entfalten kann. Es geht darum so würde ich sozialen Fortschritt verstehen, dass die Teilhabe aller möglich wird, und zwar in umfassendem Sinne mit den jeweils eigenen Gaben und Fähigkeiten.

Wir sprechen über den sozialen Fortschritt in einem Geist, der sagt: Der Mensch ist in der Lage, Dinge zum Besseren zu wenden. Fatalismus ist keine Antwort auf die Herausforderungen. Vielmehr sind wir aufgerufen, uns zu mühen. Ich würde sagen: Der Mensch ist dazu nicht nur befähigt, sondern er hat aus unserem christlichen Glauben heraus, wie ich ihn verstehe, geradezu den Auftrag dazu.

Was für ein Menschenbild haben wir? Ich glaube, davon hängt ab, wie wir Solidarität, wie wir Zusammenhalt und Fortschritt definieren. Auf wunderbare Weise ist das Menschenbild bei uns im Grundgesetz bereits in diesem sehr schönen und umfassenden Satz verankert: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dieser Satz wäre ohne den christlichen Glauben als prägende Kraft unserer Gesellschaft nicht möglich gewesen. Er geht davon aus, dass der Mensch zur Freiheit befähigt ist, dass er einen Auftrag hat und dass Freiheit nicht Freiheit von etwas ist, sondern dass es um eine verantwortete Freiheit, um die Freiheit in Verantwortung geht.

Das bezieht sich immer genau auf den anderen Menschen, den nächsten Menschen, in dem wie Sie, Herr Bischof, das eben so schön gesagt haben das Bild Gottes aufscheint. Die Freiheit in unserer Gesellschaft ist heute oft sehr reduziert. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir über die Freiheit in diesem verantworteten Sinne immer wieder miteinander sprechen. Denn sie ist die Grundlage dafür, dass wir Solidarität, Gerechtigkeit und Zusammenhalt leben können.

Ich spreche nicht ab, dass man auch auf anderem Wege zu einem ähnlichen Menschenbild kommen kann. Aber ich glaube, es ist gut und richtig, nicht nur hier in dieser Akademie zu sagen, dass unser Weg durch das christliche Bild vom Menschen geprägt ist. Wir dürfen durchaus immer wieder mutig sagen, woraus wir unsere Überzeugungen schöpfen. Denn ich sehe, wenn ich durch die Welt fahre, dass auch andere dies jeweils tun.

Es gibt wunderbare Schriften des heutigen Papstes, des damaligen Kardinals Ratzinger, über den Einfluss der Säkularisierung schon seit Jahrhunderten auf die gesellschaftlichen Prägungen. Ich glaube, wir tun bei aller Trennung von Kirche und Staat und den unterschiedlichen Aufgaben gut daran, uns immer wieder zu besinnen, wo die Wurzeln dafür liegen, dass wir das schaffen. Die Voraussetzungen können wir nicht selber schaffen, sondern sie sind gegeben. Aber sie müssen lebendig gehalten werden.

Von dieser Frage ausgehend sollten wir den sozialen Fortschritt, den Zusammenhalt und die Solidarität ein Stück weit wenn wir in den politischen Bereich wechseln unter folgenden Aspekten betrachten: Da geht es zum einen um den Einzelnen. Wenn er teilhaben soll, wenn er seine Chancen nutzen soll und wenn er gleiche Chancen bekommen soll, stellt sich die große Frage: Wie kann ich den Einzelnen zu verantwortetem freiheitlichem Verhalten befähigen?

Das Zweite ist: Uns hat immer wieder das Prinzip geprägt, dass die kleinen Einheiten von allergrößter Bedeutung sind. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet, möglichst immer nah an den Menschen, nah an der kleinen Einheit zu agieren. Es geht also um die Frage, wie wir kleine Einheiten stärken können.

Die Dritte ist sicherlich: Welche Rolle spielt der Staat? Da gehe ich als Bundeskanzlerin gleich auf die nationale Ebene; ich könnte das aber genauso gut auch auf Landesebene durchdeklinieren. Wie kann ich Globalisierung menschlich gestalten? Welche Sicherheiten muss der Staat geben, damit Menschen sich verantwortlich und freiheitlich entwickeln können?

Damit kommen wir ganz unmittelbar, wenn wir das christliche Menschenbild betrachten, das die Würde jedes Einzelnen im Blick hat, auf die gesellschaftliche Ordnung zu sprechen, die die Bundesrepublik Deutschland geprägt hat: Das ist die Soziale Marktwirtschaft. Auch sie ist völlig undenkbar ohne die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik. Daraus ist diese Soziale Marktwirtschaft entstanden. Für uns ist sie heute oft ein Schlagwort, das wir vor dem Hintergrund einer inzwischen 60-jährigen erfolgreichen Entwicklung der Bundesrepublik betrachten. Aber es ist wichtig, immer wieder zu sagen: Auch die Soziale Marktwirtschaft wurde auf christlicher Grundlage und aus christlicher Perspektive heraus entwickelt.

Die Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft liegen bereits im 19. Jahrhundert. Sie war eine Antwort auf die industrielle Entwicklung unserer Gesellschaft, die gerade das Gebiet, in dem wir uns heute befinden, in ganz besonderer Weise geprägt hat. Der Mensch hat plötzlich Produktivkräfte entwickelt, die vor der industriellen Gesellschaft völlig undenkbar waren. Die Lebensstruktur der Menschen hat sich durch die industrielle Entwicklung dramatisch verändert. Während früher die Mehrheit im agrarischen Bereich lebte und kleine Handwerksbetriebe sozusagen die Vorläufer industrieller Produktion waren, kam es plötzlich zu einer großen Anonymisierung, aber auch zu der Fähigkeit der Menschen, Kräfte zu entfalten, die über ihre eigenen Kräfte weit hinausgingen. Während man früher in "PS" gelebt hat, gab es plötzlich die Dampfmaschine, es gab den elektrischen Strom, es gab die Möglichkeit der Verbindung durch Eisenbahnen und Ähnliches. Das war ein dramatischer Umbruch, der gerade das Ruhrgebiet, glaube ich, geprägt hat.

Aber plötzlich wurde in einem unglaublichen Ausmaß auch sichtbar, welche Ausbeutung dort stattfand, wie die abhängige Beschäftigung Menschen gedemütigt und verzweckt hat, woraus dann das Gefühl entstand: So kann es nicht gerecht sein.

Die Antwort darauf war im Grunde die Soziale Marktwirtschaft. Sie hat es geschafft, das Kapital, die Mehrung des Kapitals und die menschliche Arbeit in einen versöhnlichen Zusammenhang zu bringen, der natürlich in der jeweiligen Situation immer wieder austariert werden muss. Aber es war zum ersten Mal eine Ordnung da, die auf der einen Seite auf die Leistungsbereitschaft und die Initiative des Einzelnen gesetzt hat und auf der anderen Seite die Solidarität zur Norm einer menschlichen Gesellschaft gemacht hat.

Wie können wir das gleichermaßen erhalten: Menschen nicht die Initiative rauben, sie befähigen und dennoch eine Gesellschaft des Zusammenhalts prägen? Um diese Frage ging es damals bei der Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft, um sie geht es auch heute noch. Dafür bedarf es staatlicher Rahmenbedingungen, in denen sich das entwickeln kann. Über diese Rahmenbedingungen werde ich gleich noch sprechen.

Dieser geografische Raum, in dem wir uns hier befinden, das Ruhrgebiet, hat das alles natürlich sehr stark durchlebt. Die ältesten historischen Funde bezeugen, dass diese Region für Militär und Handlungen von allergrößter Wichtigkeit war. Die früheren Siedlungen hier sind viel älter als die aus den Gebieten, aus denen ich entstamme bzw. wo ich aufgewachsen bin. Hier war bereits viel los, als im östlichen Teil die Slawen und dann endlich die Zisterzienser kamen. Da haben andere Teile Deutschlands schon eine sehr bewegte Geschichte gehabt.

Vor rund 200 Jahren begann in dieser Region mit der Industrialisierung eine Zeit geradezu dramatischer Umbrüche, verbunden mit einer völligen Veränderung der Wirtschaftsstruktur, der Siedlungsstruktur und einem dramatischen Anstieg der Einwohnerzahlen. Die Handelsstädte und die umliegenden Dörfer wuchsen explosionsartig. Sie wurden Industriestädte mit alldem, was wir heute noch an Substanz sehen. Die Arbeit konnte nur durch die Anwerbung und den Zugang auswärtiger Arbeitskräfte realisiert werden. Es entstanden die Nationalstaaten Deutschland war ein relativ später Nationalstaat, getrieben durch die wirtschaftliche Entwicklung.

Es ist unglaublich spannend, sich einmal mit der Entstehung der ersten Bahnlinien hier in Nordrhein-Westfalen zu befassen, mit dem Bankhaus Oppenheim oder mit der Frage, wie man die Kleinstaatlichkeit überwunden hat dass die Eisenbahn überhaupt nur entstehen konnte, wenn nicht alle zehn Kilometer wieder eine Zolleintreibestation war.

Das hat aber auch dramatische Folgen gehabt, die sich in Deutschland, in Europa und darüber hinaus in zwei furchtbaren Weltkriegen niedergeschlagen haben, wobei wir im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg eine große Schuld auf uns geladen haben.

Wir hatten dann Glück. Das Ruhrgebiet hat davon später auch profitiert. Dazu muss man sagen: Die Wiedergutmachungsleistungen nach dem Ersten Weltkrieg musste ganz wesentlich das Ruhrgebiet erbringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden hier viele Vertriebene ihre Heimat. In der wirtschaftlichen Entwicklungsphase der jungen Bundesrepublik war das Ruhrgebiet natürlich ganz wesentlich durch die Montanindustrie geprägt. Sie wissen das. Die Arbeitskräfte reichten nicht mehr aus. Es kamen dann die Zuwanderer die Gastarbeiter, wie wir lange Zeit gesagt haben, aber heute glücklicherweise nicht mehr sagen aus dem Süden Europas und aus anderen Teilen hierher, die heute schon in der dritten und vierten Generation bei uns leben.

Dann hat sich gezeigt, dass wieder ein dramatischer Umstrukturierungsprozess notwendig war. An vielen Stellen, wo damals Kohle und Stahl produziert wurden, gibt es heute Industriedenkmäler und wunderbare Kulturdenkmäler. Nicht umsonst sind Essen und das Ruhrgebiet jetzt Kulturhauptstadt Europas. Ich habe neulich eine sehr bewegende Präsentation dieser Kulturhauptstadt in Istanbul eine der beiden anderen Kulturhauptstädte erleben dürfen. Dort wurde gerade mit Blick auf die hier Zugewanderten sehr schön dargestellt, dass es bei der Arbeit in der Kohlengrube weniger darum ging, woher einer kommt, als darum, ob man sich aufeinander verlassen kann. Das hat etwas über den Zusammenhalt dieser Region ausgesagt.

In diesem Zusammenhang möchte ich einmal kurz aus dem Programm zur Kulturhauptstadt zitieren. Dort heißt es: "Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel das ist der Leitfaden unserer Geschichte, mit der wir Europa erzählen, wie die einst größte" Kohlenzeche "des Kontinents zum Symbol für den Wandel durch Kultur geworden ist, wie sich das alte Ruhrgebiet zur neuen Metropole Ruhr wandelt." Genau das findet hier statt.

Da stellt sich natürlich die Frage: Wo bleibt da der Mensch, welche Aufgaben haben wir, und wie können wir es schaffen, keinen zurückzulassen? Ich glaube, wir sind jetzt in einer schwierigen Phase; man muss das ganz offen benennen. Durch die Globalisierung, durch die neuen technischen Möglichkeiten, durch die Zunahme von Freiräumen nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern in vielen Bereichen der Welt hat sich der Wettbewerbsdruck verschärft. Da ist die Frage: "Was kann man bei uns tun, und was muss woanders geschehen?" viel virulenter geworden.

Gerade in Regionen, die mit einem Strukturwandel behaftet sind, müssen die Menschen ungeheuer flexibel sein. Man weiß oft gar nicht, ob das überhaupt zumutbar ist, ob das für jeden Einzelnen machbar ist. Genau das ist auch das Gefühl: Die einen kommen wunderbar mit und haben ungeahnte Chancen, während die anderen erkennen müssen, dass sie beim Zusammenbruch eines Unternehmens oder eines Betriebes an ihre alten Chancen nicht anknüpfen können. Das, was die einen als Vielfalt der Möglichkeiten beschreiben, bedeutet für die anderen einen Tempowechsel, den sie nicht mitgehen können.

Deshalb ist es die Aufgabe unserer Zeit, zu schauen, dass wir keinen zurücklassen. Wir erleben jetzt in der erzwungenen Entschleunigung, die sich zum Beispiel für Vielflieger ergibt, dass bei vielen Menschen ein Stück Nachdenken über das, was da eigentlich stattfindet, fehlt. Das, was wir so schön als das "Primat der Politik" bezeichnen und mit den Sätzen beschreiben, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen muss und nicht der Mensch der Wirtschaft, erzeugt bei vielen ein unangenehmes Gefühl in unserer sehr hektischen und sehr schnellen Zeit.

Ich möchte jetzt über das Primat der Politik sprechen. Ich sage aber auch ganz ehrlich: Dieses Primat der Politik gilt nicht immer von Finanzkrise bis zu wirtschaftlichen Zusammenhängen, sondern es muss hart erarbeitet werden. Ich glaube, die Soziale Marktwirtschaft gibt uns den Auftrag, alles zu tun, um den Menschen mehr Teilhabe und mehr Chancen zu ermöglichen. Alles andere wäre kein sozialer Fortschritt.

Deshalb will ich stichwortartig auch für unser Gespräch, das wir im Anschluss führen, noch einmal auf die von mir genannten Aufgaben eingehen und vorher kurz darstellen, dass wir neben den Herausforderungen, die ich bereits geschildert habe, jetzt mit drei Dingen massiv konfrontiert sind. Das ist erstens die Globalisierung getrieben durch die technischen Möglichkeiten, in alle Teile der Welt vorzudringen, getrieben durch die Möglichkeiten des Internets, der Informations- und der Wissensgesellschaft, die uns Zugang zu Informationen an jeder Stelle der Welt zu fast jeder Zeit ermöglicht und die uns trotzdem nicht mit mehr Wissen im umfassenden Sinne ausstattet, schon gar nicht mit mehr Urteilskraft und mit mehr Heimatgefühl.

Das ist zum Zweiten das Erleben der Endlichkeit der Ressourcen. Die Ansprüche der wachsenden Weltbevölkerung müssen wir natürlich genauso definieren, wie wir das für uns selber tun. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das endet nicht mit dem Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das endet auch nicht an den Grenzen der Europäischen Union, sondern das gilt für jeden Menschen weltweit. Es wird von den Menschen im 21. Jahrhundert erwartet, dass sie den Blick nicht nur auf sich, auf ihre kleinere Umgebung richten. Vielmehr bedeutet sozialer Fortschritt natürlich auch mehr Gerechtigkeit in der Welt insgesamt.

Dass wir in den vergangenen Jahrzehnten ich habe von den zwei Jahrhunderten gesprochen, in denen die Industrialisierung stattgefunden hat von unserem Anteil an den weltweiten Ressourcen schon ein großes Stück verzehrt haben, stattet uns mit dem Auftrag aus, in Zukunft dazu beizutragen, dass andere Menschen in anderen Regionen ebenfalls ihre Entwicklungschancen haben.

Die dritte große Herausforderung für uns für viele Länder in der Welt eine völlig azyklische Herausforderung ist der demographische Wandel, die Veränderung unseres Altersaufbaus. Es ist Tatsache, dass wir trotz eines hohen materiellen Wohlstands weniger Kinder als ältere Menschen haben. Und es ist eine erfreuliche Tatsache, dass die Lebenserwartung durch Forschung und durch gesündere Lebensweise gestiegen ist. Auf diese Herausforderungen müssen wir allerdings eine ganz eigene Antwort geben, weil es dazu noch nicht so viele Erfahrungen in der Welt gibt.

Eine der für mich anrührendsten Geschichten war einmal, dass ein äthiopischer Asylbewerber in Äthiopien ist wahrscheinlich die Hälfte der Menschen unter 20 seiner Mutter, die entsetzt fragte, ob es wieder so kalt in Deutschland sei und ob sich der Junge auch wohlfühle, sagte: Ach, weißt du, das ist gar nicht so schlimm. Aber hier könntest du gut sein. Hier sind nämlich überall alte Menschen auf der Straße. Hier würdest du gar nicht auffallen. Daran sieht man die Ungleichheiten, was den Altersaufbau und den demographische Wandel anbelangt.

Mehr als bisher ist es also unsere Aufgabe, den Einzelnen zu befähigen. Ich glaube, dass das Ringenum eine Familienpolitik und dass die Diskussion, die wir mit Vehemenz und Intensität in unserer Gesellschaft führen, richtig und wichtig sind. Die Familie ist der Ort in der Gesellschaft, an dem Werte geprägt werden, an dem der Zusammenhalt und das Übernehmen von Verantwortung gelernt werden. Familie bedeutet lebenslange Verantwortung von Eltern für Kinder und von Kindern für Eltern. Aus der Familie kann man sich nicht herausstehlen. In der Familie wird Liebe gegeben. So etwas kann man von keiner staatlichen Institution verlangen. Deshalb gilt es, die Familie zu schützen, zu hegen und zu kräftigen.

Wir sprechen viel darüber, wozu Familien nicht fähig sind. Ich treffe immer wieder Menschen, die sagen: Sprecht doch auch einmal über die vielen Familien, die das, was Familie ausmacht, wirklich täglich leben! Ich glaube, man muss dabei die richtige Balance finden: Zum einen muss man das, was Familien machen, würdigen. Aber man darf nicht die Eltern, die Fragen und Zweifel haben oder an einigen Stellen nicht klarkommen, sofort entmündigen und staatlichen Einfluss ausüben. Andererseits muss man natürlich dort einspringen das ist wieder das Prinzip der Subsidiarität, wo die Familie wirklich nicht zurechtkommt. Darüber lohnt sich jede politische Debatte, weil das, wie wir richtigerweise sagen, die Keimzelle unserer Gesellschaft betrifft.

Diese Verantwortung für Familien muss sich durch Unterstützung von Familien manifestieren. Ich will nur verschiedene Schlagworte nennen, die ich hier aber nicht ausführen kann. Auf der einen Seite betrifft das die Wahlfreiheit für Familien: Wie will ich mein Leben gestalten? Wir verfügen heute über ein großes Maß an Wahlfreiheiten, wie es für vergangene Jahrhunderte völlig undenkbar war. Auch in den vergangenen Jahrhunderten das darf ich mit Blick auf das in meiner Partei sehr gepflegte Familienmodell sagen hatte eine Mutter nicht lebenslang ganztätig Zeit für ihre zwei Kinder. Vielmehr waren frühere Jahrhunderte dadurch geprägt, dass die Arbeit und der Lebenserwerb in Großfamilien sehr hart und klar verteilt waren.

Auf der einen Seite steht also die Wahlfreiheit: Wie entscheide ich mich? Wie komme ich als Staat jeder Entscheidung entgegen, so dass sie begrüßt wird? Inwieweit kann ich der Familie selbst zutrauen, dass sie die richtige Entscheidung treffen kann? Wie richte ich mich danach, wenn eine Familie sich entscheidet, dass ein Elternteil viele Jahre für die Kinder da ist, bzw. wenn auf der anderen Seite heute viele Eltern Beruf und Familie miteinander verbinden? Das ist ein immerwährendes Ringen, zumindest in der CDU schon seit mehr als 20 Jahren. Und es ist kein Ende absehbar. Aber vielleicht ist das auch gut so.

Das Ganze kulminiert dann in der Frage des Betreuungsgeldes: Wenn ich Kinderbetreuung außer Haus anbiete, muss ich dann nicht auch denen, die ihre Kinder zu Hause erziehen, eine Anerkennung geben? Wie kann ich die dann ausdrücken? Ich sage an dieser Stelle nur schlagwortartig: Ich warne davor, jede Anerkennung immer nur materiell geben zu wollen. Denn das wird in unserem Land nicht aufgehen. Das kann die Freude und die Zufriedenheit, die man in einer Familie erleben kann, nicht kompensieren.

Der zweite Punkt, wenn es um die Befähigung des Einzelnen geht, betrifft die Bildungspolitik; das ist vollkommen klar. Ich habe zum 60. Jahrestag der Sozialen Marktwirtschaft gesagt: Ich wünsche mir, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Bildungsrepublik wird eine Bildungsrepublik, in der der Zugang zur Bildung für jeden und jede möglich ist, eine Bildungsrepublik, die die Chancen des Einzelnen vernünftig entwickelt. Ich vermute, dass uns die Auseinandersetzung, ob man das besser schafft, wenn man viele Kinder lange zusammen in einer Klasse hat oder wenn man gegliederte Schulsysteme hat, noch ein Stück weit begleiten wird. Ich will da gar nicht ins Detail gehen. Dass ich eher auf der Seite der gegliederten Schulsysteme bin, verwundert Sie nicht.

Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir in der Bildungspolitik vom Menschen, vom Kind her denken, also von dem her denken, der Bildung erfährt, und dass wir nicht immer wieder Strukturdebatten führen. Das Ziel muss klar sein: Teilhabemöglichkeit und Chancengleichheit. Dabei können die Wege vielleicht unterschiedlicher sein, als wir uns das manchmal vorstellen. Wir kennen aus den verschiedensten Schultypen sowohl erfolgreiche als auch weniger erfolgreiche Ergebnisse.

Wir müssen uns daran gewöhnen, dass Bildung nicht mit dem Schulabgang oder dem Erlernen eines Berufes beendet ist. Vielmehr ist es eine der ganz großen Aufgaben unserer flexiblen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, dass wir es schaffen, lebenslang zu lernen. Das ist nicht einfach. Ich habe das nach dem Ende der damaligen DDR erlebt, als mit der deutschen Einheit plötzlich viele 40- bis 50-Jährige umgeschult werden mussten. Es gibt nun 30-Jährige, die den 45-Jährigen sagen, wie was funktioniert, die bei denen Prüfungen abnehmen und Zeugnisse ausstellen. Das ist eine völlig neue kulturelle Erfahrung. Dieses lebenslange Lernen muss eingeübt werden. Das wird in den nächsten Jahren sicherlich von allergrößter Bedeutung sein.

Weiterhin geht es um die Integration. Sie hier im Ruhrgebiet wissen, wovon die Rede ist. Es ist gut, dass Nordrhein-Westfalen den ersten Integrationsminister hat. Es ist gut, dass Niedersachsen jetzt zum ersten Mal eine türkischstämmige Ministerin hat. Wir werden mit der Integration vorankommen, aber wir haben da noch unglaubliche Aufgaben vor uns. Angesichts der demografischen Veränderungen in unserem Land wird es eine der herausragenden Aufgaben sein, zu verhindern, dass Parallelgesellschaften in unserem Land entstehen und sich verfestigen.

Einerseits werden wir weniger junge Leute haben, andererseits wird der Anteil der jungen Menschen mit Eltern aus anderen Ländern noch dramatisch wachsen. Deshalb dürfen wir in der Bildungspolitik niemanden verlieren. Es ist besser, bei Sprachtests bereits im fünften oder sechsten Lebensjahr Aufwand zu betreiben, als festzustellen, dass im 15. Lebensjahr nichts mehr zu machen ist. In diesem Bereich liegt noch eine Fülle von Aufgaben vor uns. Die Integration ist wichtig. Sie ist unabdingbar für den sozialen Fortschritt in unserem Lande. Deshalb wird die Integration als Aufgabe an Bedeutung zunehmen.

Wenn wir den Einzelnen befähigen wollen, müssen wir uns auch zum Leistungsgedanken bekennen. Jeder, der auf Solidarität in einer schwierigen Situation seines Lebens hofft, hat die Verpflichtung, das, was er in die Gemeinschaft einbringen kann, auch einzubringen. Das betrifft die Debatte um Unterstützung, um staatliche Transfers und um Eigenbeiträge. Wir werden morgen im Kabinett beschließen, dass wir erreichen wollen, dass junge Leute unter 25, wenn sie arbeitslos sind, innerhalb von sechs Wochen ein Angebot bekommen wobei sie dieses Angebot dann auch annehmen müssen. Das heißt, gegebene Chancen zu nutzen, das ist die große Aufgabe jedes Einzelnen, damit er sich einbringen kann.

Der zweite große Komplex heißt: kleine Einheiten stärken. Da sind wir im Bereich des Ehrenamtes. Die Förderung des Ehrenamtes ist von allergrößter Bedeutung. Ich kann das hier nur punktuell ansprechen. Ich glaube, das Ehrenamt in unserer Gesellschaft muss weiter gestärkt werden. Es braucht professionelle Strukturen. Wir werden eine menschliche Gesellschaft nicht allein über staatliche hauptamtliche Tätigkeiten erreichen können. Schauen Sie einmal, wie viel Ehrenamt innerhalb Ihrer Akademie stattfindet! Schauen Sie einmal, was in den sozialen Bereichen stattfindet, was in Mehrgenerationenhäusern stattfindet, was im Bereich des Sports stattfindet! Ich will jetzt nicht alle Bereiche aufzählen. Dann bekommen sie eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung des Ehrenamtes.

Weil wir heute eine sehr viel längere Lebenserwartung haben, wird eine wichtige Fragen für den sozialen Fortschritt sein: Wie gehen wir mit der älteren Generation um? Welche Angebote machen wir ihr, welche Aufgaben geben wir ihr? Diese Generation ist zwar aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, aber noch weit davon entfernt, sich nur noch als sozusagen gesundheitlich zu betreuender Teil einer Gesellschaft zu verstehen. Es geht heute um einen Lebensabschnitt von 20 bis 25 Jahren. Schauen Sie einmal, wie viele 60-Jährige keinen Arbeitsplatz mehr haben und wie rüstig man bis zum 80. Lebensjahr sein kann! Da ergeben sich Felder, die frühere Generationen nicht zu beackern hatten. Hier kann man mit einer Stärkung des Ehrenamtes viel machen. Diejenigen, die 40 Jahre gearbeitet haben, haben zwar keine Lust mehr auf Pflichten, aber sie haben noch viel Lust, sich in die Gesellschaft einzubringen.

Ich darf natürlich, auch weil die Frau Oberbürgermeisterin da ist, die Kommunen nicht vergessen. Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland ist Ausdruck unseres vielfältigen sozialen Lebens. Deshalb muss uns die Finanzsituation der Kommunen Sorgen machen. Die Krise, die wir jetzt erlebt haben, schreit danach, dass wir endlich neue Lösungen finden auch was die steuerlichen Grundlagen der Kommunen anbelangt. Wolfgang Schäuble als unser Finanzminister wird das versuchen. Ich sage an dieser Stelle nur: Ich weiß, dass Städte wie Düsseldorf, Frankfurt und München mit der Gewerbesteuer einen ganz wichtigen Einnahmeposten haben. Aber die Masse der Städte in Deutschland ist sehr krisenabhängig. Deshalb muss man Wege finden, wie man eine dauerhafte kontinuierliche Ausgestaltung der Kommunen schafft. Man kann sehen, wie die Kraft der Kommunen zu neuen investiven Leistungen in den letzten Jahren nachgelassen hat und wie die sozialen Aufgaben gewachsen sind. Auch darüber wird man in umfassender Weise sprechen müssen.

Ich spreche über die Kommunalpolitik deshalb so intensiv, weil die kommunale Selbstverwaltung und das ehrenamtliche kommunale Engagement für Deutschland prägend sind. Wenn diese eines Tages wegfielen, weil Menschen sagen: "Ich kann im Stadtrat sowieso nichts mehr entscheiden außer Mangelverwaltung", hätten wir ein echtes Problem, was den Gesamtaufbau und die Gesamtstruktur unserer Gesellschaft anbelangt.

Der große dritte Komplex betrifft die Frage: Was ist die Aufgabe des Staates? Hierzu will ich kursorisch nur sagen: Es geht um Arbeit. Ich glaube, wir dürfen die Vision "Arbeit für alle" nicht aus den Augen verlieren. Wir können das schaffen. Das müssen wir gerade auch angesichts unserer demografischen Herausforderungen schaffen. Deshalb war es in der Wirtschafts- und Finanzkrise unser höchstes Anliegen zu sagen: Ein Land, das kaum Rohstoffe hat, muss schauen, dass die Menschen, dass die Fachkräfte ihre Arbeit behalten.

Wir müssen uns Arbeitswelten der Zukunft erschließen. Wir müssen, wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, so viel besser sein, wie wir an anderer Stelle teurer sind. Wir brauchen eine vorurteilsfreie Diskussion über die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme. Es hat keinen Sinn, reflexartig aufzuschreien, wenn wir über die Kapitaldeckung bei der Pflegeversicherung sprechen oder wenn wir über die ein Stück weite Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten sprechen. Denn das würde einen Druck erzeugen, der nicht zu mehr sozialem Fortschritt führt. Ich hoffe, dass wir das Thema jenseits von Wahlkämpfen voranbringen können wobei es in Deutschland kaum eine Zeit ohne Wahlkämpfe gibt. Ich habe bei meinem Türkeibesuch mit dem Premierminister Erdogan darüber gesprochen. Er hat mich voller Mitleid angesprochen und gesagt: Ihr habt ja wohl immer Wahlen. Da fragt man sich, ob wir überhaupt einmal handlungsfähig sind und Dinge voranbringen können.

Wir haben also Aufgaben im Gesundheitssystem, bei der Rente, aber auch bei der Pflege. Das liegt auf der Hand. Wir müssen unsere Finanzen konsolidieren. Denn wir dürfen nicht auf Kosten der zukünftigen Generationen leben. Ein Leben auf Kosten der künftigen Generationen ist kein sozialer Fortschritt. Wenn man nur an eine Generation denkt, aber an die nächste nicht mehr, ist das vollkommen unsinnig. Wir brauchen eine Umweltpolitik, die ressourcenschonend ist. Weiterhin haben wir natürlich die Aufgabe, global eine Ordnung im Wirtschafts- und Finanzbereich zu schaffen, die uns von Krisen der Art, wie wir sie hatten, fernhält.

Im Zusammenhang mit der Solidarität der Gesellschaft im 21. Jahrhundert und dem sozialen Fortschritt kommt ein interessanter Punkt ins Spiel, den Staaten in frühen Zeiten so nicht zu beachten hatten: Heute kann man einen Nationalstaat nicht mehr entkoppelt gestalten und nicht mehr eine Ordnung vertreten, die von anderen Staaten in den Grundsätzen nicht mitgetragen wird. Wenn wir, die Europäer und die Amerikaner, die Einzigen wären, die sagten, die Würde des Menschen ist unantastbar, und wenn die anderen eine völlig andere Vorstellung hätten, wäre ein Fortschritt sehr schwierig. Wenn Kinderarbeit oder übermäßiger Ressourcenabbau auf der einen Seite möglich sind, wir dagegen auf der anderen Seite dafür eintreten, dass man nachhaltig wirtschaftet, kann das nicht funktionieren.

Eine der spannendsten politischen Aufgaben, die vor uns liegen, ergibt sich aus der Frage: Wie kann ich andere Staaten davon überzeugen, dass es ein gemeinsames global umspannendes Interesse gibt? Das Thema hat zuerst in der Entwicklungspolitik und dann in der Umweltpolitik eine Rolle gespielt. Heute wissen wir, dass wir durch Exzesse auf amerikanischen und angelsächsischen Märkten in Mitleidenschaft gezogen werden und unsere Art zu leben nur fortsetzen können, wenn wir andere von einer weltweiten Ordnung überzeugen. Dieser Spannungsbogen von der kleinen Einheit, von der Befähigung des Einzelnen bis hin zu der Überzeugung von 198 Nationalstaaten das entspricht ungefähr der Zahl der in der UNO engagierten bzw. akkreditierten Mitglieder muss immer bedacht werden, wenn wir sozialen Fortschritt auch bei uns erreichen wollen.

Das alles könnte mutlos machen. Aber glücklicherweise sind wir Christenmenschen, die Gottvertrauen und Kraft haben. Auf Ihrer Einladungskarte ist so wunderbar ein Bild von der Wolfsburg dargestellt: Gott ist ein wirkendes Feuer. Ich glaube, dieses wirkende Feuer sollten wir auch in uns halten. Wir können vieles systematisch aneinanderreihen. Aber irgendwoher brauchen wir die Kraft, aus der wir das alles schöpfen. Ich meine, der christliche Glaube ist für uns eine gute Kraft ein wirkendes Feuer, womit wir all das, was wir schon geschafft haben, freudig anschauen können, bei dem wir die Augen nicht vor unseren großen Problemen verschließen müssen und wodurch wir die Kraft haben, für diejenigen weiterzumachen, die nach uns kommen. Ganz in Sinne von "Macht euch die Erde untertan!" sollten wir eine Welt mit menschlichem Ansehen gestalten, in der uns der Zusammenhalt und die Solidarität Kraft geben und uns nach vorne weisen. In diesem Sinne haben Sie, finde ich, ein schönes Thema gewählt.

Ich weiß, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben. Aber wenn man durch die Welt reist, sollte man nicht verkennen, dass Deutschland ein sehr schönes und ein sehr lebenswertes Land ist. Wenn man bedenkt, was wir in unserer Geschichte schon geschafft haben, welche Probleme diejenigen zu der Zeit, als diese Akademie gegründet wurde wenige Jahre nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs und nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, vor sich hatten, sollten wir sagen: Es ist gut, dass für uns noch ein bisschen Arbeit übrig geblieben ist. Wir sollten sie mit Mut und Gottvertrauen anpacken.

Herzlichen Dank.