Redner(in): Angela Merkel
Datum: 22. Mai 2013

Untertitel: in Brüssel
Anrede: Sehr geehrter Herr Oberrabbiner Goldschmidt,sehr geehrter Herr Oberrabbiner Guigui,sehr geehrter Herr Präsident,sehr geehrter Herr Minister, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2013/05/2013-05-22-merkel-Lord-Jakobovits-Preis.html


Exzellenzen,

Ich möchte mich ganz herzlich für den überaus freundschaftlichen Empfang bedanken. Es ist mir eine große Ehre, den Lord-Jakobovits-Preis entgegennehmen zu dürfen. Die Große Synagoge von Europa ist dafür ein Rahmen, der die wirklich bewegende Atmosphäre noch verstärkt. Dieser imposante Bau erzählt von der selbstbewussten jüdischen Gemeinde Brüssels gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals lebte die überwiegende Mehrheit der Juden in Europa. Sie prägten ganz selbstverständlich die kulturelle und religiöse Vielfalt europäischer Regionen und Metropolen wie Brüssel und auch Berlin.

Und heute? Auch heute ist jüdisches Leben in Europa vielerorts präsent. Männer und Frauen versammeln sich in Synagogen wie dieser hier zum Gebet. Und doch ist alles anders. Das Heute ist vom Damals durch einen grausamen Einschnitt getrennt. Dieser Einschnitt ist der Zivilisationsbruch der Shoah, der von Deutschland begangen wurde. Zunächst wurde die jüdische Bevölkerung im eigenen Land und dann in weiten Teilen Europas systematisch ausgegrenzt, vertrieben und schließlich ermordet. Die Shoah löschte das Leben von sechs Millionen Juden aus. Sie hat die Menschheitsgeschichte verändert.

Auch viele der hier Anwesenden haben Angehörige verloren und mussten unfassbares Leid ertragen. An einem Abend wie diesem mischen sich daher in die Freude über die Preisverleihung schmerzhafte Erinnerungen. Deshalb steht das gemeinsame ehrende Gedenken der Opfer im Mittelpunkt auch einer solchen Zusammenkunft.

Dass nach der Shoah jüdisches Leben in Europa und sogar in Deutschland noch eine Zukunft haben könnte, schien kaum vorstellbar zu sein. Rabbiner Leo Baeck, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte, machte keinen Hehl aus seiner nur allzu verständlichen Überzeugung: "Die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für allemal vorbei." Es grenzt wahrlich an ein Wunder, dass jetzt, Jahrzehnte später, in Deutschland wieder eine der größten jüdischen Gemeinschaften Europas lebt. An dieser Stelle grüße ich alle Vertreter aus Deutschland. Das ist alles andere als selbstverständlich.

Wir verdanken dies all denjenigen, die das Vertrauen in Demokratie und freiheitliche Werte nicht verloren, sondern, im Gegenteil, neu beseelt haben. Wir verdanken dies Geistlichen wie Oberrabbiner Lord Immanuel Jakobovits, die die europäisch-jüdische Identität wieder gestärkt haben. Wir verdanken dies auch all jenen, die Deutschland und Europa zu einem Ort der Freiheit und des Friedens gemacht haben. Nie wieder Hass, Gewalt und Krieg das war das Leitmotiv, das die Väter und Mütter der europäischen Einigung antrieb. Sie brachten einen Prozess der Versöhnung in Gang. Sie bauten Brücken über Gräben, die als unüberwindbar galten. Wir dürfen heute die Früchte ihrer Arbeit genießen. Dies sollten wir bei allen Schwierigkeiten, denen wir uns täglich stellen, nicht vergessen.

Europa das ist vereinte Vielfalt. Uns verbinden gemeinsame Werte, Überzeugungen und unser Respekt vor der unteilbaren Würde des Menschen, unsere Wertschätzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und unsere Liebe zur Freiheit. Freiheit hat viele Facetten. Dazu gehört das Menschenrecht, einer Glaubensgemeinschaft anzugehören und diesen Glauben auch auszuüben. Nur eine Gesellschaft, in der auch Religionsfreiheit herrscht, verdient die Bezeichnung freiheitlich. Es ist also ein Akt der Selbstvergewisserung, uns stets zu fragen, wie wir den Kriterien freier Glaubenspraxis genügen.

In Deutschland hatten wir im vergangenen Jahr eine Debatte um die Beschneidung aus religiösen Gründen. An ihr hat sich etwas sehr Grundsätzliches gezeigt: Offenbar sind vielen Menschen religiöse Traditionen und deren Begründung nicht bewusst. Viele verstehen sie nicht und empfinden sie gerade auch deshalb als nicht überzeugend. Wir wissen, dass Religionsfreiheit auch an Grenzen stoßen kann, wenn sie zum Beispiel andere Grundrechte berührt. Deshalb war es natürlich in der Beschneidungsdebatte wichtig, die Frage nach dem Kindeswohl auch überzeugend zu beantworten. Ich bin froh, dass wir innerhalb weniger Monate Rechtssicherheit herstellen konnten.

Das andere aber war die ernüchternde Tatsache, dass in der öffentlichen Debatte teilweise antisemitische und rassistische Töne mitschwangen. In manchen Äußerungen schien jede Hemmschwelle verloren, Juden und Muslimen endlich einmal zu sagen, was sie mit ihren Kindern zu tun oder zu lassen hätten. Das hatte mit einer überzeugenden wie gebotenen Debatte um die Grundwerte der Religionsfreiheit und des Kindeswohls und dessen Schutz nichts zu tun.

Beim Deutschen Filmpreis vor wenigen Wochen wurde ein Werk ausgezeichnet, bei dem in einer Szene ein alter Mann erzählt, wie er als kleiner Junge 1938 die Pogromnacht erlebte. Er hatte damals nur Augen für die vielen Glasscherben auf der Straße. Er sorgte sich darum, am nächsten Tag nicht Fahrrad fahren zu können. Die misshandelten Menschen, die Zerstörung ihres Eigentums hingegen ließen ihn unberührt. Dieser Filmausschnitt untermalt eines sehr deutlich: Antisemitismus beginnt schon mit Gleichgültigkeit. Er mag vordergründig auf Einzelne zielen, am Ende aber trifft er uns alle. Er ist ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft. Denn die Gesellschaft verliert ihre Menschlichkeit. Der Kampf gegen Antisemitismus ist daher vorrangige Pflicht eines demokratisch-freiheitlichen Staates. Er muss sich seine Grundlagen bewahren.

Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Jahr einen Expertenbericht zum Antisemitismus verabschiedet. Er legt dar, welche antisemitischen Klischees in der deutschen Bevölkerung nach wie vor verbreitet sind. Deshalb haben wir in Politik und Gesellschaft stets einen klaren Auftrag. Wir müssen zu bürgerschaftlichem Engagement ermutigen, gesellschaftliches Mitdenken fördern und soziales Verantwortungsbewusstsein stärken. Wir müssen in Bildung investieren. Dazu gehört auch und besonders, die Erinnerung an und das Wissen um den Holocaust an die junge Generation weiterzugeben.

Antisemitismus in all seinen Ausprägungen in die Schranken zu weisen, ist kein Auftrag, der an Landesgrenzen endet. Der Holocaustüberlebende und langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Heinz Galinski, hat einmal gesagt: "Erfahrung kennt keine nationale oder territoriale Beschränkung. Das geschichtliche Erleben eines Volkes oder einer Generation birgt Lehren für die gesamte Menschheit."

So ist denn auch das außenpolitische Selbstverständnis Deutschlands geprägt von der Maxime, die Bewahrung der Menschenrechte und friedliches Miteinander weltweit zu fördern. Das gilt natürlich zuallererst für unsere Europäische Union. Deshalb wird sich Deutschland mit Entschlossenheit auch gegen alle antisemitischen Tendenzen wenden, wo auch immer sie in Europa auftreten.

Dazu gehört natürlich auch, die besonderen Beziehungen Deutschlands mit Israel zu pflegen. In den 65 Jahren seit Gründung des Staates Israel ist ein starkes Band der Partnerschaft und Freundschaft zwischen unseren Ländern gewachsen. Dies reicht weit über die Kontakte der Regierungen hinaus. Auch ein enges Netz aus zivilgesellschaftlichen Begegnungen und viele Formen der Zusammenarbeit sind entstanden.

Wir wünschen uns, dass Israel in Sicherheit und Frieden mit seinen Nachbarn leben kann. Deutschland wirbt mit allen Kräften für eine friedliche und dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts. Dies machen wir auch in der europäischen Außenpolitik immer wieder deutlich. Deshalb unterstützen wir auch wieder gemeinsam mit unseren Partnern in der EU und den USA die Bemühungen, den Friedensprozess neu aufleben zu lassen und die Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern zu erreichen. Ziel ist und bleibt eine Zwei-Staaten-Lösung mit einem jüdischen Staat Israel und einem palästinensischen Staat. Trotz aller Rückschläge bleibt sie möglich davon bin ich überzeugt.

Wir haben in einem einst geteilten Europa erlebt, dass nichts so bleiben muss, was jahrzehntelang währte. Deshalb haben wir die Aufgabe, aus dem Erlebnis der europäischen Einigung mit den mittel- und osteuropäischen Ländern heraus und wir in Deutschland natürlich auch aus unserem Erlebnis der deutschen Wiedervereinigung heraus, auch dort Brücken zu bauen, wo dies heute noch unmöglich zu sein scheint. Auf unserem einst leidgeplagten Kontinent leben heute Menschen mit verschiedenen Weltsichten und Glaubensüberzeugungen friedlich zusammen. Dies erfordert, miteinander statt übereinander zu reden. Es erfordert Offenheit, Interesse und Verständnis füreinander. Kurz gesagt: Vielfalt und ein gedeihliches Miteinander leben von Toleranz. Toleranz ist die Seele dieses Europas der Einigkeit und Freiheit.

Toleranz hat aber auch Grenzen. Sie endet dort, wo falsch verstandene Toleranz über Verletzungen von Grundrechten hinwegsieht. Auch nur geringstes Verständnis für Antisemitismus, für politischen Extremismus oder für Gewalt im Namen einer Religion ist fehl am Platz. Andernfalls würden wir mit ansehen, wie unsere Freiheit Stück für Stück wieder zerbricht. So kostbar Freiheit ist, so zerbrechlich ist sie aber auch. Freiheit ist immer und das heißt: täglich und überall neu zu verteidigen. Das fängt damit an, Vorurteile zu erkennen und ihnen deutlich zu widersprechen. Das führt über verantwortungsbewussten Ausgleich verschiedener Interessen hin zur Friedensstiftung.

Meine Damen und Herren, ja, die Auszeichnung mit dem Lord-Jakobovits-Preis ist eine Auszeichnung. Aber ich sehe sie vor allen Dingen als einen Ansporn an. Wenn wir uns zu Hause in Deutschland, aber auch in allen anderen europäischen Ländern umschauen, dann wissen wir, dass es noch viel zu tun gibt. Dafür ist mir die Auszeichnung ein Ansporn. Ich danke Ihnen von Herzen nochmals für diese große Ehre und für das bewegende Erlebnis, hier heute in der Großen Synagoge in Brüssel zu sein. Herzlichen Dank.