Redner(in): Angela Merkel
Datum: 30. Mai 2014

Untertitel: in Regensburg
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Glück,sehr geehrter Herr Kardinal,sehr geehrter Herr Bischof,sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Mitdiskutierer auf dem Podium,liebe Gäste des Katholikentags,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/05/2014-05-30-merkel-katholikentag-regensburg.html


Liebe Gerda Hasselfeldt, stellvertretend für alle Parlamentarier, die im Raum sind und die ich hier noch nicht gesehen habe,

Ich freue mich, in Regensburg zu sein. Es scheint, als ob Regensburg mit seiner berühmten Steinernen Brücke auch für das diesjährige Leitwort des Katholikentags "Mit Christus Brücken bauen" Pate gestanden hat. Mit Brückenbau, jedenfalls in übertragenem Sinne, hat auch das Thema der heutigen Veranstaltung zu tun. Denn Europas Platz in der Welt gründet sich auch darauf, dass sich Männer und Frauen vor über fünf Jahrzehnten als Brückenbauer über jahrhundertealte Gräben und damit als Konstrukteure der europäischen Einigung erwiesen haben. Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint." Das ist ein Kernsatz, den wir anlässlich des 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Berlin in unsere Berliner Erklärung aufgenommen haben, die damals noch den Weg zum Lissabonner Vertrag ebnen sollte. Gerade in diesem Jahr, in dem der Katholikentag stattfindet, 2014, denken wir an die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Und wir erinnern uns am 9. November in Deutschland ganz besonders, in diesen Tagen aber auch schon in Polen, an das Ende des Kalten Kriegs vor 25 Jahren eine wunderbare Zeit, die dann vor zehn Jahren auch zur Osterweiterung der Europäischen Union geführt hat.

Das Beispiel Europas zeigt ich glaube, das kann vielleicht für andere auf der Welt eine Verheißung sein: Keine Gräben können so tief sein und keine Mauern so hoch, als dass man sie nicht überwinden könnte. Natürlich waren unzählige kleine und große Schritte nötig, um der Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen, dass uns in Europa mehr eint als trennt. Wir sollten uns, wenn wir in diesen Tagen vor schwierigen Entscheidungen stehen, immer wieder vor Augen führen, was damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, an Entscheidungen zu treffen war, nachdem Millionen von Menschen gegeneinander gekämpft hatten und unzählige Familien Opfer zu beklagen hatten, weil gegeneinander Krieg geführt wurde. Man sprach von einer "Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und Frankreich. Das alles galt es zu überwinden und zu sagen: Schluss damit! Sich die Hände reichen! Brücken bauen!

Aus aktuellem Anlass möchte ich sagen: Wenn wir in diesen Tagen darüber sprechen, was denn jetzt, nach der Europawahl, zu entscheiden ist, so gehe ich das mit Optimismus an. Das Schöne an Europa ist: Es dauert zwar manchmal lange, bis Entscheidungen getroffen werden, aber wir haben bisher immer eine Lösung gefunden in der Eurokrise, in der internationalen Finanzkrise, in so vielen anderen Fragen. Und jetzt, in diesen Tagen nach der Europawahl müssen wir eben wieder die Weichen für die nächsten fünf Jahre stellen. Dabei geht es zum einen um Personen und zum anderen natürlich um Programme.

Was die Personen anbelangt, so wurden von Parteien zum ersten Mal ganz offiziell Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten benannt. Es gab das Einverständnis, dass die Parteiengruppe, die die stärkste wird, auch den Kommissionspräsidenten stellen wird. Es hat sich herausgestellt: Die Europäische Volkspartei mit ihrem Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker ist die stärkste politische Kraft geworden. Deshalb führe ich jetzt Gespräche genau in diesem Geist, dass Jean-Claude Juncker Präsident der Europäischen Kommission werden sollte. Allerdings damit haben wir auch unseren Ratspräsidenten, Herman Van Rompuy, beauftragt müssen diese Gespräche in aller Sorgfalt geführt werden. Schnelligkeit ist nicht das Maß der Dinge, vielmehr geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Wir haben im Übrigen auch wirklich noch ein bisschen Zeit.

Und ich füge hinzu: Auch die Sozialisten hatten einen Spitzenkandidaten. Martin Schulz hat einen tollen Wahlkampf gemacht. Wir haben das in Deutschland beobachtet, wir haben das anderswo beobachtet. Aber es ging in diesem Wahlkampf erst einmal nur um das Amt des Kommissionspräsidenten; und es gibt jetzt auch keine weiteren Automatismen.

Meine Damen und Herren, was die Programme anbelangt, so haben diese auch viel mit den Fragen zu tun, die wir heute hier diskutieren: Wie wird Europa in fünf Jahren dastehen, wie wird man dann auf uns schauen? Es gibt wunderbare Beispiele, die wir fortsetzen müssen. Denken wir etwa nur allein an das Deutsch-Französische Jugendwerk, dank dessen bisher insgesamt über acht Millionen junge Menschen miteinander Zeit verbracht und sich kennengelernt haben. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk knüpft daran an. Das heißt: Wir wollen immer wieder in die Breite der Gesellschaften hinein wirken. Ich brauche etwa bloß das Erasmus-Programm für Studentinnen und Studenten oder Studierende, wie man heute sachgerecht sagt; ich bin noch ein bisschen old fashioned zu nennen, um anzusprechen, was uns eint.

Was uns in Europa vor allem eint, ist das breite Bewusstsein gemeinsamer Grundwerte. Die europäische Einigung war nur möglich, weil diese Grundwerte inzwischen in ganz Europa geteilt werden. Das beginnt mit der unantastbaren Würde des Menschen das ist der Ausgangspunkt. Daraus leiten sich die grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Handlungsleitlinien ab: Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Alles geht aus von dem tiefen Verständnis, dass die Würde des Menschen nicht nur der Europäer, sondern jedes Menschen auf der Welt unantastbar ist.

Europa bringt damit drei Versprechen zu den Menschen: das Versprechen auf Frieden, das Versprechen auf Freiheit und das Versprechen auf Wohlstand. Der Friedensauftrag war in der Nachkriegszeit unmittelbar greifbar. Aber Frieden nach außen und nach innen zu erhalten, bleibt eine Aufgabe auch im 21. Jahrhundert. Wir müssen extremistischen, menschenverachtenden Tendenzen, die es leider auch in Europa gibt, immer wieder entschieden entgegentreten. Über den Frieden nach außen, so schien es, müssten wir gar nicht weiter reden. Wir haben 2012 als Europäische Union mich hat das sehr berührt den Friedensnobelpreis bekommen. Ein Krieg zwischen EU-Mitgliedstaaten ist heute undenkbar. Aber ein Blick auf den westlichen Balkan und in diesen Tagen besonders auf die Ukraine zeigt, wie nah uns auf unserem europäischen Kontinent solche Auseinandersetzungen noch sind.

Die Annexion der Krim verstößt gegen das Völkerrecht. Dies ist deshalb so gravierend, weil es etwas anrührt, das sozusagen das Fundament unserer europäischen Nachkriegsordnung ist, nämlich die territoriale Integrität der Staaten. Wenn diese angerührt wird und wenn dies sogar noch weiter Beispiel machen würde, dann würde das das lehrt die europäische Geschichte; dazu muss man sich nur die Landkarten aus verschiedenen Jahrhunderten anschauen zu neuem entsetzlichen Leid führen. Deshalb ist dies etwas, bei dem wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Aber das ist der Unterschied zu vergangenen Zeiten wir setzen auf Dialog, wir setzen auf Gespräch, wir setzen darauf, dass wir solche Probleme friedlich lösen können. Allerdings sagen wir auch sehr klar: Die Stärke des Rechts darf nicht gegen das Recht des Stärkeren ausgespielt werden, sondern die Stärke des Rechts wird sich davon bin ich überzeugt durchsetzen, meine Damen und Herren.

Wir haben in Zeiten der Globalisierung auch noch eine andere große Aufgabe, nämlich die, den Wohlstand zu erhalten, trotz völlig neuer Konstellationen auf der Welt. Alois Glück hat zu Beginn gesagt: Wir haben in Europa vieles erfunden, vieles entwickelt. Aber deshalb besteht auch ein bisschen die Gefahr, dass wir denken, das ginge automatisch immer so weiter. Aber darauf gibt es keinen Rechtsanspruch. Diesen können wir uns auch nicht in Gesetze schreiben; und selbst wenn, dann ist er immer noch nicht umgesetzt. Andere Menschen wollen auch in Wohlstand leben, andere Menschen auf anderen Kontinenten haben auch Ideen. Und so haben wir heute ein völlig neues Wettbewerbsumfeld.

Wir in Europa finden ja, dass wir sehr viele seien. Wir in Deutschland finden schon, dass wir ein großes Land seien. Aber bei über sieben Milliarden Menschen auf der Welt kommen wir allein mit 80 Millionen Einwohnern nicht weit, wenn wir etwas richtig finden und Mehrheiten dafür brauchen. Selbst wir Europäer Mitglieder der Europäischen Union, immerhin 500 Millionen an der Zahl, sind nur etwas mehr als sieben Prozent der Weltbevölkerung. Immerhin produzieren wir heute noch rund 25 Prozent der gesamten Wertschöpfung auf der Welt. Die Tendenz ist aber eher abnehmend, genauso wie unser Anteil an der Bevölkerung. Und wir dürfen nie vergessen: Wir geben annähernd 50 Prozent aller Sozialleistungen, die es auf der Welt gibt, in der Europäischen Union aus also für nur sieben Prozent der Menschen. Wenn wir das in Europa weiter so wollen, dann müssen wir sehr kreativ und innovativ sein. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die schreckliche Situation hoher Arbeitslosigkeit überwinden und neue Beschäftigungsfelder finden. Vielleicht können wir anschließend in der Diskussion noch darüber reden.

Auf jeden Fall müssen wir uns einem fairen Wettbewerb stellen. Wir dürfen uns als Europäer nicht abschotten und sagen "Die Welt um uns herum ist so geworden, dass sie uns fremd erscheint", sondern wir müssen uns dem Wettbewerb stellen auch dem Wettbewerb mit Asien, dem Wettbewerb mit Lateinamerika. Denn es ist ja unser Wunsch, dass nicht nur wir in Wohlstand leben, sondern möglichst viele Menschen, möglichst alle Menschen auf der Welt. Ansonsten wäre unser Artikel 1 des Grundgesetzes eine hohle Phrase. Deshalb werden die Zeiten in dieser Hinsicht durchaus spannend werden.

Meine Damen und Herren, für uns Europäer ist unsere Beziehung zu Afrika wichtig. Für uns Europäer ist es wichtig, dass wir die Millennium-Entwicklungsziele erfüllen und dass wir Folgeentwicklungsziele definieren. Für uns ist es auch sehr wichtig, dass wir das alles nicht mit einer Art karitativem Anspruch tun, sondern auf Augenhöhe mit anderen, dass wir offen sind für die Ideen, für die Kulturen, für die Geschichte der anderen, die mindestens so viel und genauso viel in eine gute weltweite Entwicklung einbringen können wie wir. Deshalb ist Globalisierung etwas Spannendes und nichts Angsteinflößendes, aber sie muss gestaltet werden.

Wir glauben, dass wir mit der Sozialen Marktwirtschaft, die im Übrigen auch in den europäischen Verträgen als Prinzip verankert ist, eine richtige Balance von Eigeninitiative und gemeinsamer Verantwortung gefunden haben. Wir sind der festen Überzeugung, dass Globalisierung gestaltet werden muss, dass Leitplanken nötig sind, die deutlich machen: Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Das ist in der großen Finanzkrise weitestgehend außer Kraft geraten, was viel Leid und Elend gebracht hat. Deshalb, meine Damen und Herren, bringen wir uns in die Gestaltung der Globalisierung ein, müssen aber wissen, dass andere Länder ganz andere Erfahrungen und Vorstellungen haben. Und deshalb ist eine globale Diskussionskultur so wichtig. Hierbei können wir Europäer mit unseren Erfahrungen der 28 Mitgliedstaaten ein gutes Beispiel geben.

Meine Damen und Herren, ich bin gerne auf dem Katholikentag, weil die Kirchen immer wieder Mahner sind, sich durch ihre Organisationen einbringen, Hilfe leisten, weiterverbreiten, was uns wichtig ist, aber eben auch weil Christen auf der Welt für ihren Glauben einstehen. Toleranz ist nicht Beliebigkeit; Offenheit bedeutet nicht, auf die eigene Überzeugung zu verzichten. Die richtige Balance zu finden, sozusagen andere anzunehmen, aber gleichzeitig von den eigenen Überzeugungen getragen zu sein, das ist die Kunst, die wir Europäer auch weltweit immer wieder zeigen müssen.

Wir, meine Damen und Herren, sind zu unserem Glück vereint in Europa. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Wir verstehen Freiheit als eine Freiheit in Verantwortung für andere Menschen. Wir wollen gerne Brückenbauer auch jenseits Europas sein. Und nun hängt es auch ein bisschen von den anderen auf der Welt ab, ob man uns möchte oder nicht. Wir stehen jedenfalls mit offenem Herzen, offenem Gesicht und offenen Händen da und möchten uns mit unseren Erfahrungen einbringen.

Herzlichen Dank.